[247] Es beteiligten sich an dem Rennen im ganzen siebzehn Offiziere. Das Rennen sollte auf der großen, vier Werst langen, elliptischen Bahn vor der Tribüne vor sich gehen. Auf dieser Bahn waren neun Hindernisse angebracht: das Flüßchen, eine große, anderthalb Meter hohe, feste Hürde unmittelbar vor der Tribüne, ein trockener Graben, ein Wassergraben, ein doppelter Abhang, ein irischer Wall, der eines der schwierigsten Hindernisse war, bestehend aus einem mit Reisig besteckten Walle, hinter dem sich noch ein dem Pferde nicht sichtbarer Graben befand, so daß das Pferd entweder beide Hindernisse überspringen[247] oder stürzen und sich schwer beschädigen mußte; dann noch zwei nasse Gräben und ein trockener. Das Ende der Bahn war der Tribüne gegenüber. Aber das Rennen begann nicht auf der Bahn selbst, sondern ungefähr zweihundert Meter seitwärts davon, und auf dieser Strecke befand sich das erste Hindernis: das aufgestaute Flüßchen in einer Breite von etwas mehr als zwei Metern; dieses konnten die Reiter nach ihrem Belieben entweder überspringen oder in einer Furt durchreiten.
Dreimal stellten sich die Reiter in gerader Linie auf; aber jedesmal brach das eine oder das andere Pferd vorzeitig vor, und alle mußten wieder zum Ausgangspunkte zurückreiten. Der Oberst Sestrin, ein erfahrener Starter, war schon ganz ärgerlich geworden, als er endlich zum vierten Male »Los!« rief und die Reiter sich ordnungsmäßig in Bewegung setzten.
Alle Augen, alle Operngläser waren auf das bunte Häuflein der Reiter gerichtet, als diese sich in Linie aufstellten.
»Sie sind gestartet! Sie laufen!« erscholl es nun nach der erwartungsvollen Stille von allen Seiten.
Gruppen von Fußgängern, auch einzelne, begannen von einer Stelle zur anderen zu laufen, um besser sehen zu können. Gleich im ersten Augenblick zog sich die geschlossene Reiterschar auseinander, und man konnte sehen, wie sie zu zweien, zu dreien, auch einer hinter dem anderen sich dem Flüßchen näherten. Die Zuschauer hatten den Eindruck gehabt, daß sie alle zugleich davongaloppiert waren; die Reiter aber waren sich des Sekunden betragenden Zeitunterschiedes bewußt, der für sie große Wichtigkeit hatte.
Die aufgeregte und gar zu nervöse Frou-Frou hatte den ersten Augenblick verpaßt, und mehrere Pferde hatten gleich vom Start an einen Vorsprung vor ihr; aber noch ehe sie das Flüßchen erreicht hatten, überholte Wronski, der mit aller Kraft das sich in die Zügel legende Pferd zurückhielt, mit Leichtigkeit drei seiner Vordermänner, und vor ihm blieb nur noch Machotins Fuchs Gladiator übrig, dessen Hinterteil unmittelbar vor Wronski leicht und gleichmäßig auf und nieder ging, und dann allen voraus die entzückende Diana, die den halb lebenden, halb toten Kusowlew trug.
In den ersten Augenblicken hatte Wronski weder sich noch sein Pferd in seiner Gewalt. Bis zum ersten Hindernisse, dem Flüßchen, war er nicht imstande, die Bewegungen seines Pferdes zu bestimmen.
Gladiator und Diana kamen zusammen dort an; fast im gleichen Augenblick richteten sie sich an dem Flüßchen auf und flogen nach der anderen Seite hinüber; sanft und unmerklich,[248] als wenn sie flöge, schwang sich hinter ihnen Frou-Frou in die Höhe; aber in demselben Augenblicke, da Wronski sich in der Luft fühlte, erblickte er plötzlich, fast unter den Füßen Frou-Frous, Kusowlew, der sich mit seiner Diana am anderen Ufer des Flüßchens auf dem Boden wälzte. Kusowlew hatte nach dem Sprunge die Zügel fahren lassen, und das Pferd hatte sich mit ihm überschlagen. Diese Einzelheiten erfuhr Wronski erst später; jetzt sah er nur, daß gerade unter Frou-Frous Füße, da, wo sie hintreten mußte, ein Bein oder der Kopf von Diana zu liegen kommen mußte. Aber Frou-Frou machte wie eine fallende Katze während des Sprunges eine kräftige Bewegung mit den Beinen und dem Rücken, wodurch sie einen Zusammenstoß mit dem anderen Pferde vermied, und jagte weiter.
›O du mein liebes Tierchen!‹ dachte Wronski.
Hinter dem Flüßchen hatte Wronski sein Pferd völlig in der Gewalt und begann es zurückzuhalten, da er beabsichtigte, die große Hürde erst nach Machotin zu nehmen und erst auf der folgenden, hindernisfreien Strecke von etwa vierhundert Metern zu versuchen, ob er ihn nicht überholen könne.
Die große Hürde stand unmittelbar vor der kaiserlichen Loge. Der Kaiser, der ganze Hof und die Volksmenge blickten nach ihnen, nach ihm und dem eine Pferdelänge vor ihm dahinjagenden Machotin, als sie sich dem Teufel (so wurde die feste Hürde genannt) näherten. Wronski fühlte diese Blicke, die sich von allen Seiten auf ihn richteten, aber er sah nichts als die Ohren und den Hals seines Pferdes und den Erdboden, der ihm scheinbar entgegengelaufen kam, und die Kruppe und die weißen Füße Gladiators, die schnell und taktmäßig vor ihm auf und nieder gingen und immer in derselben Entfernung von ihm blieben. Gladiator hob sich in die Höhe, sprang, ohne anzuschlagen, schwenkte den kurzen Schweif und entschwand Wronskis Blicken.
»Bravo!« rief eine Stimme.
In demselben Augenblick tauchten vor Wronskis Augen, unmittelbar vor ihm, die Bretter der Hürde auf. Ohne die geringste Veränderung seiner Bewegung hob sich das Pferd unter seinem Reiter in die Höhe, die Bretter verschwanden, und nur hinter sich hörte Wronski etwas anschlagen. Aufgeregt durch den voransprengenden Gladiator, hatte sich das Pferd vor der Hürde zu früh gehoben und mit einem Hinterfuße dagegen geschlagen. Aber sein Tempo änderte sich nicht, und Wronski, der ein Schmutzklümpchen ins Gesicht bekommen hatte, nahm wahr, daß er sich wieder in derselben Entfernung von Gladiator befand. Er sah wieder dessen Kruppe und kurzen Schweif vor sich,[249] wieder dieselben sich nicht entfernenden, in schneller Bewegung begriffenen weißen Füße.
In demselben Augenblicke, als Wronski dachte, daß es jetzt an der Zeit sein dürfte, Machotin zu überholen, beschleunigte Frou-Frou von selbst, als ob sie seine Gedanken erraten hätte, ohne jede Aufmunterung ihren Lauf erheblich und begann sich Machotin zu nähern, und zwar von der vorteilhaftesten Seite, von der Strickseite. Aber Machotin gab die Strickseite nicht frei. Kaum regte sich bei Wronski der Gedanke, daß es möglich wäre, ihn auch auf der Außenseite zu überholen, als Frou-Frou auch schon den Fuß wechselte und das Überholen gerade auf diese Weise versuchte. Frou-Frous Schulter, die schon vom Schweiße eine dunklere Färbung annahm, kam in gleiche Linie mit Gladiators Kruppe. Einige Sprünge liefen sie nebeneinanderher. Aber vor dem Hindernis, dem sie sich jetzt näherten, begann Wronski, um nicht einen großen Kreis beschreiben zu müssen, mit den Zügeln zu arbeiten und überholte Machotin schnell gerade auf dem Doppelabhang. Er sah für einen Augenblick dessen von Schmutz bespritztes Gesicht. Es kam ihm sogar vor, als ob er lächle. Wronski hatte Machotin überholt; aber er fühlte ihn sofort hinter sich und hörte unaufhörlich nahe hinter seinem Rücken den gleichmäßigen Galopp und die noch ganz frisch klingenden Atemstöße Gladiators.
Die beiden folgenden Hindernisse, der Graben und die Hürde, wurden mit Leichtigkeit genommen; aber Wronski hörte das Schnauben und die Sätze Gladiators aus noch größerer Nähe. Er trieb sein Pferd an und spürte mit Freude, daß es ohne Mühe seinen Lauf beschleunigte und der Schall der Hufschläge Gladiators wieder aus der früheren Entfernung kam.
Wronski führte das Rennen, genau wie es seine Absicht gewesen war und wie es ihm Cord geraten hatte, und jetzt fühlte er sich seines Erfolges sicher. Seine Erregung, seine Freude und seine Zärtlichkeit für Frou-Frou wuchsen immer mehr. Gern hätte er sich umgesehen; aber er wagte nicht, dies zu tun, und war darauf bedacht, seine Ruhe wiederzugewinnen und das Pferd nicht anzutreiben, um ihm einen ebenso großen Vorrat an Kraft zu erhalten, wie ihn nach seiner Überzeugung Gladiator noch besaß. Es blieb noch ein besonders schwieriges Hindernis übrig; nahm er dieses früher als die anderen, so kam er als erster ans Ziel. Er jagte dem irischen Walle zu. Gleichzeitig mit Frou-Frou erblickte er diesen Wall schon von fern, und im selben Augenblick stieg in ihnen beiden, in ihm und dem Pferde, ein kurzer Zweifel auf. Er merkte an den Ohren des Pferdes eine gewisse Unentschlossenheit und hob die Peitsche, fühlte[250] aber sofort, daß sein Zweifel unbegründet war: das Pferd wußte, was es zu tun hatte. Es erhöhte sein Tempo, und im gleichen Takte, genau wie der Reiter es sich vorausgedacht hatte, hob es sich in die Höhe, stieß sich von der Erde ab und überließ sich dem Beharrungsvermögen, durch das es weit über den Graben hinweggetragen wurde; und in ganz demselben Takte, ohne Anstrengung, mit demselben Fuße, jagte Frou-Frou weiter.
»Bravo, Wronski!« riefen ihm mehrere Stimmen aus einer Gruppe von Herren zu (er wußte, daß es Freunde aus seinem Regimente waren), die sich an diesem Hindernisse aufgestellt hatten. Er hörte unverkennbar Jaschwins Stimme heraus, sah ihn aber nicht.
›O du mein prächtiges Tier!‹ sagte er in seinem Inneren zu Frou-Frou und horchte dabei auf das hin, was hinter ihm vorging. ›Er ist hinübergekommen!‹ dachte er, als er Gladiators Hufschläge wieder hinter sich hörte. Jetzt war nur noch der letzte, anderthalb Meter breite Wassergraben übrig. Wronski blickte nicht einmal danach hin; aber in dem Wunsche, mit einem erheblichen Vorsprunge Erster zu werden, begann er mit den Zügeln kreisförmig zu arbeiten, indem er im Takte der Sätze den Kopf des Pferdes hob und senkte. Er fühlte, daß Frou-Frou den Lauf aus ihrem letzten Kräftevorrat bestritt; nicht nur ihr Hals und ihre Schultern waren naß, sondern auch am Widerrist, am Kopfe und an den spitzen Ohren saßen dicke Schweißtropfen, und sie atmete scharf und kurz. Aber er wußte, daß dieser Kräftevorrat für die noch übrigen vierhundert Meter völlig ausreichte. Nur daran, daß er sich dem Erdboden näher fühlte, und an der besonderen Weichheit der Bewegung merkte Wronski, wie sehr die Stute ihre Geschwindigkeit gesteigert hatte. Den Graben überflog sie, als ob sie ihn gar nicht bemerkte. Sie flog darüber hin wie ein Vogel; aber im selben Augenblicke fühlte Wronski zu seinem Schrecken, daß er sich der Bewegung des Pferdes nicht angepaßt, sondern – er wußte selbst nicht, wie es zugegangen war – eine abscheulich ungeschickte, unverzeihliche Bewegung gemacht, sich in den Sattel hatte zurückfallen lassen. Plötzlich änderte sich die Lage seines Körpers, und er begriff, daß sich etwas Furchtbares ereignet hatte. Er war noch nicht imstande, sich über das Geschehene klare Rechenschaft zu geben, als bereits dicht neben ihm die weißen Füße des Fuchshengstes auftauchten und Machotin in schnellem Galopp vorbeiflog. Wronski berührte mit dem einen Fuß die Erde, und sein Pferd sank über diesen Fuß nieder. Kaum hatte er Zeit gehabt, den Fuß herauszuziehen, als Frou-Frou auch schon auf eine Seite fiel, schwer röchelte und mit ihrem feinen, schweißbedeckten[251] Halse vergebliche Anstrengungen machte, sich aufzurichten; sie schlug auf der Erde zu seinen Füßen um sich wie ein angeschossener Vogel. Durch seine ungeschickte Bewegung hatte Wronski ihr das Rückgrat gebrochen. Aber zum Verständnis dieses Herganges kam er erst weit später. Jetzt sah er nur, daß Machotin sich schnell entfernte, er selbst aber taumelnd, allein, auf der schmutzigen, unbeweglichen Erde dastand und vor ihm, schwer atmend, Frou-Frou lag und, den Kopf zu ihm hin drehend, ihn mit ihrem wundervollen Auge ansah. Immer noch ohne Verständnis des Geschehenen, riß Wronski die Stute am Zügel. Von neuem machte sie mit dem ganze Leibe krampfhafte Bewegungen wie ein Fisch, so daß die Sattelflügel knarrten; die Vorderfüße bekam sie frei; aber nicht imstande, das Hinterteil in die Höhe zu heben, kam sie sofort ins Schwanken und fiel wieder auf die Seite. Das Gesicht von Leidenschaft ganz entstellt, bleich und mit zitterndem Unterkiefer, stieß Wronski sie mit dem Stiefelabsatz gegen den Leib und begann von neuem am Zügel zu zerren. Aber sie bewegte sich nicht, drückte die Nase gegen die Erde und sah nur mit ihrem sprechenden Blicke ihren Herrn an.
»Aaah!« kam es bei Wronski wie ein Gebrüll heraus, und er griff sich an den Kopf. »Aaah! Was habe ich getan!« schrie er. »Und das Rennen habe ich verloren! Und es ist meine Schuld, meine eigene, schmähliche, unverzeihliche Schuld! Und dieses unglückliche, liebe, zugrunde gerichtete Pferd! Aaah! Was habe ich getan!«
Eine Menge Zuschauer, auch ein Arzt und ein Heilgehilfe sowie viele Offiziere seines Regiments kamen herbeigelaufen. Zu seinem Unglück fühlte er, daß er heil und unverletzt war. Das Pferd hatte sich den Rücken gebrochen und mußte erschossen werden. Wronski war nicht imstande, auf Fragen zu antworten und konnte mit niemandem sprechen. Er wandte sich ab, und ohne seine Mütze aufzuheben, die ihm vom Kopfe gefallen war, ging er aus der Rennbahn weg, er wußte selbst nicht, wohin. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er ein schweres, schweres Unglück durchzumachen, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück und ein Unglück, an dem er selbst schuld war.
Jaschwin holte ihn mit der Mütze ein, begleitete ihn nach Hause, und nach einer halben Stunde erlangte Wronski seine Fassung wieder. Aber die Erinnerung an dieses Rennen blieb lange in seiner Seele die drückendste und quälendste seines Lebens.[252]
Buchempfehlung
Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.
266 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro