XXII

[592] Am Abend desselben Tages fuhr Pierre zu Rostows, um seinen Auftrag auszurichten. Natascha lag zu Bett; der Graf war im Klub; so ging denn Pierre, nachdem er die Briefe Sonja übergeben hatte, zu Marja Dmitrijewna, die gespannt war zu erfahren, wie Fürst Andrei die Nachricht aufgenommen habe. Zehn Minuten darauf trat Sonja bei Marja Dmitrijewna ein.

»Natascha will durchaus mit dem Grafen Pjotr Kirillowitsch sprechen«, sagte sie.

»Aber wie soll denn das gemacht werden? Sollst du ihn etwa[592] zu ihr führen? Das Zimmer ist ja gar nicht aufgeräumt«, erwiderte Marja Dmitrijewna.

»Nein, sie hat sich angezogen und ist in den Salon gegangen«, sagte Sonja.

Marja Dmitrijewna zuckte nur mit den Achseln.

»Wenn nur erst die Gräfin da wäre!« wandte sie sich an Pierre. »Dieses Mädchen hat mich ganz heruntergebracht. Sei du nur auf deiner Hut und sage ihr nicht alles. Ich habe auch nicht den Mut, sie zu schelten: sie ist in einer gar zu kläglichen Verfassung!«

Abgemagert, mit blassem, tiefernstem Gesicht (aber ganz und gar nicht beschämt, wie es Pierre erwartet hatte) stand Natascha mitten im Salon. Als Pierre in der Tür erschien, machte sie ein paar hastige Bewegungen, offenbar im Zweifel, ob sie ihm entgegengehen oder ihn dort erwarten sollte.

Pierre ging eilig auf sie zu. Er glaubte, sie werde ihm, wie sonst immer, die Hand reichen; sie aber blieb, nachdem sie nun doch nahe an ihn herangetreten war, schweratmend stehen und ließ die Arme matt herunterhängen, genau in derselben Haltung, in der sie früher in die Mitte des Saales zu treten pflegte, um zu singen, aber jetzt mit völlig anderem Gesichtsausdruck.

»Pjotr Kirillowitsch«, begann sie; sie sprach sehr hastig, »Fürst Bolkonski war Ihr Freund; er ist auch noch Ihr Freund«, verbesserte sie sich (sie hatte die Vorstellung, als ob alles der Vergangenheit angehöre und nichts unverändert geblieben sei). »Er sagte mir damals, ich sollte mich an Sie wenden ...« Pierre blickte sie schweigend an und atmete heftig, so daß man seine Nase hörte. Er hatte ihr bisher in seinem Herzen Vorwürfe gemacht und sich bemüht, sie zu verachten; aber jetzt tat sie ihm so leid, daß in seinem Herzen für Vorwürfe kein Raum blieb.

»Er ist jetzt hier; sagen Sie ihm ... er möchte mir ver ... verzeihen.«[593]

Sie hielt inne und begann noch schneller zu atmen, weinte aber nicht.

»Ja ... ich will es ihm sagen«, antwortete Pierre, »aber ...«

Er wußte nicht, was er weiter sagen sollte.

Natascha erschrak, offenbar weil ihr einfiel, auf welchen Gedanken Pierre vielleicht kommen konnte.

»Nein, ich weiß, daß alles zu Ende ist«, sagte sie hastig. »Nein, das ist für immer unmöglich. Mich quält nur das Böse, das ich ihm angetan habe. Sagen Sie ihm nur, ich bäte ihn, mir zu verzeihen, mir zu verzeihen, mir alles zu verzeihen, was ...«

Sie zitterte am ganzen Leib und setzte sich auf einen Stuhl.

Ein Gefühl des Mitleides, so stark, wie er es noch nie empfunden hatte, erfüllte Pierres ganze Seele.

»Ich werde es ihm sagen, ich werde ihm alles noch einmal sagen«, erwiderte Pierre. »Aber ... eines möchte ich gern wissen ...«

»Was möchten Sie wissen?« fragte Nataschas Blick.

»Ich möchte gern wissen, ob Sie diesen ...«, Pierre wußte nicht, wie er Anatol nennen sollte, und errötete bei dem Gedanken an ihn, »ob Sie diesen schlechten Menschen geliebt haben.«

»Nennen Sie ihn nicht schlecht«, erwiderte Natascha. »Aber ich weiß nichts, gar nichts ...«

Sie brach in Tränen aus. Und das Gefühl des Mitleides, der Zärtlichkeit und der Liebe ergriff Pierre noch stärker. Er spürte, wie ihm hinter der Brille die Tränen aus den Augen quollen, und hoffte, daß Natascha es nicht bemerken werde.

»Wir wollen nicht weiter davon reden, liebe Freundin«, sagte er. Durch seinen sanften, zärtlichen, von Herzen kommenden Ton fühlte sich Natascha ganz seltsam berührt.[594]

»Wir wollen nicht davon reden, liebe Freundin; ich werde ihm alles sagen; aber um eines bitte ich Sie: halten Sie mich für Ihren Freund; und wenn Sie Hilfe oder Rat brauchen oder einfach jemanden, dem Sie Ihr Herz ausschütten möchten – nicht jetzt, sondern wenn es in Ihrer Seele wieder wird hell und klar geworden sein –, dann erinnern Sie sich an mich.« Er ergriff ihre Hand und küßte sie. »Ich werde glücklich sein, wenn ich imstande sein sollte ...«

Pierre wurde verlegen.

»Reden Sie nicht so mit mir; das verdiene ich nicht!« rief Natascha und wollte aus dem Zimmer eilen; aber Pierre hielt sie an der Hand zurück.

Er hatte das Glück, daß er ihr noch etwas sagen müsse. Aber als er es sagte, war er selbst über seine eigenen Worte erstaunt.

»Fassen Sie wieder Mut; das ganze Leben liegt noch vor Ihnen«, sagte er zu ihr.

»Vor mir? Nein! Für mich ist alles verloren«, erwiderte sie voll Scham und Zerknirschung.

»Alles verloren?« entgegnete er. »Wäre ich nicht der, der ich bin, sondern der schönste, klügste, beste Mensch auf der Welt, und wäre ich dabei frei, dann würde ich in diesem Augenblick auf den Knien um Ihre Hand und um Ihre Liebe werben.«

Zum erstenmal seit vielen Tagen vergoß Natascha Tränen der Dankbarkeit und Rührung; sie blickte Pierre noch einmal innig an und verließ das Zimmer.

Unmittelbar darauf ging auch Pierre; er lief fast ins Vorzimmer, vermochte kaum die Tränen der Rührung und der Glückseligkeit zurückzuhalten, die ihm die Kehle beengten, und konnte beim Anziehen seines Pelzes lange nicht in die Ärmel hineinfinden. Er setzte sich in seinen Schlitten.

»Wohin befehlen Sie jetzt?« fragte der Kutscher.[595]

»Ja, wohin?« fragte sich Pierre. »Wohin kann ich jetzt fahren? Bin ich jetzt wirklich imstande, nach dem Klub zu fahren oder einen Besuch zu machen?« Alle Menschen erschienen ihm so bedauernswert und arm gegenüber dem Gefühl der Rührung und Liebe, das er empfand, gegenüber jenem weichen, dankbaren Blick, mit dem sie ihn zuletzt durch ihre Tränen hindurch angesehen hatte.

»Nach Hause«, sagte Pierre, und trotz der zehn Grad Kälte schlug er den Bärenpelz über seiner breiten, freudig atmenden Brust auseinander.

Es war kalt und klar. Über den schmutzigen, halbdunklen Straßen, über den schwarzen Dächern wölbte sich der dunkle Sternenhimmel. Sowie Pierre nach dem Himmel blickte, empfand er nicht mehr die demütigende Niedrigkeit alles Irdischen gegenüber der Höhe, in der seine Seele schwebte. Als er aus der engen Straße auf den Arbatskaja-Platz hinausfuhr, erschloß sich seinen Augen in weiter Ausdehnung das Gewölbe des dunklen, von Sternen bedeckten Himmels. Beinahe in der Mitte dieses Himmels, über dem Pretschistenski-Boulevard, stand, rings von Sternen umgeben und umstreut, aber durch seine geringere Entfernung von der Erde, durch sein weißes Licht und durch den langen, nach oben gerichteten Schweif sich von allen abhebend, der gewaltige helle Komet des Jahres 1812, eben der Komet, der, wie man sagte, alle möglichen Schrecknisse und den Untergang der Welt vorherverkündete. Aber in Pierres Seele rief dieser glänzende Stern mit dem langen, leuchtenden Schweif kein banges Gefühl hervor. Im Gegenteil, freudig betrachtete Pierre mit tränenfeuchten Augen dieses helle Gestirn, das, nachdem es mit unsagbarer Geschwindigkeit den unermeßlichen Raum in einer parabolischen Linie durchflogen hatte, nun plötzlich wie ein in die Erdatmosphäre eingedrungener Pfeil dort[596] an einer von ihm ausgewählten Stelle am schwarzen Himmel haltgemacht hatte und festhaftete, seinen Schweif energisch in die Höhe hebend und unter den unzähligen andern glitzernden Sternen mit seinem weißen Licht leuchtend und schimmernd. Pierre hatte die Empfindung, daß dieses Gestirn vollständig mit dem Gefühl harmonierte, das in seiner zu neuem Leben sich erschließenden, von Rührung und Mut erfüllten Seele rege geworden war.[597]

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 592-598.
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