25

[241] In dem Gefühl, daß die Aussöhnung vollständig gewesen sei, machte sich Anna am folgenden Morgen mit lebhaftem Eifer an die Vorbereitungen zur Abreise. Obgleich noch nicht entschieden war, ob sie am Sonntag oder am Montag reisen würden, da am vorhergehenden Tage jeder dem anderen hatte nachgeben wollen, so machte sich Anna doch vollständig zur Abreise fertig; indessen war es ihr jetzt ganz gleichgültig, ob sie einen Tag früher oder später reisten. Sie stand in ihrem Zimmer über eine geöffnete Truhe gebeugt und ordnete die darin befindlichen Sachen, als er, schon völlig angekleidet, früher als gewöhnlich bei ihr eintrat.

»Ich fahre jetzt gleich zu maman; sie kann mir das Geld durch Jegor schicken. Dann kann ich morgen abreisen«, sagte er.

So gut auch Annas Stimmung war, so fühlte sie bei seiner Mitteilung, daß er nach dem Landhause fahre, doch einen Stich im Herzen.

»Nein, ich werde bis dahin mit dem Packen selbst nicht fertig«, antwortete sie und dachte im selben Augenblicke: ›Also war es doch möglich, es mit der Abreise so einzurichten, wie ich[241] wünschte.‹ – »Nein«, sprach sie weiter, »mach es nur so, wie du gewünscht hattest. Geh ins Eßzimmer; ich komme auch gleich; ich möchte nur noch diese unnützen Sachen herausnehmen.« Und dabei legte sie ihrer Annuschka, die schon einen ganzen Berg von allerlei Zeug auf dem Arme liegen hatte, noch etwas oben darauf.

Wronski war dabei, sein Beefsteak zu essen, als sie ins Eßzimmer trat.

»Du glaubst gar nicht, wie mir diese Zimmer zuwider geworden sind«, sagte sie und setzte sich neben ihn zu ihrem Kaffee. »Es gibt nichts Schrecklicheres als diese möblierten Zimmer. Sie haben so gar kein eigenes Gesicht, keine Seele. Diese Uhr, diese Vorhänge und namentlich diese Tapeten wirken auf mich geradezu wie ein beängstigender Traum. Ich sehne mich nach Wosdwischenskoje wie nach dem Gelobten Lande. Schickst du die Pferde noch nicht weg?«

»Nein, die will ich nachkommen lassen. Hast du hier in Moskau noch irgendwelche Wege zu machen?«

»Ich wollte noch zu der Wilson fahren; ich muß ihr einige Kleider bringen. Also reisen wir bestimmt morgen?« fragte sie in heiterem Tone; aber auf einmal veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes.

Wronskis Kammerdiener kam herein und bat um die Empfangsbescheinigung für ein Telegramm aus Petersburg. Es war an sich nichts Besonderes an der Tatsache, daß Wronski ein Telegramm erhalten hatte; aber es klang, als wenn er ihr etwas zu verbergen suchte, als er antwortete, die Bescheinigung liege in seinem Arbeitszimmer, und sich dann rasch zu ihr wandte:

»Ich werde bestimmt morgen mit allem fertig sein.«

»Von wem ist denn das Telegramm?« fragte sie, ohne auf ihn zu hören.

»Von Stiwa«, antwortete er mit sichtlichem Widerstreben.

»Warum hast du es mir denn nicht gezeigt? Was könnt ihr beide, du und Stiwa, denn vor mir für ein Geheimnis haben?«

Wronski rief den Kammerdiener zurück und befahl ihm, das Telegramm zu bringen.

»Ich wollte es dir nicht zeigen, weil Stiwa eine Leidenschaft für das Telegrafieren hat; was hat es denn für Zweck, zu telegrafieren, wenn noch keine Entscheidung erfolgt ist.«

»Wegen der Scheidung?«

»Ja, er meldet: ›Habe noch nichts erreichen können. Er versprach endgültige Antwort in einigen Tagen.‹ Da, lies selbst.«

Mit zitternden Händen nahm Anna das Telegramm hin und las dasselbe, was Wronski vorgelesen hatte. Am Schlusse war[242] noch hinzugefügt: »Wenig Hoffnung; werde alles mögliche und unmögliche tun.«

»Ich sagte dir ja gestern, daß es mir ganz gleichgültig ist, wann ich die Scheidung erreiche, ja sogar, ob ich sie überhaupt erreiche«, sagte sie errötend. »Es lag gar kein Anlaß vor, mir das Telegramm zu verheimlichen.« Und im stillen sagte sie sich: ›Ebenso kann er auch seine Briefe von anderen Frauen vor mir verheimlichen, und das tut er auch gewiß.‹

»Jaschwin wollte heute vormittag mit Woitow herkommen«, sagte Wronski. »Er scheint diesem Pjewzow im Spiel sein ganzes Vermögen abgewonnen zu haben, sogar mehr, als der überhaupt bezahlen kann, gegen sechzigtausend Rubel.«

»Nein«, sagte sie, gereizt dadurch, daß er durch diesen Wechsel des Gesprächsgegenstandes in so offensichtlicher Weise zeigte, daß er sie für gereizt halte und sie schonend behandeln wolle, »warum meinst du denn, diese Nachricht werde mich so aufregen, daß sie mir verheimlicht werden müßte? Ich habe gesagt, daß ich gar nicht daran denken will, und es wäre mir lieb, wenn du dich ebensowenig darüber aufregtest wie ich.«

»Mir ist die Sache wichtig, weil ich ein Freund klarer Verhältnisse bin«, antwortete er.

»Klarheit ist in der äußeren Form nicht so wesentlich wie in der Liebe«, erwiderte sie; sie geriet immer mehr und mehr in eine gereizte Stimmung, nicht infolge seiner Worte, sondern infolge des kühlen, ruhigen Tones, in dem er sprach. »Weshalb wünschst du das?«

›Mein Gott! Schon wieder die Liebe!‹ dachte er und runzelte die Stirn.

»Du weißt ja, weshalb: um deinetwillen und um der Kinder willen, die wir bekommen werden«, antwortete er.

»Wir werden keine Kinder mehr bekommen.«

»Das wäre sehr schade«, erwiderte er.

»Du wünschst das um der Kinder willen; aber an mich denkst du nicht?« sagte sie. Sie hatte ganz vergessen oder überhaupt nicht gehört, daß er gesagt hatte: »um deinetwillen und um der Kinder willen.«

Die Frage, ob sie noch mehr Kinder bekommen könnten und sollten, war schon seit längerer Zeit für die beiden ein Anlaß zu Streit, und Anna geriet bei solchen Gesprächen stets in Erregung. Seinen Wunsch, Kinder zu haben, faßte sie in dem Sinne auf, daß er auf ihre Schönheit nicht den gebührenden Wert lege.

»Aber ich habe ja doch gesagt: um deinetwillen. In erster Linie um deinetwillen«, antwortete er und zog, wie infolge[243] eines körperlichen Schmerzes, die Stirn kraus. »Denn nach meiner Überzeugung rührt deine Reizbarkeit zum großen Teil von der Unbestimmtheit deiner Lage her.«

›Aha, jetzt hat er aufgehört, sich zu verstellen, und sein ganzer kalter Haß gegen mich kommt zum Vor schein‹, dachte sie, indem sie gar nicht auf seine Worte hörte, sondern mit Schrecken nach dem kalten, grausamen Richter schaute, der mit dem Ausdruck des Spottes, wie sie meinte, aus seinen Augen blickte.

»Die Ursache ist eine andere«, erwiderte sie, »und ich verstehe gar nicht einmal, wie die Ursache meiner, wie du es nennst, Reizbarkeit darin liegen könnte, daß ich mich vollständig in deiner Gewalt befinde. Inwiefern wäre denn da meine Lage unbestimmt? Im Gegenteil.«

»Es tut mir sehr leid, daß du mich nicht verstehen willst«, unterbrach er sie in dem hartnäckigen Wunsche, seinen Gedanken klar auszusprechen. »Die Unbestimmtheit besteht darin, daß du meinst, ich wäre frei.«

»In dieser Hinsicht kannst du völlig beruhigt sein«, antwortete sie, wandte sich von ihm ab und begann ihren Kaffee zu trinken.

Sie hob die Tasse in die Höhe, wobei sie den kleinen Finger abspreizte, und führte sie zum Munde. Als sie einige Schlucke abgetrunken hatte, blickte sie ihn an und merkte an seiner Miene deutlich, daß ihm ihre Handhaltung und das Geräusch, das ihre Lippen hervorbrachten, widerwärtig waren.

»Es ist mir vollständig gleichgültig, was deine Mutter denkt und mit wem sie dich verheiraten will«, sagte sie und stellte die Tasse mit zitternder Hand hin.

»Aber davon wollen wir nicht reden.«

»Doch, gerade davon. Und du kannst mir glauben, daß ich für eine Frau ohne Herz, mag sie nun alt oder jung, deine Mutter oder eine Fremde sein, kein Interesse habe und sie nicht kennen will.«

»Anna, ich bitte dich, von meiner Mutter nicht ohne Achtung zu reden.«

»Eine Frau, die in ihrem Herzen keine Empfindung dafür hat, worin das Lebensglück und die Ehre ihres Sohnes besteht, besitzt kein Herz.«

»Ich wiederhole meine Bitte: sprich nicht respektlos von meiner Mutter, die ich hochachte«, sagte er, indem er die Stimme erhob und sie mit einem strengen Blick ansah.

Sie antwortete nicht. Die Augen starr auf ihn, auf sein Gesicht, auf seine Hände gerichtet, vergegenwärtigte sie sich mit allen Einzelheiten die Szene der gestrigen Versöhnung und seine[244] leidenschaftlichen Liebkosungen. ›Diese Liebkosungen, ganz dieselben Liebkosungen hat er auch anderen Frauen zuteil werden lassen und wird dies auch in Zukunft tun,‹ dachte sie.

»Du liebst deine Mutter gar nicht. Das sind alles nur leere Worte, Worte, Worte!« erwiderte sie und sah ihn mit einem haßerfüllten Blicke an.

»Wenn es so steht, dann müssen wir ...«

»Dann müssen wir einen Entschluß fassen, und ich habe meinen Entschluß gefaßt«, unterbrach sie ihn und wollte hinausgehen; aber in diesem Augenblick trat Jaschwin ins Zimmer. Anna begrüßte ihn und blieb stehen.

Warum sie, während in ihrer Seele ein furchtbarer Sturm tobte und sie fühlte, daß sie an einem Wendepunkt ihres Lebens stehe, wo ihr Entschluß die entsetzlichsten Folgen haben konnte, warum sie sich in diesem Augenblick vor einem fremden Menschen verstellen mußte, der früher oder später ja doch alles erfuhr, das wußte sie nicht; aber sie zwang sofort den Sturm in ihrem Innern zur Ruhe, setzte sich wieder und begann eine Unterhaltung mit Jaschwin.

»Nun, wie stehen Ihre Angelegenheiten? Haben Sie die Spielschuld bezahlt bekommen?« fragte sie den Gast.

»Nun, es geht; alles werde ich wohl kaum bekommen, und Mittwoch muß ich abreisen. Und wann reisen Sie?« fragte Jaschwin; er blinzelte Wronski mit halb zugekniffenen Augen an und hatte offenbar gemerkt, daß ein Streit vorhergegangen war.

»Wahrscheinlich übermorgen«, antwortete Wronski.

»Sie haben es ja auch schon lange vor.«

»Aber jetzt ist es beschlossene Sache«, sagte Anna und blickte Wronski gerade in die Augen, mit einem Blick, der ihm sagte, er möge jeden Gedanken an die Möglichkeit einer Versöhnung aufgeben.

»Tut Ihnen denn dieser unglückliche Pjewzow nicht leid?« fuhr sie in ihrem Gespräche mit Jaschwin fort.

»Ich habe mich noch nie gefragt, Anna Arkadjewna, ob jemand, der an mich verliert, mir leid tut oder nicht. Mein ganzes Vermögen steckt hier«, er zeigte auf seine Seitentasche, »und in diesem Augenblick bin ich ein reicher Mann; aber heute gehe ich wieder in den Klub und komme vielleicht als Bettler heraus. Wer sich mit mir zum Spiel hinsetzt, der will mich bis aufs Hemd ausplündern, geradeso wie ich ihn. Nun, da ringen wir eben miteinander, und darin besteht das Vergnügen.«

»Wenn Sie nun aber verheiratet wären, wie müßte dann Ihrer Frau zumute sein?« meinte Anna.[245]

Jaschwin lachte.

»Darum habe ich eben nicht geheiratet und es auch nie vorgehabt.«

»Und Helsingfors?« fragte Wronski, indem er sich gleichfalls an dem Gespräch beteiligte und Anna anblickte, die mit lächelndem Gesicht dasaß. Aber als Anna seinem Blick begegnete, nahm ihr Gesicht auf einmal einen kalten, strengen Ausdruck an, als ob sie zu ihm sagen wollte: ›Ich habe das Vorhergegangene nicht vergessen. Es ist alles, wie es war.‹

»Haben Sie sich wirklich nie verliebt?« sagte sie zu Jaschwin.

»Ach Gott, und wie oft! Aber achten Sie auf den Unterschied: der eine setzt sich an den Kartentisch, ist aber imstande, sofort aufzustehen, wenn die Zeit des Stelldicheins da ist; ich dagegen gebe mich mit der Liebe ab, aber nur so weit, daß ich abends zu meiner Spielpartie nicht zu spät komme. Das ist meine Stellung zu dieser Sache.«

»Aber nach dergleichen frage ich nicht, sondern nach etwas Wirklichem, Ernstem.« Sie wollte sagen »Helsingfors«; aber es widerstrebte ihr, das Wort zu gebrauchen, das Wronski ausgesprochen hatte.

In diesem Augenblick trat Woitow ein, der einen Hengst kaufen wollte; Anna stand auf und verließ das Zimmer.

Bevor Wronski von Hause wegfuhr, kam er noch einmal zu ihr. Sie wollte zuerst so tun, als suche sie etwas auf dem Tische; aber dann schämte sie sich einer solchen Heuchelei und schaute ihm mit einem kalten Blick gerade ins Gesicht.

»Was wünschen Sie?« fragte sie ihn auf französisch.

»Ich wollte Gambettas Stammbaum holen; ich habe ihn verkauft«, antwortete er in einem Tone, der klarer als alle Worte besagte: ›Ich habe keine Zeit zu weiteren Auseinandersetzungen, und es würde ja doch zu nichts führen.‹

›Ich fühle mich ihr gegenüber nicht schuldig‹, dachte er. ›Wenn sie sich selbst bestrafen will, um so schlimmer für sie.‹ Aber als er hinausging, war es ihm, als sagte sie etwas, und sein Herz zuckte plötzlich voll Mitleid mit ihr zusammen.

»Was sagtest du, Anna?« fragte er.

»Ich habe nichts gesagt«, antwortete sie ebenso kalt und ruhig wie vorher.

›Nun, wenn du nichts gesagt hast, dann um so schlimmer‹, dachte er, wieder kühl werdend, wandte sich um und ging weg. Beim Hinausgehen erblickte er im Spiegel ihr blasses Gesicht mit den zitternden Lippen. Er wollte stehenbleiben und ein tröstendes Wort zu ihr sagen; aber seine Füße hatten ihn aus dem Zimmer getragen, ehe er noch etwas hatte ausfindig machen[246] können, was er ihr sagen konnte. Diesen ganzen Tag verlebte er außer dem Hause, und als er spät abends heimkehrte, meldete ihm das Mädchen, Anna Arkadjewna habe Kopfschmerzen und lasse ihn bitten, nicht zu ihr zu kommen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 241-247.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon