XIX

[177] Wenn ein Mensch sich auf einer Wanderung befindet, so setzt er sich in Gedanken immer ein Ziel für diese Wanderung. Um tausend Werst zurücklegen zu können, muß der Mensch notwendig die Vorstellung haben, daß am Ende der tausend Werst ihn irgend etwas Gutes erwartet. Es ist die Vorstellung von einem gelobten Land nötig, damit man die Kraft zu einer langen Wanderung aufbringen kann.

Das gelobte Land war bei dem Eindringen der Franzosen in Rußland Moskau, bei ihrem Abzug die Heimat. Aber die Heimat war zu fern, und jemand, der tausend Werst zu gehen hat, muß sich unbedingt, ohne an das Endziel zu denken, sagen können: »Heute komme ich, wenn ich vierzig Werst marschiert sein werde, zu einem Rastort und Nachtlager«; und beim ersten Tagesmarsch verdeckt dieser Rastort das Endziel und zieht alle Wünsche und Hoffnungen auf sich. Und die Bestrebungen, die beim einzelnen Menschen zutage treten, machen sich bei einer großen Menge immer in vergrößertem Maßstab geltend.

Für die Franzosen, die auf der alten Smolensker Straße zurückgingen, war das Endziel, die Heimat, zu weit entfernt, und das nächste Ziel, dasjenige, auf welches sich, durch die große Menge in gewaltiger Proportion gesteigert, alle Wünsche und Hoffnungen richteten, war Smolensk. Nicht etwa weil die Soldaten gewußt hätten, daß in Smolensk viele Lebensmittel und frische Truppen seien, oder weil ihnen das gesagt worden wäre (die höheren Führer und Napoleon selbst wußten vielmehr, daß dort nur wenig Proviant vorhanden war), sondern weil nur dies ihnen Kraft zum Marschieren und zur Ertragung der gegenwärtigen Leiden geben konnte, strebten sie alle, die Wissenden[178] sowohl als die Nichtwissenden, in gleicher Selbsttäuschung nach Smolensk wie nach einem Gelobten Land.

Nachdem die Franzosen auf die große Heerstraße gelangt waren, eilten sie mit überraschender Energie und erstaunlicher Schnelligkeit dem Ziel zu, das sie sich in Gedanken gesetzt hatten. Außer dieser Ursache, der Gemeinsamkeit des Strebens, welche die Haufen der Franzosen zu einem Ganzen verband und ihnen eine gewisse Energie verlieh, war noch eine andere Ursache vorhanden, die sie zusammenhielt. Diese Ursache bestand in ihrer Menge. Ihre gewaltige Masse zog durch ihre eigene Kraft, wie nach dem physikalischen Gesetz der Anziehung, die einzelnen Atome, d.h. die Menschen, an sich. Sie bewegten sich vermöge ihrer hunderttausendköpfigen Masse vorwärts, die ihnen den Charakter eines eigenen ganzen Staates verlieh.

Jeder einzelne unter ihnen hatte nur einen Wunsch: sich gefangenzugeben und dadurch von allen Schrecken und Leiden loszukommen. Aber erstens zog die Kraft des gemeinsamen Hinstrebens nach dem Ziel Smolensk einen jeden in derselben Richtung fort; und zweitens konnte sich doch ein Armeekorps nicht einer Kompanie gefangengeben, und obgleich die Franzosen jede geeignete Gelegenheit benutzten, um sich voneinander zu trennen und sich unter dem unbedeutendsten anständigen Vorwand gefangenzugeben, so fanden sich doch nicht immer Vorwände. Schon allein durch ihre Zahl und das schnelle Marschieren in eng geschlossenen Haufen wurde ihnen diese Möglichkeit genommen und es den Russen nicht nur schwer, sondern geradezu unmöglich gemacht, diese Bewegung zu hemmen, auf welche die gesamte Energie dieser großen Masse von Franzosen gerichtet war. Eine mechanische Zerreißung des Körpers konnte den sich vollziehenden Zersetzungsprozeß nicht über eine bestimmte Grenze hinaus beschleunigen.[179]

Ein Schneeball kann nicht in einem einzigen Augenblick schmelzen. Es gibt ein bestimmtes Zeitmaß, unter welchem keine Anstrengungen der Wärme den Schnee zum Schmelzen bringen können. Im Gegenteil, je höher die Wärme ist, um so fester wird der verbleibende Schnee.

Von den russischen Heerführern hatte niemand als Kutusow dafür Verständnis. Sobald die Flucht der französischen Armee eine bestimmte Richtung angenommen hatte, nämlich auf der Straße nach Smolensk, da verwirklichte sich das, was Konownizyn in der Nacht vom 11. zum 12. Oktober vorhergesehen hatte. Alle höheren Führer der Armee wollten sich auszeichnen, die Franzosen abschneiden, umgehen, gefangennehmen, zurückwerfen, und alle verlangten sie den Angriff.

Kutusow allein gebrauchte alle seine Kräfte (aber diese Kräfte sind bei jedem Oberkommandierenden sehr gering) dazu, sich einem Angriff zu widersetzen.

Wir sagen heute: wozu sollten die Russen eine Schlacht liefern und den Franzosen den Weg versperren und ihre eigenen Leute verlieren und die Unglücklichen in unmenschlicher Weise niedermetzeln, wozu alles das, da ja auf dem Weg von Moskau bis Wjasma auch ohne Schlacht ein Drittel dieses Heeres wegschmolz? Dergleichen konnte Kutusow seinen Generalen nicht sagen; aber er holte aus dem Schatz der Weisheit seines Alters Erwägungen hervor, von denen er meinte, daß sie sie würden verstehen können, und sprach ihnen von einer goldenen Brücke; aber sie machten sich über ihn lustig, schwärzten ihn an und gebärdeten sich gar grimmig und mutig angesichts des tödlich verwundeten Wildes.

Bei Wjasma konnten Jermolow, Miloradowitsch, Platow und andere, die sich in der Nähe der Franzosen befanden, dem Verlangen nicht widerstehen, zwei französische Armeekorps abzuschneiden[180] und zurückzuwerfen. An Kutusow schickten sie, um ihn von ihrer Absicht zu benachrichtigen, statt der Meldung in einem Kuvert einen Bogen weißes Papier.

Und trotz aller Bemühungen Kutusows, die Truppen zurückzuhalten, griffen unsere Truppen dennoch an und versuchten, dem Feind den Weg zu versperren. Infanterieregimenter gingen, wie erzählt wird, mit Musik und Trommelschlag zum Angriff vor und töteten und vernichteten Tausende von Menschen.

Aber was den Versuch des Abschneidens anlangte, so schnitten sie niemanden ab und warfen niemanden zurück. Und das französische Heer, das durch die Gefahr nur an Festigkeit gewonnen hatte, setzte, gleichmäßig schmelzend, seinen verderbenbringenden Weg nach Smolensk fort.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 177-181.
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