XIV

[545] Der Morgen kam heran und brachte das gewöhnliche geschäftige Treiben. Alle standen auf, bewegten sich durcheinander und redeten miteinander; wieder kamen Modistinnen, und wie immer erschien Marja Dmitrijewna und rief zum Tee. Natascha sah mit weitgeöffneten Augen, wie wenn sie jeden auf sie gerichteten Blick auffangen wollte, unruhig einen nach dem andern an und gab sich Mühe, so zu scheinen, wie sie immer gewesen war.

Nach dem Frühstück (dies war ihr die angenehmste Zeit) setzte sich Marja Dmitrijewna in ihren Lehnstuhl und ließ Natascha und den alten Grafen zu sich rufen.

»Na also, meine Freunde«, begann sie, »jetzt habe ich die ganze Sache überdacht, und nun sollt ihr meinen Rat haben. Wie ihr wißt, war ich gestern bei dem Fürsten Nikolai; na ja, ich habe mit ihm geredet ... Er ließ sich beikommen, mich anzuschreien. Aber überschreien lasse ich mich nicht! Ich habe ihm gehörig meine Meinung gesagt!«

»Und wie hat er sich dazu gestellt?« fragte der Graf.[545]

»Wie er sich dazu gestellt hat? Er ist ein Querkopf, will auf nichts hören; na, aber wozu sollen wir weiter darüber reden; wir haben das arme Mädchen so schon genug gequält«, sagte Marja Dmitrijewna. »Mein Rat ist nun aber der: erledigt hier eure Geschäfte und fahrt nach Hause, nach Otradnoje, und wartet dort das weitere ab ...«

»Ach nein!« rief Natascha.

»Doch, doch! Fahrt nach Hause und wartet dort das weitere ab«, sagte Marja Dmitrijewna noch einmal. »Wenn der Bräutigam jetzt während eurer Anwesenheit hier eintrifft, so ist ein arger Zank unvermeidlich; wenn er aber mit dem Alten hier allein ist, so kann er alles mit ihm besprechen und dann zu euch kommen.«

Ilja Andrejewitsch stimmte diesem Vorschlag bei, da er ihn sofort als einen durchaus verständigen erkannte. Wenn der alte Fürst sich milder stimmen ließ, so konnten sie später mit besserer Aussicht auf Erfolg entweder wieder nach Moskau oder auch nach Lysyje-Gory zu ihm fahren; wenn nicht, so konnte eine wider seinen Willen stattfindende Trauung nur in Otradnoje vollzogen werden.

»Das ist durchaus richtig«, sagte er. »Es tut mir nur leid, daß ich ihn überhaupt hier aufgesucht und ihm meine Tochter zugeführt habe.«

»Nicht doch! Das brauchst du dir nicht leid sein zu lassen. Da ihr einmal hier wart, mußtet ihr ihm notwendig eure Aufwartung machen. Aber wenn er nun nicht will, so ist das seine Sache«, erwiderte Marja Dmitrijewna, während sie etwas in ihrem Ridikül suchte. »Die Aussteuer ist ja auch in der Hauptsache fertig; worauf wollt ihr noch warten? Und was noch nicht fertig ist, das schicke ich euch hin. Es tut mir zwar leid, euch nicht länger bei mir zu haben; aber es ist das beste; also reist mit Gott.«[546]

Als sie in ihrem Ridikül gefunden hatte, was sie suchte, reichte sie es Natascha hin; es war ein Brief von Prinzessin Marja.

»Sie schreibt an dich. Wie sie sich mit ihren Gedanken quält, die Ärmste! Sie fürchtet, du könntest denken, daß sie dich nicht lieb hätte.«

»Sie hat mich auch nicht lieb«, entgegnete Natascha.

»Unsinn! Rede nicht so etwas!« rief Marja Dmitrijewna.

»Das soll mir niemand einreden; ich weiß, daß sie mich nicht lieb hat«, erwiderte Natascha dreist, indem sie den Brief hinnahm, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck einer kalten, ingrimmigen Entschlossenheit an, wodurch sich Marja Dmitrijewna veranlaßt sah, sie schärfer anzublicken und die Stirn zu runzeln.

»So darfst du nicht antworten, mein Kind«, sagte sie. »Was ich sage, ist die Wahrheit. Du mußt ihr auf ihren Brief eine Erwiderung schreiben.«

Natascha antwortete nicht und ging auf ihr Zimmer, um den Brief der Prinzessin Marja zu lesen.

Prinzessin Marja schrieb, sie sei in Verzweiflung über das zwischen ihnen vorgefallene Mißverständnis. Welches auch die Gefühle ihres Vaters sein möchten, schrieb Prinzessin Marja, so bäte sie doch Natascha zu glauben, daß ihr Herz sie antreibe, sie als die Auserwählte ihres Bruders zu lieben, für dessen Glück sie jedes Opfer zu bringen bereit sei.

»Glauben Sie übrigens nicht«, schrieb sie, »daß mein Vater Ihnen abgeneigt wäre. Er ist ein kranker, alter Mann, mit dem man Nachsicht haben muß; aber er ist gut und großherzig und wird diejenige, die seinen Sohn glücklich macht, lieben.« Ferner bat Prinzessin Marja, Natascha möchte eine Zeit bestimmen, wo sie einander wiedersehen könnten.

Nachdem Natascha den Brief durchgelesen hatte, setzte sie sich[547] an den Schreibtisch, um eine Antwort zu schreiben. Schnell und mechanisch schrieb sie die Überschrift »Teure Prinzessin!« hin; aber dann hielt sie inne. Was konnte sie nach dem, was gestern geschehen war, noch weiterschreiben? »Ja, ja, das ist alles einmal gewesen, und jetzt ist alles anders«, dachte sie, während sie über den angefangenen Brief gebeugt dasaß. »Ich muß ihm eine Absage schreiben. Muß ich das wirklich? Es ist furchtbar ...!« Und um von diesen entsetzlichen Gedanken loszukommen, ging sie zu Sonja und suchte mit ihr Stoffmuster aus.

Nach dem Mittagessen begab sich Natascha wieder auf ihr Zimmer und nahm von neuem den Brief der Prinzessin Marja zur Hand. »Ist alles wirklich jetzt schon zu Ende?« dachte sie. »Hat sich das alles wirklich so schnell zugetragen und alles Frühere vernichtet?« Sie rief sich ihre Liebe zum Fürsten Andrei in all ihrer früheren Kraft ins Gedächtnis zurück und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß sie Kuragin liebte. Sie stellte es sich lebhaft vor, wie sie die Frau des Fürsten Andrei sein würde; sie vergegenwärtigte sich das Bild des Glückes an seiner Seite, das ihre Einbildungskraft ihr so oft schon vorgeführt hatte; und gleichzeitig erinnerte sie sich, vor Aufregung erglühend, an alle Einzelheiten ihres gestrigen Zusammenseins mit Anatol.

»Aber warum könnte nicht beides zugleich sein?« fragte sie sich ab und zu in völliger Geistesverwirrung. »Nur dann würde ich ganz glücklich sein; aber jetzt muß ich wählen und kann nicht glücklich sein, wenn ich einen von beiden entbehren muß. Aber«, dachte sie weiter, »das Geschehene dem Fürsten Andrei zu sagen und es ihm zu verbergen, ist gleich unmöglich. Nur daß, wenn ich es ihm verberge, noch nichts verdorben ist. Kann ich denn wirklich auf immer von diesem Glück der Liebe des Fürsten Andrei Abschied nehmen, von diesem Glück, mit dem ich so lange gelebt habe?«[548]

»Gnädiges Fräulein«, sagte ein Dienstmädchen, das ins Zimmer trat, flüsternd mit geheimnisvoller Miene. »Ein Mann hat mir gesagt, ich möchte Ihnen das hier übergeben.« Das Mädchen reichte ihr einen Brief. »Ich sollte es Ihnen nur ja heimlich ...«, fügte das Mädchen noch hinzu, während Natascha schon gedankenlos mit einer mechanischen Bewegung das Siegel erbrach und den Brief, einen Liebesbrief Anatols, zu lesen anfing, von dem sie, ohne den Inhalt der Worte zu fassen, nur das eine verstand, daß es ein Brief von ihm war, von dem Mann, den sie liebte. »Ja, ich liebe ihn«, sagte sie sich. »Wie hätte sich auch sonst das ereignen können, was sich ereignet hat? Könnte ich etwa sonst einen Liebesbrief von ihm in den Händen halten?«

Mit zitternden Händen hielt Natascha diesen leidenschaftlichen Liebesbrief, welchen Dolochow für Anatol verfaßt hatte, und glaubte beim Lesen in ihm einen Widerhall aller ihrer eigenen Gefühle zu finden.

»Am gestrigen Abend«, begann der Brief, »hat sich mein Geschick entschieden: ich muß Ihre Liebe gewinnen oder sterben. Einen anderen Ausweg gibt es für mich nicht.« Weiter schrieb Anatol, er wisse, daß ihre Angehörigen sie ihm nicht geben würden; es seien dafür geheime Gründe vorhanden, die er nur ihr allein enthüllen könne; aber wenn sie ihn liebe, so brauche sie nur das eine Wort »Ja« zu sagen, und keine menschliche Macht werde sie beide hindern, glücklich zu sein. Die Liebe überwinde alles. Er werde sie entführen und mit ihr bis ans Ende der Welt gehen.

»Ja, ja, ich liebe ihn!« dachte Natascha, als sie den Brief zum zwanzigsten Male las und in jedem Wort einen besonderen tiefen Sinn suchte.

An diesem Abend fuhr Marja Dmitrijewna auf Besuch zu[549] Archarows und forderte die beiden jungen Mädchen auf mitzukommen. Aber Natascha blieb unter dem Vorwand, daß sie Kopfschmerzen habe, zu Hause.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 545-550.
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