26

[253] Alexei Alexandrowitschs äußeres Verhältnis zu seiner Frau war dasselbe geblieben wie vorher. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er durch seine amtliche Tätigkeit noch stärker in Anspruch genommen war als früher. Wie in den vorhergehenden Jahren war er auch diesmal beim Beginn des Frühjahrs in ein ausländisches Bad gereist, um seine Gesundheit wiederherzustellen, die durch die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende winterliche Arbeit angegriffen war. Und wie gewöhnlich war er im Juli zurückgekehrt und hatte sich sofort mit doppelter Tatkraft wieder an seine gewohnte Arbeit gemacht. Und wie gewöhnlich war seine Frau in die Sommerfrische übergesiedelt, während er in Petersburg geblieben war.

Seit jenem Gespräch nach der Abendgesellschaft bei der Fürstin Twerskaja hatte er mit Anna nie wieder von seinem Verdachte und von seiner Eifersucht geredet, und sein gewöhnlicher Ton, durch den er andere Menschen nachahmte und verspottete, paßte in der denkbar besten Weise zu seinem jetzigen Verhältnis zu seiner Frau. Er benahm sich etwas kühler gegen sie. Es schien, als wäre er nur ein klein wenig unzufrieden mit ihr wegen jenes ersten nächtlichen Gespräches, das sie abgelehnt hatte. In der Art, wie er mit ihr verkehrte, lag eine leise Spur von Verdrossenheit, aber nicht mehr. ›Du hast dich mit mir nicht aussprechen wollen‹, sagte er gleichsam in Gedanken zu ihr, ›nun hast du davon den Schaden. Jetzt wirst du bald kommen und mich bitten; aber dann werde ich auf keine Aussprache mehr eingehen. Nun, wie du willst!‹ sagte er in Gedanken, wie wenn jemand nach vergeblichen Versuchen, einen Brand zu löschen, über die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen ärgerlich würde und zu dem brennenden Gegenstande sagte: ›Na, da hast du's; nun verbrennst du durch deine Schuld!‹

Er, dieser kluge und in dienstlichen Angelegenheiten so scharfsinnige Mann, begriff nicht, wie sinnlos ein solches Verhältnis zu seiner Frau war. Er begriff das nicht, weil er sich geradezu davor fürchtete, seine jetzige Lage zu verstehen, und in seiner Seele den Schubkasten, in dem sich sein Familiensinn befand, das heißt seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn, zugemacht, verschlossen und versiegelt hatte. Er, sonst ein so sorgsamer Vater, war seit dem Ende dieses Winters sehr kühl gegen seinen Sohn geworden und bediente sich ihm gegenüber desselben höhnischen Tones wie seiner Frau gegenüber. ›Nun, junger Mann?‹ pflegte er ihn anzureden.

Alexei Alexandrowitsch glaubte und sprach das auch aus, daß[253] er noch in keinem Jahre amtlich so viel zu tun gehabt habe wie in diesem; aber er gestand sich nicht ein, daß er in diesem Jahre sich allerlei mühsame Geschäfte selbst erst aussann und daß dies eines der Mittel war, um jenes Fach nicht öffnen zu müssen, in dem seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn und seine Gedanken über diese beiden lagen und ihm, je länger sie dort lagen, um so furchtbarer wurden. Hätte jemand das Recht gehabt, Alexei Alexandrowitsch zu fragen, was er über das Betragen seiner Frau denke, so würde der sanfte, friedliche Alexei Alexandrowitsch nichts darauf geantwortet haben, wohl aber sehr zornig auf den Menschen geworden sein, der eine solche Frage an ihn gerichtet hätte. Aus ebendiesem Grunde nahm auch Alexei Alexandrowitschs Gesicht eine Miene stolzer, strenger Ablehnung an, wenn sich jemand bei ihm nach dem Befinden seiner Frau erkundigte. Er wollte an das Verhalten und an die Gefühle seiner Frau nicht denken und dachte auch wirklich nicht daran.

Das Landhaus, das Alexei Alexandrowitsch dauernd gemietet hatte, lag in Peterhof, und gewöhnlich verlebte auch die Gräfin Lydia Iwanowna den Sommer an demselben Orte, in Annas Nachbarschaft und in beständigem Verkehr mit ihr. Aber in diesem Jahre hatte die Gräfin Lydia Iwanowna darauf verzichtet, in Peterhof zu wohnen, war auch nicht ein einziges Mal bei Anna Arkadjewna zu Besuch gewesen und hatte Alexei Alexandrowitsch gegenüber auf die Unschicklichkeit von Annas engem Verkehr mit Betsy und Wronski andeutend hingewiesen. Alexei Alexandrowitsch hatte sie in scharfem Tone unterbrochen, seine Ansicht dahin ausgesprochen, seine Frau stehe über jedem Verdachte, und war seitdem einem Zusammentreffen mit der Gräfin Lydia Iwanowna aus dem Wege gegangen. Er wollte nicht sehen und sah wirklich nicht, daß in der Gesellschaft bereits viele Leute scheel auf seine Frau blickten; er wollte nicht begreifen und begriff wirklich nicht, warum seine Frau mit so besonderem Eifer gewünscht hatte, lieber nach Zarskoje Selo überzusiedeln, wo Betsy wohnte und von wo das Lager des Wronskischen Regiments nicht weit entfernt war. Er gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, und dachte auch wirklich nicht darüber nach; aber obgleich er es in seinem tiefsten Innern niemals gegen sich selbst aussprach und keinerlei Beweise, ja nicht einmal Verdachtsgründe dafür hatte, war er doch mit zweifelloser Sicherheit davon überzeugt, daß er ein betrogener Ehemann war, und war darüber tief unglücklich.

Wie oft hatte Alexei Alexandrowitsch während seines achtjährigen glücklichen Zusammenlebens mit seiner Frau im Hinblick[254] auf fremde treulose Ehefrauen und betrogene Ehemänner bei sich selbst gesagt: ›Wie kann man es nur so weit kommen lassen? Wie kann man nur eine so greuliche Lage fortdauern lassen, statt ihr mit starker Hand ein Ende zu machen?‹ Aber jetzt, wo dieses Unglück sein eigenes Haupt betroffen hatte, dachte er nicht daran, dieser Lage ein Ende zu machen, ja, er wollte sie überhaupt nicht kennen, wollte sie ebendeshalb nicht kennen, weil sie gar zu schrecklich, gar zu widernatürlich war.

Seit seiner Rückkehr aus dem Auslande war Alexei Alexandrowitsch zweimal im Landhause gewesen. Das eine Mal hatte er dort zu Mittag gegessen, das andere Mal einen Abend mit Gästen dort verlebt; aber übernachtet hatte er dort nie, was er doch in früheren Jahren zu tun gewohnt gewesen war.

Der Tag des Rennens war für Alexei Alexandrowitsch besonders stark besetzt; er hatte sich schon am Morgen einen genauen Tagesplan entworfen und beschlossen, gleich nach einem frühen Mittagessen zu seiner Frau nach dem Landhause zu fahren und von dort zum Rennen, für welches das Erscheinen des ganzen Hofes angesagt war und bei dem er daher auch anwesend sein mußte. Zu seiner Frau wollte er deswegen heranfahren, weil er sich vorgenommen hatte, sie des Anstandes wegen einmal in der Woche zu besuchen. Außerdem mußte er ihr an diesem Tage, als dem fünfzehnten des Monats, der eingeführten Ordnung gemäß das Wirtschaftsgeld einhändigen.

Wie gewöhnlich hielt er seine Gedanken in strenger Zucht und gestattete ihnen, während er das alles in bezug auf seine Frau überlegte, nicht, sich über diese Grenze hinaus mit Dingen, die seine Frau betrafen, zu beschäftigen.

Den Vormittag über hatte Alexei Alexandrowitsch außerordentlich viel zu tun. Tags zuvor hatte ihm die Gräfin Lydia Iwanowna eine Schrift eines berühmten, zur Zeit sich in Petersburg aufhaltenden Chinareisenden zugesandt, nebst einem Briefe, in dem sie ihn bat, den Reisenden, als einen in vieler Hinsicht interessanten und wertvollen Mann, persönlich zu empfangen. Alexei Alexandrowitsch hatte am Abend nicht mehr Zeit gehabt, die Schrift ganz durchzulesen, und las sie nun am Morgen zu Ende. Dann erschienen Bittsteller; es begannen die Vorträge, die Empfänge, die Beschlußfassung über Ernennung und Absetzung von Beamten, über zu erteilende Gratifikationen, Pensionen, Gehälter; dann mußte mancherlei Briefwechsel erledigt werden: lauter Handwerksarbeit, wie Alexei Alexandrowitsch sich ausdrückte, die sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Darauf folgte eine persönliche Angelegenheit: der Besuch seines[255] Arztes und der seines Geschäftsführers. Dieser nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Der Geschäftsführer übergab ihm nur die nötigen Gelder und erstattete einen kurzen Rechenschaftsbericht über den Stand der Vermögensangelegenheiten; dieser Stand war nicht besonders erfreulich, da im letzten Jahre infolge der häufigen Reisen die Ausgaben ungewöhnlich groß gewesen waren, so daß sich ein Fehlbetrag ergab. Dagegen nahm der Arzt, der einer der angesehensten in Petersburg und mit Alexei Alexandrowitsch persönlich befreundet war, recht viel Zeit in Anspruch. Alexei Alexandrowitsch hatte ihn an diesem Tage gar nicht erwartet und war über sein Erscheinen erstaunt und noch mehr darüber, daß der Arzt ihn sehr eingehend über seinen Gesundheitszustand ausfragte, seine Brust behorchte und seine Leber beklopfte und befühlte. Alexei Alexandrowitsch wußte nicht, daß seine Freundin Lydia Iwanowna auf Grund ihrer Wahrnehmung, daß Alexei Alexandrowitschs Gesundheit in diesem Jahre gar nicht gut sei, den Arzt gebeten hatte, doch einmal zu ihm zu fahren und den Kranken zu untersuchen. ›Tun Sie es um meinetwillen!‹ hatte die Gräfin Lydia Iwanowna gesagt.

›Ich werde es um Rußlands willen tun, Gräfin‹, hatte der Arzt erwidert.

›Ja, er ist ein unschätzbarer Mann!‹ hatte die Gräfin ausgerufen.

Der Arzt war mit Alexei Alexandrowitsch sehr unzufrieden. Er fand, daß die Leber bedeutend vergrößert, die Ernährung vermindert und der Erfolg der Badekur gleich Null sei. Er verordnete ihm möglichst viel körperliche Bewegung und möglichst wenig geistige Anstrengung und vor allen Dingen Vermeidung aller Aufregung, also gerade etwas, was für Alexei Alexandrowitsch ebenso unmöglich war wie die Unterlassung des Atemholens. Und als der Arzt sich entfernt hatte, blieb Alexei Alexandrowitsch mit dem unangenehmen Bewußtsein zurück, daß irgend etwas mit ihm nicht richtig sei und daß es dafür keine Heilung gebe.

Als der Arzt von Alexei Alexandrowitsch weggegangen war, stieß er auf den Stufen vor der Haustür mit dem ihm wohlbekannten Herrn Sljudin, dem Subdirektor Alexei Alexandrowitschs, zusammen. Sie kannten sich von der Universität her, und obgleich sie jetzt nur selten miteinander zusammenkamen, schätzten sie sich doch wechselseitig sehr und waren gute Freunde; und darum sprach der Arzt zu Sljudin seine Meinung über den Patienten offenherziger aus, als er es irgendeinem anderen gegenüber getan haben würde.[256]

»Wie freue ich mich, daß Sie bei ihm gewesen sind«, sagte Sljudin. »Er ist nicht recht gesund, und mir scheint ... Nun, wie steht es?«

»Die Sache ist die«, antwortete der Arzt und winkte über Sljudins Kopf hinweg seinem Kutscher zu, er möchte vorfahren, »die Sache ist die«, sagte er noch einmal, indem er einen Finger eines seiner Glacéhandschuhe mit seinen beiden weißen Händen faßte und straff zog, »wenn Sie eine Saite nicht spannen und sie in diesem Zustand zu zerreißen versuchen, so ist das sehr schwer; aber spannen Sie sie bis zum äußersten Grade der Möglichkeit an und üben Sie dann nur einen mäßigen Druck mit dem Finger aus, so wird sie reißen. Und er bei seiner unausgesetzten Tätigkeit, bei seiner Gewissenhaftigkeit im Arbeiten, er ist bis zum äußersten Grade angespannt, und ein anderweitiger Druck ist vorhanden, und zwar ein recht schwerer Druck«, schloß der Arzt und zog dabei die Brauen bedeutsam in die Höhe. »Werden Sie bei dem Rennen sein?« fügte er hinzu, während er in den Wagen stieg, der inzwischen vorgefahren war. »Ja, ja, selbstverständlich, es raubt einem viel Zeit«, antwortete er noch auf etwas, was Sljudin gesagt, er selbst aber nicht mehr deutlich verstanden hatte.

Nach dem Arzte, dessen Besuch soviel Zeit gekostet hatte, erschien der berühmte Reisende, und Alexei Alexandrowitsch, der sowohl seine früheren Kenntnisse von diesem Gegenstande wie auch die soeben beim Lesen der Schrift neugewonnenen im Gespräche verwertete, überraschte den Reisenden durch sein tiefes Wissen auf diesem Gebiete und durch seinen weitreichenden, klaren Blick für diese Dinge.

Zugleich mit dem Reisenden wurde ihm auch der Besuch eines Gouvernements-Adelsmarschalls gemeldet, der nach Petersburg gekommen war und mit dem er verhandeln mußte. Nachdem dieser wieder gegangen war, mußte die ›Handwerksarbeit‹ mit dem Subdirektor zu Ende geführt werden, und dann mußte sich Alexei Alexandrowitsch noch wegen einer sehr ernsten, wichtigen Sache zu einer hochgestellten Persönlichkeit begeben. Er brachte es nur mit Mühe fertig, um fünf Uhr, der von ihm für das Mittagessen festgesetzten Zeit, zurück zu sein, und nachdem er mit seinem Subdirektor zusammen gespeist hatte, lud er diesen ein, mit ihm nach dem Landhause und zum Rennen zu fahren.

Ohne sich selbst über den Grund dieser Handlungsweise Rechenschaft abzulegen, suchte Alexei Alexandrowitsch es jetzt immer so einzurichten, daß er mit seiner Frau nur in Gegenwart eines Dritten zusammen war.[257]

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 1, S. 253-258.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon