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[153] Nach Hause zurückgekehrt, fand Wronski ein paar Zeilen von Anna vor. Sie schrieb: »Ich bin krank und unglücklich. Ich kann nicht ausfahren; aber ich kann es nicht länger ertragen, Sie nicht zu sehen. Kommen Sie heute abend! Um sieben Uhr fährt Alexei Alexandrowitsch in die Sitzung und bleibt dort bis zehn.« Er überlegte einen Augenblick, wie seltsam es doch sei, daß sie ihn so ohne weiteres zu sich rufe, trotz der von ihrem Manne gestellten Forderung, ihn nicht zu empfangen; aber dann entschied er sich dafür, hinzufahren.

Wronski war in diesem Winter zum Obersten befördert worden, war damit aus dem Regiment ausgeschieden und wohnte nun allein für sich. Nachdem er gefrühstückt hatte, legte er sich sofort auf das Sofa, und nach fünf Minuten erfüllten sein Gehirn in wirrem Durcheinander Erinnerungen an die widerwärtigen Szenen, die er in den letzten Tagen mit angesehen hatte; dabei verknüpfte sich der Gedanke an Anna wunderlich mit dem an einen Bauer, der bei der Bärenjagd als Aufstörer des Tieres aus seinem Winterlager eine wichtige Rolle gespielt hatte; darüber schlief Wronski ein. Er erwachte erst am Abend im Dunkeln, vor Furcht zitternd, und zündete hastig eine Kerze an. ›Was ist los? Was war das? Was habe ich nur Furchtbares geträumt? Ja, ja, das war's: der Bauer, der das Tier aufstörte, ich glaube, so ein kleiner, schmutziger Kerl mit zerzaustem Barte, tat in gebückter Haltung irgend etwas und fing auf einmal an, französisch zu sprechen, so ganz sonderbare Worte. Ja, weiter habe ich nichts geträumt‹, sagte er zu sich. ›Aber was war nur daran so Entsetzliches?‹ Er erinnerte sich noch einmal mit voller Deutlichkeit an den Bauer und jene unverständlichen französischen Worte, die der Bauer gesprochen hatte, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken.

›Was für ein Unsinn!‹ dachte Wronski und blickte auf die Uhr.

Es war schon halb neun. Er klingelte dem Diener, kleidete sich eilig an und trat vor die Haustür; den Traum hatte er bereits vollständig vergessen; es quälte ihn nur der Gedanke, daß er sich verspätet hatte. Als er bei Karenins vorfuhr, blickte er nach der Uhr und sah, daß es zehn Minuten vor neun war. Eine hohe, schmale Kutsche, mit zwei Grauschimmeln bespannt, stand in der Nähe der Haustür. Er erkannte den Wagen, in dem Anna zu fahren pflegte. ›Sie will zu mir fahren‹, dachte er, ›und das wäre auch das beste. Es ist mir unangenehm, dieses Haus zu betreten. Aber einerlei; verstecken kann ich mich jetzt nicht‹, sagte er zu sich, und in der schon von kleinauf ihm geläufigen[154] Haltung eines Mannes, der keinen Anlaß hat, sich zu schämen, stieg er aus dem Schlitten und ging zur Haustür. In diesem Augenblicke öffnete sich die Haustür, und der Pförtner, der ein Tuch auf dem Arme hielt, rief den Wagen heran. Obgleich es nicht in Wronskis Art lag, nebensächliche Einzelheiten zu beachten, fiel ihm doch die erstaunte Miene auf, mit der der Pförtner ihn ansah. Gerade in der Tür prallte Wronski beinahe mit Alexei Alexandrowitsch zusammen. Die Gasflamme beleuchtete aus nächster Nähe das blutleere, abgemagerte Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Krawatte, die aus dem Biberkragen des Überziehers hervorschimmerte. Karenins starre, trübe Augen hefteten sich auf Wronskis Gesicht. Dieser verbeugte sich; Alexei Alexandrowitsch hob, unter leeren Kaubewegungen des Mundes, die Hand zum Hute und ging vorüber. Wronski sah, wie er, ohne sich umzuschauen, sich in den Wagen setzte, Tuch und Opernglas durch das Fenster in Empfang nahm und davonfuhr. Wronski ging in das Vorzimmer hinein. Seine Brauen waren finster zusammengezogen, und seine Augen funkelten in ingrimmigem, stolzem Glanze.

›Eine heillose Lage!‹ dachte er. ›Wenn er kämpfen, seine Ehre verteidigen wollte, dann könnte ich handeln und meinen Gefühlen freien Lauf lassen; aber diese Schwächlichkeit oder Gemeinheit ... Er drängt mich in die Lage eines Betrügers, was ich doch nie habe sein wollen und nicht sein will.‹

Seit seiner Unterredung mit Anna im Wredeschen Parke hatten sich Wronskis Anschauungen geändert. Unwillkürlich sich der Schwäche Annas anbequemend, die sich ihm ganz hingab, nur von ihm eine Entscheidung ihres Schicksals erwartete und sich im voraus in alles fügte, hatte er längst aufgehört zu denken, daß dieses Verhältnis jemals in der Weise ein Ende nehmen könne, wie er es damals gedacht hatte. Seine ehrgeizigen Pläne waren wieder in den Hintergrund getreten, und da er sich sagte, daß er nun doch einmal jenen Kreis der Tätigkeit verlassen hatte, in dem alles in bestimmter Form geregelt war, so überließ er sich ganz seinem Gefühle, und dieses Gefühl fesselte ihn immer fester und fester an Anna.

Als er noch im Vorzimmer war, hörte er ihre sich entfernenden Schritte. Er schloß daraus, daß sie auf ihn gewartet, nach jedem Geräusche auf der Straße hingehorcht hatte und nun in den Salon zurückging.

»Nein«, rief sie, als sie ihn erblickte, und beim ersten Worte, das sie sprach, traten ihr die Tränen in die Augen, »nein, wenn das so weitergeht, so geschieht es noch viel, viel früher!«

»Was hast du, liebe Anna?«[155]

»Was ich habe? Ich warte, ich martere mich schon eine Stunde lang, zwei Stunden lang ... Nein, ich will dir keinen Vorwurf machen! Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Es ist dir gewiß nicht früher möglich gewesen. Nein, ich will dir keinen Vorwurf machen!«

Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und sah ihn lange mit einem tiefen, entzückten und zugleich forschenden Blicke an. Sie betrachtete jeden Zug seines Gesichts, um sich für die lange Zeit, da sie ihn nicht gesehen hatte, schadlos zu halten. Wie bei jedem Wiedersehen verglich sie das Bild, das sie sich in Gedanken von ihm gemacht hatte (ein unvergleichlich schöneres, in der Wirklichkeit unmögliches Bild), mit ihm, wie er tatsächlich war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 153-156.
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