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[238] Im Saale verbeugte sich Alexei Alexandrowitsch vor Betsy und ging zu seiner Frau zurück. Sie hatte in der Zwischenzeit gelegen, nahm aber, als sie seine Schritte hörte, schnell wieder ihre frühere sitzende Stellung ein und blickte ihn erschrocken an. Er sah, daß sie geweint hatte.

»Ich bin dir für dein Vertrauen zu mir sehr dankbar«, wiederholte er in sanftem Tone auf russisch den Satz, den er kurz vorher in Betsys Gegenwart auf französisch gesagt hatte, und setzte sich neben sie. Sobald er russisch zu ihr sprach und du zu ihr sagte, geriet Anna über dieses Du jedesmal in einen so gereizten Zustand, daß sie sich nicht beherrschen konnte. »Und ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du die Frage in verneinendem Sinne entschieden hast. Ich bin gleichfalls der Ansicht, daß, wenn Graf Wronski abreist, es in keiner Weise erforderlich ist, daß er zu uns herkommt. Übrigens ...«

»Das habe ich ja schon gesagt; also wozu wiederholst du es noch einmal?« unterbrach ihn Anna plötzlich mit einer Gereiztheit, die sie nicht zu unterdrücken imstande war. ›Nein‹, dachte sie, ›es ist in keiner Weise erforderlich, daß ein Mann der Frau Lebewohl zu sagen kommt, die er liebt, um derentwillen er sich das Leben nehmen wollte und sich unglücklich gemacht hat und die ohne ihn nicht leben kann. Nein, das ist in keiner Weise erforderlich!‹ Sie preßte die Lippen zusammen und richtete ihre funkelnden Augen auf seine Hände mit den hervortretenden Adern; er rieb langsam eine Hand gegen die andere. »Wir wollen nie wieder davon sprechen«, fügte sie etwas ruhiger hinzu.

»Ich habe es dir überlassen, diese Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen ...«, begann Alexei Alexandrowitsch.

»Daß mein Wunsch mit dem Ihrigen zusammentrifft«, beendete sie schnell seinen Satz; daß er so langsam sprach, während sie alles, was er sagen wollte, im voraus wußte, machte sie nervös.

»Ja«, bestätigte er die Richtigkeit ihrer Ergänzung, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich ganz unangebrachterweise in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Gerade sie ...«

»Ich glaube nichts von dem, was über sie geredet wird«, fiel ihm Anna schnell ins Wort. »Ich weiß, daß sie mich aufrichtig lieb hat.«[238]

Alexei Alexandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte erregt mit den Quasten ihres Schlafrockes und blickte ihren Mann mit jenem qualvollen Gefühle physischen Widerwillens an, weswegen sie sich oft schalt, das sie aber nicht zu überwinden vermochte. Sie wünschte jetzt nur eins: von seiner widerwärtigen Gegenwart befreit zu sein.

»Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt«, sagte Alexei Alexandrowitsch.

»Ich bin gesund; wozu brauche ich den Arzt?«

»Du nicht; aber die Kleine schreit fortwährend, und es wird vermutet, daß die Amme zu wenig Nahrung hat.«

»Warum hast du mir nicht erlaubt, die Kleine selbst zu nähren, als ich dich darum bat? Es ist ja ganz gleichgültig« (Alexei Alexandrowitsch verstand, was dieses »ganz gleichgültig« bedeutete); »sie ist nur ein kleines Kind, und da läßt man sie umkommen.« Sie klingelte und befahl, ihr das Kind zu bringen. »Als ich bat, das Kind selbst nähren zu dürfen, wurde es mir nicht erlaubt, und jetzt bekomme ich die Vorwürfe.«

»Ich mache dir keine Vorwürfe ...«

»Doch, das tun Sie! Mein Gott, warum bin ich nicht gestorben!« Sie brach in Schluchzen aus. »Verzeih mir, ich bin so reizbar, ich bin ungerecht«, fügte sie kurz darauf, zur Besinnung kommend, hinzu. »Aber bitte, geh jetzt ...«

›Nein, das kann nicht so bleiben‹, sagte Alexei Alexandrowitsch mit aller Bestimmtheit zu sich selbst, während er hinausging.

Die Unzulässigkeit seiner Lage nach der Anschauung der Welt und der Haß seiner Frau gegen ihn und überhaupt die Macht jener rohen, geheimnisvollen Gewalt, die im Gegensatze zu seiner Seelenstimmung sein Leben lenkte und die Erfüllung ihres Willens und die Änderung seines Verhältnisses zu seiner Frau forderte, dies alles war ihm noch nie mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten wie heute. Er sah klar, daß die ganze Welt und seine Frau etwas von ihm verlangten; aber was sie eigentlich verlangten, das vermochte er nicht zu erfassen. Er fühlte, daß infolgedessen in seiner Seele ein gewisser Ingrimm heranwuchs, der ihm seine Ruhe raubte und das ganze Verdienst seiner edlen Tat zunichte machte. Er war der Ansicht, daß es für Anna das beste sei, die Beziehungen zu Wronski abzubrechen; aber wenn die Leute alle fanden, daß dies unmöglich sei, nun, so war er auch bereit, diese Beziehungen von neuem zu dulden, um nur nicht Schande über die Kinder kommen zu lassen, ihrer nicht beraubt zu werden und seine Lage nicht ändern zu müssen. Wie übel dies auch war, so war es doch immer noch besser als ein Bruch, durch den Anna in eine schmähliche,[239] rettungslose Lage geraten und er selbst alles verlieren würde, was er liebte. Aber er fühlte sich machtlos; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein und ihn nicht das tun lassen würden, was ihm jetzt so natürlich und gut erschien, sondern ihn zwingen würden, das zu tun, was zwar schlecht, aber nach ihrer Meinung erforderlich war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 238-240.
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