[249] Wronskis Wunde war gefährlich gewesen, obwohl die Kugel das Herz nicht verletzt hatte. Mehrere Tage lang hatte er zwischen Leben und Tod geschwebt. Als er zum ersten Male wieder imstande war zu sprechen, befand sich nur Warja, die Frau seines Bruders, bei ihm im Zimmer.
»Warja«, sagte er, indem er sie ernst anblickte, »ich habe mich zufällig durch einen Schuß verletzt. Bitte, sprich zu mir nie davon und rede zu allen in diesem Sinne. Sonst nimmt sich die Sache gar zu dumm aus.«
Ohne darauf zu antworten, beugte Warja sich über ihn und blickte ihm mit frohem Lächeln ins Gesicht. Seine Augen waren hell, nicht fieberhaft; aber sie hatten einen tiefernsten Ausdruck.
»Nun, Gott sei Dank!« sagte sie. »Hast du keine Schmerzen?«
»Hier ein wenig.« Er zeigte auf die Brust.
»Dann erlaube, ich will dir einen neuen Verband machen.«
Schweigend preßte er die breiten Kiefer zusammen und blickte seine Schwägerin an, während sie ihn verband. Als sie damit fertig war, sagte er:
»Ich bin jetzt bei klarer Besinnung; bitte, wirke doch darauf hin, daß kein Gerede entsteht, als hätte ich absichtlich auf mich geschossen.«
»Das wird ja auch niemand sagen. Ich hoffe nur, daß du in Zukunft nicht wieder unvorsichtig schießen wirst«, versetzte sie mit einem fragenden Lächeln.
»Das werde ich ja wohl nicht tun; aber es wäre besser gewesen ...«
Er lächelte finster.
Trotz dieser Äußerung, über die, im Verein mit dieser Miene, Warja heftig erschrak, fühlte er, sobald die Entzündung vorüber war und die Genesung eintrat, daß er von einem Teile seines Kummers vollständig frei geworden war. Durch diese Tat hatte er sozusagen die Scham und die Demütigung, die er[249] vorher empfunden hatte, von sich abgewaschen. Er vermochte jetzt ruhig an Alexei Alexandrowitsch zu denken. Er erkannte dessen Großmut in vollem Umfange an, fühlte sich aber selbst nicht mehr erniedrigt. Außerdem war er nun wieder in das alte Geleise zurückgekehrt, in dem sich sein Leben früher bewegt hatte. Er glaubte, den Menschen nun wieder ohne Scham in die Augen blicken zu können, und war wieder imstande, so zu leben, wie es seinen Gewohnheiten entsprach. Das einzige, was er nicht aus seinem Herzen herauszureißen vermochte, obwohl er unaufhörlich gegen dieses Gefühl ankämpfte, war der an Verzweiflung grenzende Kummer darüber, daß er Anna für immer verloren hatte. In seinem Herzen sagte er sich mit aller Bestimmtheit und Festigkeit, daß er jetzt, wo er seine Schuld ihrem Manne gegenüber gebüßt hatte, verpflichtet sei, ihr zu entsagen, und sich in Zukunft niemals zwischen die Reuige und ihren Mann stellen dürfe; aber er war nicht imstande, den Schmerz über den Verlust ihrer Liebe aus seinem Herzen zu reißen, nicht imstande, jene Augenblicke des Glückes, die er mit ihr genossen, damals aber so wenig zu schätzen gewußt hatte, aus seinem Gedächtnisse wegzuwischen, die Erinnerung daran verfolgte ihn jetzt mit ihrem ganzen zauberhaften Reize.
Serpuchowskoi war auf den Gedanken einer Versetzung Wronskis nach Taschkent gekommen, und Wronski war auf diesen ihm gemachten Vorschlag, ohne einen Augenblick zu schwanken, eingegangen. Aber je näher der Augenblick der Abreise heranrückte, um so schwerer wurde ihm das Opfer, das er dem, was er für seine Pflicht hielt, brachte.
Seine Wunde war geheilt, und er fuhr bereits häufig aus, um die nötigen Vorbereitungen für die Abreise nach Taschkent zu treffen.
›Nur ein einziges Mal noch möchte ich sie sehen, und dann will ich mich vergraben und sterben‹, dachte er und sprach, als er seine Abschiedsbesuche machte, diesen Gedanken Betsy gegenüber aus. Mit dieser Aufgabe war dann Betsy von ihm zu Anna gefahren und hatte ihm darauf ihre abschlägige Antwort übermittelt.
›Um so besser‹, dachte Wronski, als er diese Nachricht erhielt. ›Es war das eine Schwäche, die meine letzten Kräfte vernichtet haben würde.‹
Am Morgen des folgenden Tages kam Betsy selbst zu ihm und teilte ihm mit, Anna habe von Oblonski die bestimmte Nachricht erhalten, daß Alexei Alexandrowitsch in die Scheidung willige und Wronski sie daher wiedersehen dürfe.[250]
Er dachte in seiner Aufregung nicht einmal daran, Betsy aus seiner Wohnung hinauszubegleiten; er vergaß alle seine Entschlüsse; er ließ nicht fragen, wann er Anna sprechen könne und wo ihr Mann sei; – er fuhr sofort, unverzüglich zu Karenins. Er stürmte die Treppe hinauf, ohne irgend jemand oder irgend etwas zu sehen, und trat schnellen Schrittes, indem er sich nur mühsam enthielt, geradezu zu laufen, in ihr Zimmer. Und ohne daran zu denken und sich darum zu kümmern, ob sonst noch jemand im Zimmer sei oder nicht, umarmte er sie und bedeckte ihr Gesicht, ihre Hände und ihren Hals mit Küssen.
Anna hatte sich auf dieses Wiedersehen vorbereitet gehabt und überlegt, was sie ihm sagen würde; aber sie kam nicht dazu, etwas davon zu sagen; seine Leidenschaft überwältigte sie. Sie wollte ihn beruhigen, sich selbst beruhigen; aber es war schon zu spät. Seine Erregung teilte sich ihr mit. Ihre Lippen zitterten so, daß sie lange nicht zu reden vermochte.
»Ja, du hast mich erobert, ich bin dein«, brachte sie endlich hervor und drückte seine Hände gegen ihre Brust.
»So mußte es kommen!« sagte er. »Und solange wir leben, muß es so bleiben. Das weiß ich jetzt.«
»Das ist wahr«, erwiderte sie; sie wurde immer blasser und umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen. »Und doch liegt etwas Furchtbares darin, nach allem, was vorhergegangen ist.«
»Es wird alles vorübergehen, es wird alles vorübergehen, und wir werden so glücklich sein! Könnte unsere Liebe noch gesteigert werden, so würde sie gerade dadurch gesteigert werden, daß etwas Furchtbares in ihr liegt«, versetzte er, hob den Kopf in die Höhe und lächelte, so daß seine starken Zähne sichtbar wurden.
Und sie konnte nicht anders, sie mußte mit einem Lächeln antworten, nicht auf seine Worte, sondern auf seine Blicke voll heißer Liebe. Sie ergriff seine Hand und streichelte mit ihr ihre kalt gewordenen Wangen und das kurzgeschorene Haar.
»Ich erkenne dich kaum wieder mit diesem kurzen Haar. Du bist noch hübscher geworden, ein Knabe. Aber wie blaß du bist!«
»Ja, ich bin sehr schwach«, erwiderte sie lächelnd. Und ihre Lippen zitterten wieder.
»Wir reisen nach Italien; da wirst du dich schon erholen«, sagte er.
»Ist denn das möglich, daß wir wie Mann und Frau miteinander leben werden, wir beide allein als eine Familie?« sagte sie und blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen.
»Mich hat nur gewundert, daß es jemals anders sein konnte.«[251]
»Stiwa sagt, daß er (das war ihr Mann) in alles willigt; aber ich kann seine Großmut nicht annehmen«, sagte sie, indem sie nachdenklich an Wronskis Gesicht vorbeiblickte. »Ich will die Scheidung gar nicht; mir ist jetzt alles gleich. Ich weiß nur nicht, was er über Sergei beschließen wird.«
Es war ihm völlig unverständlich, wie sie in diesem Augenblick des Wiedersehens an ihren Sohn und an die Scheidung denken und davon reden konnte. War denn das jetzt nicht ganz gleichgültig?
»Sprich nicht davon, denke nicht daran«, bat er; er drehte ihre Hand in der seinigen hin und her und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; aber sie sah ihn noch immer nicht an.
»Ach, warum bin ich nicht gestorben; das wäre das beste gewesen!« sagte sie; die Tränen strömten ihr still, ohne Schluchzen, über beide Wangen. Aber sie gab sich Mühe zu lächeln, um ihn nicht zu kränken.
Eine Ablehnung der auszeichnenden Ernennung auf den gefährlichen Posten in Taschkent wäre nach Wronskis früheren Anschauungen ein schmähliches Benehmen und ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Jetzt aber trat er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, zurück und nahm, als er bemerkte, daß dieser Schritt höheren Ortes mißbilligt wurde, sofort den Abschied.
Einen Monat darauf war Alexei Alexandrowitsch mit seinem Sohn allein in der Wohnung zurückgeblieben; Anna war mit Wronski ins Ausland gereist. Eine Scheidung der Ehe war nicht erfolgt; Anna hatte sie entschieden abgelehnt.
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