[134] Aber sonderbar: alle diese Anordnungen, Bemühungen und Pläne, die keineswegs schlechter waren als andere, die in ähnlichen Fällen von ihm ausgegangen waren, berührten gar nicht den Kern der Sache und bewegten sich wie Zeiger eines Uhrzifferblattes, das von dem Mechanismus losgelöst ist, willkürlich und zwecklos, ohne auf die Räder einzuwirken.
In militärischer Hinsicht wurde der geniale Feldzugsplan, von welchem Thiers sagt, Napoleons Genie habe niemals etwas Tieferes, Kunstvolleres, Bewundernswerteres ersonnen, und von welchem dieser Historiker, sich in eine Polemik mit Herrn Fain einlassend, beweist, daß seine Konzipierung nicht auf den 4., sondern auf den 15. Oktober anzusetzen sei – dieser geniale Plan wurde nie zur Ausführung gebracht und konnte nie zur Ausführung gebracht werden, weil er keine Berührungspunkte mit der Wirklichkeit hatte. Die Befestigung des Kreml, um derentwillen »die Moschee«, wie Napoleon die Wasili-Blaschenny-Kirche nannte, niedergerissen werden mußte, erwies sich als vollständig zwecklos. Die Anlegung von Minen unter dem Kreml machte lediglich die Erfüllung des Wunsches des Kaisers beim Wegzug von Moskau möglich, den Kreml in die Luft zu sprengen, d.h. die Diele zu schlagen, auf die das Kind gefallen war. Die Verfolgung des russischen Heeres, die für Napoleon einen Gegenstand besonderer Sorge bildete, bot eine unerhörte Erscheinung dar. Die französischen Heerführer hatten die sechzigtausend Mann starke russische Armee aus den Augen verloren, und nur, nach Thiers' Ausdruck, der Geschicklichkeit und, wie man vielleicht auch hier sagen könnte, der Genialität Murats gelang es, diese sechzigtausend Mann starke russische Armee wie eine Stecknadel wiederzufinden.[135]
In diplomatischer Hinsicht erreichte Napoleon geradezu gar nichts dadurch, daß er dem alten Tutolmin und dem Hauptmann Jakowlew (dessen Streben hauptsächlich darauf gerichtet war, zu einem Mantel und zu einem Fuhrwerk zu gelangen) seine Großmut und seine Gerechtigkeit darlegte. Denn Alexander empfing diese Abgesandten nicht und gab auf ihre Mission keine Antwort.
Was die Rechtspflege anlangt, so brannte nach der Hinrichtung der vermeintlichen Brandstifter die andere Hälfte von Moskau ab.
In administrativer Hinsicht tat die Einsetzung einer Munizipalität der Plünderung keinen Einhalt und brachte nur einigen Personen Vorteil, welche Mitglieder dieser Munizipalität waren und unter dem Vorwand, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Moskau plünderten oder ihre eigene Habe vor der Plünderung bewahrten.
In religiöser Hinsicht wurden, während in Ägypten sich die Sache durch den Besuch einer Moschee so leicht hatte in Ordnung bringen lassen, hier keinerlei Resultate erzielt. Zwei oder drei Geistliche, die man in Moskau aufgetrieben hatte, versuchten Napoleons Wunsch zu erfüllen; aber den einen von ihnen ohrfeigte ein französischer Soldat während des Gottesdienstes, und in betreff eines andern erstattete ein französischer Beamter folgenden Bericht: »Der Priester, den ich ausfindig gemacht und aufgefordert hatte, wieder mit dem Messelesen anzufangen, reinigte die Kirche und schloß sie zu. Aber gleich in derselben Nacht sind von neuem die Türen eingeschlagen, die Vorhängeschlösser zerbrochen, die Bücher zerrissen und anderer Unfug verübt worden.«
Was den Handel betrifft, so blieb der Aufruf an die arbeitsamen Handwerker und an alle Bauern ganz erfolglos. Arbeitsame Handwerker gab es nicht, und die Bauern fingen diejenigen[136] Kommissare, die ihre Fahrten mit diesem Aufruf zu weit ausdehnten, auf und schlugen sie tot.
Was den Versuch anlangt, das Volk und die Truppen durch Theatervorstellungen zu belustigen, so gelang auch dieser nicht. Die im Kreml und in Posnjakows Haus eingerichteten Theater mußten sogleich wieder geschlossen werden, da die Schauspieler und Schauspielerinnen ausgeplündert wurden.
Die Wohltätigkeit erzielte gleichfalls nicht die gewünschten Resultate. Moskau war voll von falschem und echtem Papiergeld, aber dieses hatte keinen Wert. Die Franzosen, welche Beute suchten, sahen es nur auf Gold ab. Und nicht nur das falsche Papiergeld, das Napoleon so huldvoll an die Unglücklichen hatte verteilen lassen, war wertlos, sondern auch das Silber wurde unter seinem Wert gegen Gold abgegeben.
Aber die überraschendste Erscheinung bei dieser Unwirksamkeit der von höchster Stelle ausgehenden Anordnungen war damals die Erfolglosigkeit der Bemühungen Napoleons, dem Plündern Einhalt zu tun und die Disziplin wiederherzustellen.
Hier einiges aus der amtlichen Korrespondenz militärischer Behörden:
»Die Plünderungen in der Stadt dauern fort trotz des Befehls, sie zu verhindern. Die Ordnung ist noch nicht wiederhergestellt, und es ist kein einziger Kaufmann da, der in gesetzlicher Weise Handel triebe. Nur die Marketender wagen es, Waren zum Verkauf zu stellen, und das sind geraubte Gegenstände.«
»Ein Teil meines Bezirkes wird immer noch von den Soldaten des dritten Korps ausgeraubt; nicht damit zufrieden, den Unglücklichen, die sich in die Keller geflüchtet haben, das wenige, das ihnen noch geblieben ist, zu entreißen, begehen sie sogar die Barbarei, sie mit Säbelhieben zu verwunden, wovon ich mehrere Beispiele gesehen habe.«[137]
»Nichts Neues, als daß die Soldaten sich erlauben zu stehlen und zu plündern. Den 9. Oktober.«
»Das Stehlen und Plündern dauert fort. Es befindet sich in unserm Bezirk eine Diebesbande, zu deren Festnahme starke Detachements erforderlich sein werden. Den 11. Oktober.«
»Der Kaiser ist höchst unzufrieden, daß trotz des strengen Befehls, dem Plündern Einhalt zu tun, man fortwährend Trupps marodierender Gardisten sieht, die nach dem Kreml zurückkehren. – Bei der alten Garde ist Zuchtlosigkeit und Raublust gestern, in der letzten Nacht und heute wieder in stärkerem Grade hervorgetreten als je vorher. Der Kaiser sieht mit Bedauern, daß die Elitesoldaten, die mit der Bewachung seiner Person betraut sind und dem Heer ein Vorbild guter Zucht sein sollten, in ihrer Insubordination so weit gehen, die für die Armee eingerichteten Keller und Magazine zu erbrechen. Andere haben sich so weit vergessen, den Schildwachen und den wachhabenden Offizieren den Gehorsam zu verweigern, sie zu beschimpfen und zu schlagen.«
»Der Oberhofmarschall beklagt sich lebhaft«, schrieb der Gouverneur, »daß trotz wiederholter Verbote die Soldaten immer noch in allen Höfen und selbst unter den Fenstern des Kaisers ihre Bedürfnisse verrichten.«
Bei diesem Heer, das, wie eine ungehütet sich zerteilende Herde, mit den Füßen die Nahrung zertrat, durch die es sich hätte vor dem Hungertod retten können, wurde die Zersetzung und Verderbnis mit jedem weiteren Tag des Aufenthalts in Moskau schlimmer. Aber es zog nicht ab.
Erst dann eilte es fort, als es auf einmal infolge des Abfangens von Transporten auf der Smolensker Heerstraße und infolge der Schlacht bei Tarutino von panischem Schrecken ergriffen war.
Diese Nachricht von der Schlacht bei Tarutino, welche Napoleon unerwartet bei einer Truppenschau erhielt, war es, die bei ihm den[138] Wunsch hervorrief, die Russen zu bestrafen, wie Thiers sich ausdrückt, und so gab er denn den Befehl zum Abzug, den das ganze Heer verlangte.
Bei der Flucht aus Moskau schleppten die Soldaten dieses Heeres alles mit sich, was sie geraubt hatten. Auch Napoleon führte seinen eigenen Tresor mit. Als er die Menge von Fuhrwerken erblickte, durch die die Armee unbeweglich gemacht wurde, erschrak er zwar, wie Thiers sagt; aber trotz seiner Kriegserfahrung befahl er nicht, alle entbehrlichen Wagen zu verbrennen, wie er das beim Anmarsch auf Moskau mit den Fuhrwerken eines Marschalls hatte machen lassen. Er betrachtete diese Kaleschen und Kutschen, in denen die Soldaten fuhren, und äußerte, das sei ganz gut, diese Wagen könne man zum Transport von Proviant, von Kranken und Verwundeten verwenden.
Die Lage des ganzen Heeres glich der Lage eines verwundeten Wildes, das sein Verderben ahnt und nicht weiß, was es tut. Die kunstvollen Manöver und Pläne Napoleons und seines Heeres vom Einzug in Moskau bis zur Vernichtung dieses Heeres studieren heißt ganz dasselbe, wie die Bedeutung der letzten Sprünge und Zuckungen eines tödlich verwundeten Wildes studieren. Sehr häufig rennt das verwundete Tier, wenn es ein Geräusch hört, dem Jäger vor den Schuß, läuft vorwärts, rückwärts und beschleunigt selbst sein Ende. Eben dasselbe tat Napoleon unter dem Druck, den sein ganzes Heer auf ihn ausübte. Bei dem Geräusch der Schlacht von Tarutino schrak das Wild zusammen und stürzte vorwärts in den Schußbereich hinein, rannte auf den Jäger zu, kehrte wieder um und lief endlich, wie jedes Wild, auf dem unvorteilhaftesten, gefährlichsten Weg, aber auf der bekannten, alten Spur zurück.
Napoleon, der uns als der Leiter dieser ganzen Bewegung erscheint (wie die Wilden die geschnitzte Figur am Schiffsschnabel[139] für die Kraft hielten, von der das Schiff bewegt werde), glich während der ganzen Zeit dieser seiner Tätigkeit einem Kind, das die Bändchen anfaßt, die im Innern des Wägelchens an gebracht sind, und sich einbildet, das Wägelchen zu lenken.
Buchempfehlung
Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.
110 Seiten, 4.40 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro