[258] Anna stand im oberen Stockwerk vor dem Spiegel und steckte mit Annuschkas Hilfe die letzte Schleife an ihr Kleid, als sie vor der Haustür das knirschende Geräusch von Rädern auf dem Kies hörte.
›Für Betsy ist es noch zu früh‹, dachte sie, sah durch das Fenster und erblickte den Wagen, aus dem eben Alexei Alexandrowitsch seinen Kopf mit dem schwarzen Hute und den ihr so wohlbekannten Ohren heraussteckte. ›Das kommt mir unerwünscht; er wird doch nicht die Nacht über hierbleiben?‹ dachte sie, und alle die Folgen, die das haben konnte, erschienen ihr so entsetzlich und furchtbar, daß sie, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit heiterem, strahlendem Gesichte aus dem Zimmer den beiden Herren entgegenging; sie fühlte, daß der ihr schon wohlbekannte Geist der Lüge und des Truges in ihr wieder lebendig wurde, überließ sich sofort seinen Eingebungen und begann zu reden, ohne selbst zu wissen, was sie sagen werde.
»Ah, das ist einmal nett!« sagte sie, reichte ihrem Manne die Hand und begrüßte Sljudin als einen Freund des Hauses mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hoffe, du bleibst über Nacht hier?« das waren die ersten Worte, die ihr der Geist des Truges zuflüsterte, »und jetzt wollen wir zusammen zum Rennen fahren. Nur schade, daß ich mich mit Betsy verabredet habe. Sie will mich abholen.«
Alexei Alexandrowitsch runzelte bei dem Namen Betsy die Stirn.
»Oh, ich werde die Unzertrennlichen nicht trennen«, antwortete er in seinem gewöhnlichen scherzenden Tone. »Ich werde mit Michail Wasiljewitsch zusammen fahren. Auch ist mir ärztlicherseits empfohlen worden, recht viel zu gehen; ich werde also unterwegs aussteigen und eine Strecke zu Fuß gehen und mir dabei vorstellen, daß ich noch im Badeort sei.«
»Wir haben noch viel Zeit«, sagte Anna. »Wünschen die Herren nicht eine Tasse Tee?«
Sie klingelte.
»Bringen Sie Tee und sagen Sie zu Sergei, daß Alexei Alexandrowitsch gekommen ist. Nun, wie steht es denn mit deiner Gesundheit? Michail Wasiljewitsch, Sie sind in diesem Jahre noch nie bei mir hier draußen gewesen; sehen Sie nur, wie schön es auf meiner Terrasse ist«, sagte sie, sich bald an den einen, bald an den andern wendend.
Sie sprach ungezwungen und natürlich, aber zu viel und zu[258] schnell. Sie fühlte das selbst und um so mehr, da sie an dem forschenden Blicke, mit dem Michail Wasiljewitsch sie ansah, merkte, daß er sie beobachtete.
Michail Wasiljewitsch trat sogleich auf die Terrasse hinaus.
Sie setzte sich neben ihren Mann.
»Du siehst nicht recht wohl aus«, sagte sie zu ihm.
»Ja«, antwortete er, »heute ist der Arzt bei mir gewesen und hat mir eine Stunde Zeit geraubt. Es kommt mir vor, als hätte ihn einer meiner Freunde zu mir geschickt; so kostbar ist ihnen meine Gesundheit.«
»Und was hat er gesagt?«
Sie fragte ihn allerlei über seine Gesundheit und über seine Tätigkeit und redete ihm zu, sich mehr Erholung zu gönnen und zu ihr in die Sommerfrische herauszuziehen.
Alles dies sagte sie schnell und in heiterem Tone und mit einem besonderen Glanze in den Augen; aber Alexei Alexandrowitsch maß diesem Tone jetzt keine Bedeutung bei. Er hörte nur ihre Worte und faßte sie nur in ihrem natürlichen Sinne auf. Er antwortete ihr ungezwungen, wenn auch in seiner scherzhaften Art. Dieses ganze Gespräch hatte keine besondere Eigentümlichkeit; aber in der Folgezeit konnte Anna an diese kurze Begebenheit nie ohne ein schmerzhaftes, peinliches Gefühl der Scham zurückdenken.
Der kleine Sergei kam, von seiner Gouvernante geführt, herein. Hätte Alexei Alexandrowitsch es sich nicht zum Grundsatz gemacht gehabt, keine Beobachtungen anzustellen, so würde er den scheuen, verlegenen Blick bemerkt haben, mit dem der Knabe zuerst den Vater und dann die Mutter ansah. Aber er wollte nichts sehen und sah auch wirklich nichts.
»Ah, junger Mann! Er ist gewachsen. Wahrhaftig, er wird ordentlich schon ein Mann. Guten Tag, junger Mann!«
Er reichte dem erschrockenen Kinde die Hand.
Sergei hatte sich auch früher schon immer dem Vater gegenüber sehr schüchtern benommen; jetzt nun gar, wo Alexei Alexandrowitsch angefangen hatte, ihn »junger Mann« zu nennen, und wo er die Rätselfrage in seinem Kopfe herumwälzte, ob Wronski ein Freund oder ein Feind sei, jetzt hatte er sich dem Vater ganz und gar entfremdet. Wie schutzflehend sah er sich nach der Mutter um. Nur bei der Mutter fühlte er sich wohl. Alexei Alexandrowitsch knüpfte ein Gespräch mit der Gouvernante an und hielt währenddessen seinen Sohn an der Schulter gefaßt, was diesem entsetzlich unbehaglich war; Anna sah, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen.
Als Anna, die bei Sergeis Eintritt errötet war, jetzt bemerkte,[259] wie unbehaglich sich der Knabe fühlte, sprang sie schnell auf, hob Alexei Alexandrowitschs Hand von der Schulter ihres Sohnes weg, küßte ihren Sohn, führte ihn auf die Terrasse und kehrte sofort wieder zurück.
»Nun wird es aber Zeit«, bemerkte sie nach einem Blicke auf ihre Uhr. »Warum nur Betsy nicht kommt? ...«
»Ja«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er aufstand, die Finger durcheinanderschob und knacken ließ. »Ich bin auch noch deshalb hergekommen, um dir Geld zu bringen, da nach dem Sprichworte auch eine Nachtigall vom bloßen Singen nicht satt wird. Ich denke, du wirst welches brauchen.«
»Nein, ich brauche noch kein Geld wieder ... oder doch, ja«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen, und errötete dabei bis an die Haarwurzeln. »Aber ich denke, du wirst nach dem Rennen doch noch wieder herkommen?«
»O gewiß!« erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Da ist ja auch die Zierde von Peterhof, die Fürstin Twerskaja«, fügte er hinzu, als er bei einem Blicke durch das Fenster ein englisches Geschirr mit außerordentlich hoch angebrachtem, winzigem Wagenkasten bemerkte. »Was für eine Pracht! Entzückend! Nun, dann wollen wir auch abfahren.«
Die Fürstin Twerskaja stieg nicht aus; nur ihr Lakai in Gamaschen, Pelerine und schwarzem Hut sprang an der Haustür ab.
»Ich gehe, auf Wiedersehen!« sagte Anna, küßte ihren Sohn, trat zu Alexei Alexandrowitsch hin und reichte ihm die Hand. »Es war sehr liebenswürdig von dir, daß du hergekommen bist.«
Alexei Alexandrowitsch küßte ihr die Hand.
»Nun, dann auf Wiedersehen! Du kommst also nachher noch einmal, um mit mir Tee zu trinken. Das ist ja prächtig!« rief sie heiter und strahlend beim Hinausgehen. Aber sobald sie ihn nicht mehr sah, fühlte sie auf ihrer Hand nach der Stelle, die seine Lippen berührt hatten, und zuckte wie vor Ekel zusammen.
Buchempfehlung
In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«
340 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro