28

[254] Das Wetter war heiter und klar. Den ganzen Morgen über war ein dichter, feiner Regen gefallen, und erst vor kurzem hatte es sich aufgehellt. Die Blechdächer, die Fußwegplatten, die Pflastersteine, die Räder und das Lederzeug und die Messing- und Blechteile an den Wagen, alles glänzte hell in den Strahlen der Maisonne. Es war drei Uhr, also die Zeit, wo es auf den Straßen am lebhaftesten zugeht.

In einer Ecke des sanft fahrenden Wagens sitzend, der sich bei dem schnellen Trabe der davorgespannten Grauen kaum in den schmiegsamen Federn schaukelte, ging Anna, trotz des unaufhörlichen Rasselns der Räder und des schnellen Wechsels der in der reinen Luft vorüberziehenden Bilder, von neuem die Ereignisse der letzten Tage in ihrem Gedächtnisse durch und gelangte jetzt zu einer ganz anderen Auffassung ihrer Lage als vorher zu Hause. Jetzt stand ihr der Gedanke an den Tod nicht mehr in so furchtbarer Klarheit vor Augen, und der Tod selbst erschien ihr nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich Vorwürfe wegen der Selbstdemütigung, zu der sie sich herbeigelassen hatte. ›Ich flehe ihn an, mir zu verzeihen. Ich habe mich ihm unterworfen, habe bekannt, daß ich an allem schuld bin. Warum? Kann ich denn ohne ihn nicht leben?‹ Und ohne sich eine Antwort auf die Frage zu geben, wie sie es anfangen wolle, ohne ihn zu leben, begann sie die Firmenschilder zu lesen.[254] ›Kontor und Niederlage. Zahnarzt ... Ja, ich will Dolly alles sagen. Sie kann Wronski nicht leiden. Ich werde mich dabei schämen müssen, und es wird mir ein großer Schmerz sein; aber trotzdem will ich ihr alles sagen. Sie hat mich gern, und ich will ihrem Rate folgen. Ich werde mich ihm nicht unterwerfen und nicht dulden, daß er den Versuch macht, mich zu erziehen. Filippow, Feinbäckerei. Es heißt, daß manche Bäcker Teig von hier nach Petersburg schicken. Das Moskauer Wasser ist vorzüglich. Ja, die Wasserleitung von Mütischtschi; daher auch die guten Pfannkuchen.‹ Und sie erinnerte sich, wie sie vor langer, langer Zeit (sie war damals erst siebzehn Jahre alt gewesen) mit ihrer Tante nach dem Troizakloster gefahren war. ›Damals fuhr man dorthin noch zu Wagen. War ich das wirklich, das Mädchen mit den roten Händen? Wie vieles von dem, was mir damals so schön und unerreichbar schien, hat sich als nichtig erwiesen, und das, was damals war, ist mir nun für ewig unerreichbar. Hätte ich wohl damals geglaubt, daß ich bis zu einem solchen Grade der Selbstdemütigung gelangen könnte? Wie stolz und zufrieden er sein wird, wenn er meinen Brief bekommt! Aber ich werde ihm beweisen ... Wie schlecht diese Farbe riecht. Warum die Leute nur immerzu bauen und anstreichen? Moden- und Putzgeschäft‹, las sie. Ein Mann grüßte sie. Es war Annuschkas Ehemann. ›Unsere Parasiten‹, sie erinnerte sich an diesen Ausdruck, den Wronski von solchen Anhängseln ihres Haushaltes gebraucht hatte. ›Unsere? Warum unsere? Es ist furchtbar, daß man die Vergangenheit nicht mit der Wurzel ausreißen kann. Sie zu vernichten ist nicht möglich; man kann nur die Erinnerung daran zudecken. Und ich werde sie zudecken.‹ Und nun erinnerte sie sich ihres früheren Zusammenlebens mit Alexei Alexandrowitsch und wie sie diese ganze Zeit aus ihrem Gedächtnisse weggewischt hatte. ›Dolly wird denken, daß ich nun schon den zweiten Mann verlasse und daß ich daher gewiß unrecht habe. Will ich denn recht haben? Ich kann es ja doch nicht!‹ sagte sie sich und war nahe daran zu weinen. Aber da fing sie plötzlich an zu überlegen, worüber wohl diese beiden jungen Mädchen da lächeln mochten. ›Gewiß über eine Liebesangelegenheit. Sie wissen nicht, wie trübe und erniedrigend das ist ... Da ist der Boulevard, eine Menge Kinder! Drei Knaben laufen da und spielen Pferdchen. Ach, Sergei! Und ich werde alles verlieren und meinen Sohn nicht wiederbekommen. Ja, alles ist verloren, wenn Wronski nicht zurückkommt. Möglicherweise ist er zum Zug zu spät gekommen und schon jetzt nach Hause zurückgekehrt. Du trägst wie der nach neuen Demütigungen Verlangen!‹ sagte sie zu sich[255] selbst. ›Nein, ich will zu Dolly gehen und ihr offen sagen: »Ich bin unglücklich; ich habe es verdient; ich bin selbst schuld daran. Aber bei alledem: ich bin unglücklich; hilf mir!« Diese Pferde, dieser Wagen – wie zuwider ich mir selbst in diesem Wagen bin; alles gehört ihm; aber ich werde das alles bald nicht mehr sehen.‹

Damit beschäftigt, sich die Worte zurechtzulegen, mit denen sie Dolly alles mitteilen wollte, wobei sie absichtlich in den Wunden ihres Herzens wühlte, stieg Anna die Treppe hinauf.

»Ist Besuch da?« fragte sie im Vorzimmer.

»Katerina Alexandrowna Ljewina«, antwortete der Diener.

›Kitty! Dieselbe Kitty, in die Wronski verliebt gewesen ist!‹ dachte Anna. ›Dieselbe, deren er oft noch in Liebe gedacht hat. Er bedauert, daß er sie nicht geheiratet hat. Aber an mich denkt er nur mit einem Gefühl des Hasses und bereut es, daß er sich mit mir verbunden hat.‹

Die beiden Schwestern führten, als Anna eintraf, gerade ein eifriges Gespräch über Säuglingsernährung. Dolly empfing den Besuch, der in diesem Augenblick ihr Gespräch störend unterbrach, allein im anstoßenden Zimmer.

»Ah, du bist noch nicht abgereist? Ich hatte selbst vor, zu dir zu kommen«, sagte sie. »Ich habe heute einen Brief von Stiwa erhalten.«

»Wir haben auch ein Telegramm von ihm bekommen«, erwiderte Anna und sah sich dabei um, ob Kitty nicht zu sehen sei.

»Er schreibt, er könne gar nicht begreifen, was Alexei Alexandrowitsch eigentlich wolle; aber er werde nicht abreisen, ehe er nicht eine klare Antwort erhalten habe.«

»Ich glaubte, du hättest Besuch. Kann ich den Brief lesen?«

»Ja, Kitty ist da«, antwortete Dolly verlegen. »Sie ist im Kinderzimmer geblieben. Sie ist sehr krank gewesen.«

»Ich habe davon gehört. Kann ich den Brief lesen?«

»Ich will ihn dir gleich holen. Aber Alexei Alexandrowitsch spricht ja keine Weigerung aus; im Gegenteil, Stiwa hat Hoffnung«, sagte Dolly, in der Tür stehenbleibend.

»Ich hoffe nichts mehr und wünsche nichts mehr«, versetzte Anna.

›Was bedeutet denn das?‹ dachte Anna, als sie allein geblieben war. ›Hält Kitty es ihrer für unwürdig, mit mir zusammenzutreffen? Vielleicht hat sie darin recht. Aber ihr, die in Wronski verliebt gewesen ist, steht es nicht an, mir ihre Geringschätzung zu zeigen, mag sie auch damit recht haben. Ich weiß, daß mich in meiner Lage keine anständige Frau empfangen kann. Ich[256] weiß auch, daß ich ihm von jenem ersten Augenblick an alles geopfert habe. Und das ist nun mein Lohn! Oh, wie ich ihn hasse! Und wozu bin ich hierhergekommen? Hier ist mir nur noch schlimmer zumute, hier fühle ich mich nur noch mehr niedergedrückt.‹ Sie hörte von dem anderen Zimmer her die Stimmen der Schwestern, die miteinander sprachen. ›Und was soll ich jetzt zu Dolly sagen? Soll ich Kitty damit eine Genugtuung bereiten, daß ich sie sehen lasse, wie unglücklich ich bin? Soll ich mich von ihr beschützen lassen? Nein, auch Dolly wird für meine Verfassung kein Verständnis haben, und ich weiß gar nicht, was ich ihr sagen könnte. Es würde mich nur interessieren, Kitty zu sehen und ihr zu zeigen, wie ich jetzt alle und alles verachte, wie gleichgültig mir jetzt alles ist.‹

Dolly kam mit dem Briefe wieder herein. Anna las ihn durch und reichte ihn ihr schweigend zurück.

»Das habe ich alles gewußt«, sagte sie dann. »Und das alles ist für mich auch belanglos.«

»Aber warum denn? Ich meinerseits habe Hoffnung«, erwiderte Dolly und blickte Anna prüfend an. Sie hatte sie noch nie in einem so sonderbaren, gereizten Zustand gesehen. »Wann reist du denn ab?« fragte sie.

Anna blickte mit halb zugekniffenen Augen vor sich hin und antwortete nicht.

»Warum versteckt sich denn Kitty vor mir?« fragte sie mit einem Blick nach der Tür und errötete.

»Ach, Torheit! Sie nährt selbst, und das geht nicht recht vonstatten, und da habe ich ihr geraten ... Sie wird sich sehr freuen. Sie kommt sofort«, brachte Dolly in ungeschickter Weise heraus, da sie sich nicht darauf verstand, die Unwahrheit zu sagen. »Da ist sie ja schon.«

Als Kitty gehört hatte, daß Anna gekommen sei, hatte sie nicht zu ihr hereinkommen wollen; aber Dolly hatte sie doch dazu überredet. Sich zusammennehmend, kam Kitty herein, ging errötend auf Anna zu und reichte ihr die Hand.

»Ich freue mich sehr«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Kitty war verlegen infolge des Kampfes, der in ihrer Seele zwischen der feindseligen Gesinnung gegen diese schlechte Frau und dem Wunsche, gegen sie Nachsicht zu üben, vorging; aber sobald sie Annas schönes, anziehendes Gesicht erblickte, war sofort alle Feindschaft verschwunden.

»Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn Sie gewünscht hätten, mit mir nicht zusammenzutreffen. Ich bin an all dergleichen gewöhnt. Sie sind krank gewesen? Ja, Sie sehen recht verändert aus«, sagte Anna.[257]

Kitty fühlte, daß Annas auf sie gerichteter Blick etwas Feindseliges hatte. Sie erklärte sich diese Feindseligkeit durch die peinliche Lage, in der sich Anna, von der sie selbst früher Beistand angenommen hatte, ihr gegenüber jetzt befand, und empfand inniges Mitleid mit ihr.

Sie sprachen über Kittys Krankheit, über Kittys Kind, über Stiwa; aber Anna interessierte sich offenbar für das alles nicht.

»Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen«, sagte sie, indem sie aufstand.

»Wann reist ihr denn?«

Aber Anna gab wieder keine Antwort, sondern wandte sich zu Kitty.

»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte sie lächelnd.

»Ich habe soviel über Sie von allen Seiten gehört, sogar aus dem Munde Ihres Mannes. Er hat mir einen Besuch gemacht und mir sehr gut gefallen«, fügte sie, offenbar in böser Absicht, hinzu. »Wo ist er denn jetzt?«

»Er ist aufs Land gefahren«, antwortete Kitty errötend.

»Grüßen Sie ihn von mir; bitte, vergessen Sie es nicht.«

»Ich werde es bestimmt nicht vergessen«, erwiderte Kitty harmlos und blickte ihr voll Mitleid in die Augen.

»Also dann leb wohl, Dolly!« Anna küßte Dolly, drückte Kitty die Hand und ging rasch hinaus.

»Sie ist immer noch dieselbe und immer noch ebenso anziehend. Eine sehr schöne Frau!« sagte Kitty, als sie mit ihrer Schwester wieder allein war. »Aber es ist etwas Mitleiderregendes an ihr, etwas entsetzlich Mitleiderregendes.«

»Ja, heute war sie ganz eigentümlich«, versetzte Dolly. »Als ich sie ins Vorzimmer hinausbegleitete, kam es mir vor, wie wenn sie losweinen wollte.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 254-258.
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