[207] Als Kitty weggefahren und Ljewin allein geblieben war, empfand er fern von ihr eine solche Unruhe und wünschte mit einer solchen Ungeduld die Zeit vorüber bis zum nächsten Vormittag, wo er sie wiedersehen und sich für immer mit ihr verbinden sollte, daß er diese vierzehn Stunden, die er ohne Kitty würde zubringen müssen, wie den Tod fürchtete. Er mußte unbedingt mit jemand zusammen sein und reden, um nur nicht ganz allein zu sein und um sich über die Zeit hinwegzutäuschen. Stepan Arkadjewitsch wäre für ihn der angenehmste Gesellschafter gewesen; aber der fuhr weg, wie er sagte, zu einer Abendgesellschaft, in Wirklichkeit jedoch zum Ballett. Ljewin fand nur gerade noch Zeit, ihm zu sagen, daß er glücklich sei und ihn sehr gern habe und nie vergessen werde, was er für ihn getan habe. Aus Stepan Arkadjewitschs Blick und Lächeln konnte Ljewin abnehmen, daß jener dieses Gefühl gebührendermaßen zu würdigen wußte.
»Nun also, es ist doch wohl noch nicht Zeit zum Sterben?« fragte Stepan Arkadjewitsch und drückte ihm gerührt die Hand.
»Nein, nein«, erwiderte Ljewin.
Darja Alexandrowna wünschte ihm, als er sich ihr empfahl, gleichfalls gewissermaßen Glück, indem sie sagte: »Ich freue mich sehr, daß Sie Kitty wiedergetroffen haben; alte Freundschaften muß man in Ehren halten.« Alle diese Worte Darja Alexandrownas erregten bei Ljewin eine unangenehme Empfindung. Diese Frau hatte gar kein Verständnis dafür, wie unerreichbar hoch das alles über ihr stand, und hätte nicht wagen[207] sollen, davon zu reden. Ljewin verabschiedete sich von den Wirten und Gästen; aber um nicht allein zu bleiben, hängte er sich an seinen Bruder.
»Wohin fährst du?«
»Ich fahre zu einer Stadtverordnetensitzung.«
»Na, dann komme ich mit. Darf ich?«
»Warum denn nicht? Komm nur!« versetzte Sergei Iwanowitsch lächelnd. »Was hast du nur heute?«
»Ich? Ich bin glücklich!« antwortete Ljewin und ließ das Fenster des Wagens, in dem sie fuhren, herunter. »Es ist dir doch nicht unangenehm? Es ist hier so stickig. Ich bin glücklich. Warum hast du eigentlich nie geheiratet?«
Sergei Iwanowitsch lächelte.
»Ich freue mich sehr; sie scheint mir ein reizendes Mäd ...« fing er an.
»Rede nicht, rede nicht, rede nicht!« rief Ljewin, faßte mit beiden Händen den Kragen von Sergei Iwanowitschs Pelz und schlug die beiden Teile übereinander. »Sie ist ein reizendes Mädchen«, das waren gar zu gewöhnliche, niedrige Ausdrücke, die so gar nicht seinem Gefühle entsprachen.
Sergei Iwanowitsch stimmte ein lustiges Lachen an, was bei ihm nur selten vorkam.
»Na, aber das darf ich doch wenigstens sagen, daß ich mich sehr darüber freue.«
»Das darfst du morgen sagen, morgen, aber jetzt nichts weiter! Nichts, nichts, ganz still sein!« meinte Ljewin, schlug ihm noch einmal den Pelz vor dem Munde zusammen und fügte hinzu: »Ich habe dich sehr gern! Wie ist's? Darf ich mit in die Sitzung?«
»Gewiß, selbstverständlich.«
»Was liegt denn bei euch heute vor?« fragte Ljewin, der immer weiter lächelte.
Sie kamen in die Sitzung. Ljewin hörte zu, wie der Sekretär, häufig anstoßend, ein Protokoll vorlas, das er offenbar selbst nicht verstand; aber Ljewin sah es diesem Sekretär am Gesicht an, was für ein lieber, guter, prächtiger Mensch er war. Das war daran zu sehen, wie verwirrt und verlegen er beim Vorlesen des Protokolls wurde. Dann begann die Verhandlung. Man stritt über die Streichung irgendwelcher Geldsummen und über die Legung irgendwelcher Röhren, und Sergei Iwanowitsch griff zwei andere Mitglieder der Versammlung sehr scharf an und hielt eine längere Rede, mit der er entschieden den Sieg davontrug. Und ein anderes Mitglied antwortete ihm, unter Benutzung eines Zettels mit Vermerken, anfangs etwas zaghaft, dann aber recht giftig und ganz allerliebst. Und dann sagte Swijaschski,[208] der auch da war, etwas in sehr schöner, vornehmer Weise. Ljewin hörte ihnen zu und sah deutlich, daß weder diese weggestrichenen Geldsummen noch die Röhren einem von ihnen Kummer machten und daß sie sich überhaupt nicht ärgerten und zankten, sondern sämtlich sehr gute, prächtige Menschen waren und daß es durchweg sehr hübsch und nett unter ihnen zuging. Sie taten niemandem etwas zuleide und fühlten sich offenbar alle sehr behaglich. Merkwürdig erschien ihm, daß sie alle für ihn heute gleichsam durchsichtig geworden waren und er an kleinen Anzeichen, die ihm früher entgangen waren, die Seele eines jeden genau beurteilen konnte und klar erkannte, daß sie sämtlich gute Menschen waren. Namentlich schienen sie alle ihn selbst heute außerordentlich gern zu haben. Das war aus der Art deutlich, wie sie mit ihm sprachen und wie sogar diejenigen, mit denen er gar nicht bekannt war, ihn freundlich und vertraulich ansahen.
»Nun also, bist du zufrieden?« fragte ihn Sergei Iwanowitsch.
»Sehr. Ich hätte nicht gedacht, daß das so interessant wäre! Wunderschön, ganz ausgezeichnet!«
Swijaschski trat zu Ljewin heran und lud ihn ein, in seiner Familie mit ihm Tee zu trinken. Ljewin konnte durchaus nicht begreifen und sich nicht erinnern, was ihm eigentlich an Swijaschski früher unangenehm gewesen sei und was er bei ihm vermißt habe. Er war ja doch ein überaus kluger und außerordentlich gutherziger Mensch.
»Sehr gern«, erwiderte er und erkundigte sich dann nach seiner Frau und nach seiner Schwägerin. Und infolge einer sonderbaren Gedankenverbindung, indem sich nämlich in seinem Kopfe der Gedanke an Swijaschskis Schwägerin mit dem Gedanken an das Heiraten verknüpfte, kam er zu der Vorstellung, daß er mit niemand besser von seinem Glücke reden könne als mit Swijaschskis Frau und Schwägerin, und so war es ihm denn eine große Freude, mit diesem mitzufahren.
Swijaschski befragte ihn über sein Unternehmen auf dem Lande und bestritt dabei wie immer die Möglichkeit, etwas zu finden, was in Europa noch nicht gefunden wäre; aber jetzt fühlte sich Ljewin dadurch in keiner Weise unangenehm berührt. Im Gegenteil sagte er sich, daß Swijaschski recht habe und dieses ganze Unternehmen wertlos sei, und er beachtete die bewundernswerte Milde und Zartheit, mit der Swijaschski es vermied, seine eigene Ansicht geradezu als die richtige zu bezeichnen. Swijaschskis Damen waren ganz besonders liebenswürdig. Ljewin hatte die Empfindung, als wüßten sie bereits alles und nähmen herzlich daran Anteil und wollten nur aus[209] Zartgefühl nicht davon reden. Er saß bei ihnen eine Stunde lang, zwei Stunden, drei Stunden und unterhielt sich mit ihnen über die mannigfaltigsten Gegenstände; aber er dachte im stillen nur an das, was seine ganze Seele ausfüllte, und bemerkte nicht, daß er Swijaschskis furchtbar langweilte und daß sie längst gern sich schlafen gelegt hätten. Swijaschski begleitete ihn gähnend in das Vorzimmer, höchst verwundert über den sonderbaren Zustand, in dem sich sein Freund befand. Es war schon ein Uhr durch. Ljewin kehrte in sein Hotel zurück und erschrak bei dem Gedanken, daß er nun die noch übrigen zehn Stunden allein mit seiner Ungeduld werde verbringen müssen. Der Kellner, der den Nachtdienst hatte und deshalb wach war, zündete ihm die Kerzen an und wollte dann wieder hinausgehen; aber Ljewin hielt ihn zurück. Dieser Kellner Jegor, den Ljewin früher gar nicht beachtet hatte, erwies sich als ein sehr verständiger, netter und vor allen Dingen auch als ein von Herzen guter Mensch.
»Nun, Jegor, das ist wohl eine schwere Aufgabe, so die ganze Nacht wach zu bleiben?«
»Was ist zu machen? Das gehört nun einmal mit zu unserm Dienst. Wenn man bei einer Herrschaft ist, hat man ja mehr Ruhe; aber dafür ist hier die Einnahme besser.«
Auf Ljewins Fragen teilte ihm Jegor mit, daß er verheiratet sei und drei Knaben und eine Tochter habe, die Näherin sei und nächstens einen Handlungsgehilfen aus einem Geschäft für Pferdegeschirre heiraten werde.
Ljewin setzte bei diesem Anlasse dem Kellner Jegor seine Ansicht auseinander, daß in der Ehe die Hauptsache die Liebe sei und daß man, wenn nur diese nicht fehle, immer glücklich sein müsse, weil die Quelle des Glückes nur im eigenen Herzen sei.
Jegor hörte aufmerksam zu und verstand offenbar Ljewins Meinung vollkommen; aber um diese noch seinerseits zu bekräftigen, brachte er die für Ljewin unerwartete Bemerkung vor, er sei, wenn er bei guten Herrschaften gedient habe, mit seinen Herrschaften immer zufrieden gewesen und sei auch jetzt mit seinem Brotherrn vollkommen zufrieden, obgleich dieser ein Franzose sei.
›Ein außerordentlich guter Mensch!‹ dachte Ljewin.
»Nun, und als du dich verheiratetest, Jegor, hast du da deine Frau geliebt?«
»Aber natürlich!« antwortete Jegor.
Und Ljewin sah, daß sich Jegor gleichfalls in einem Zustande des Entzückens befand und vorhatte, ihm alle seine seelischen Empfindungen zu schildern.[210]
»Mein Lebenslauf ist auch ein ganz wunderbarer. Von meiner Kindheit an ...«, begann er mit leuchtenden Augen; offenbar hatte ihn Ljewins Entzücken angesteckt, geradeso wie Gähnen ansteckend wirkt.
Aber in diesem Augenblicke ertönte eine Klingel; Jegor ging hinaus, und Ljewin blieb allein im Zimmer. Er hatte bei dem Mahle so gut wie nichts gegessen, bei Swijaschskis den angebotenen Tee und das Abendbrot dankend abgelehnt; aber trotzdem war ihm der Gedanke, jetzt noch etwas zu essen, ganz unmöglich. Er hatte in der vorigen Nacht nicht geschlafen, mochte aber an Schlaf überhaupt nicht denken. Im Zimmer war es kühl; aber er glaubte vor Hitze ersticken zu müssen. Er öffnete die beiden Luftklappen des Doppelfensters und setzte sich ihnen gegenüber auf den Tisch. Über einem schneebedeckten Dache war ein mit Ketten musterartig verziertes Kreuz sichtbar, das auf einer Kirchenkuppel stand, und höher hinauf das aufsteigende Dreieck des Sternbildes des Fuhrmanns mit der gelblich leuchtenden Kapella. Er blickte bald nach dem Kreuze, bald nach dem Sterne hin, atmete die frische Winterluft ein, die gleichmäßig ins Zimmer strömte, und verfolgte wie im Traum die Bilder und Erinnerungen, die vor seinem geistigen Auge auftauchten. Etwa um halb vier Uhr hörte er Schritte auf dem Seitengang und blickte aus der Tür. Es war ein ihm bekannter Spieler Mjaskin, der aus dem Klub kam. Mit finsterem Gesichte und zusammengezogenen Augenbrauen ging er hüstelnd nach seinem Zimmer. ›Der Arme, der Unglückliche!‹ dachte Ljewin, und Tränen der Liebe und des Mitleides mit diesem Menschen traten ihm in die Augen. Er wollte ihn schon anreden und ihm Trost zusprechen; aber da ihm noch einfiel, daß er nur im Hemde war, so unterließ er es und setzte sich wieder an die Luftklappe, um sich in der kalten Luft zu baden und dieses wunderlich geformte, stumme, aber für ihn so bedeutungsvolle Kreuz und den immer höher steigenden gelblich leuchtenden Stern zu betrachten. Nach sechs Uhr begannen die Dielenbohner zu lärmen; auf irgendeiner Kirche wurde zur Frühmesse geläutet, und Ljewin spürte, daß er zu frieren anfing. Er schloß die Luftklappe, wusch sich, kleidete sich an und ging auf die Straße hinaus.
Buchempfehlung
In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.
38 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro