XIV

[509] Um fünf Uhr morgens war es noch ganz dunkel. Die Truppen des Zentrums, die Reserven, sowie der von Bagration kommandierte rechte Flügel verharrten noch regungslos; aber auf dem linken Flügel war schon Leben. Die dort stehenden Infanterie-, Kavallerie- und Artilleriekolonnen, welche als die ersten von den Höhen hinabsteigen sollten, um den rechten Flügel der Franzosen anzugreifen und der Disposition gemäß in die böhmischen Berge zurückzuwerfen, rührten sich bereits und erhoben sich von ihrem Nachtlager. Der Rauch von den Lagerfeuern, in die sie alles Überflüssige hineinwarfen, biß in die Augen. Es war kalt und dunkel. Die Offiziere tranken eilig ihren Tee und frühstückten; die Soldaten kauten ihren Zwieback, trampelten umher, um sich zu erwärmen, und drängten sich um[509] die Feuer, in denen sie Stühle, Tische, Räder, Fässer, Reste von den Baracken, kurz alles verbrannten, was nicht mitgenommen werden konnte. Höhere österreichische Offiziere eilten zwischen den russischen Truppen umher und konnten als Vorboten des Aufbruchs dienen. Sowie ein solcher österreichischer Offizier sich bei dem Quartier eines Regimentskommandeurs gezeigt hatte, geriet das Regiment in hastige Bewegung: die Soldaten liefen von den Feuern weg, steckten ihre Tabakspfeifen in die Stiefelschäfte, legten die Brotbeutel auf die Fuhrwerke, brachten ihre Gewehre in Ordnung und stellten sich auf. Die Offiziere knöpften die Uniformen zu, legten Degen und Ränzchen an und gingen, ab und zu einen Soldaten anschreiend, an den Reihen entlang; die Fuhrleute und Burschen spannten an, luden die Gepäckstücke auf und banden sie fest. Die Adjutanten, die Bataillons- und Regimentskommandeure stiegen zu Pferd, bekreuzten sich, erteilten den zurückbleibenden Fuhrleuten die letzten Befehle, Anweisungen und Aufträge, und nun ertönte der gleichmäßige, stampfende Tritt mehrerer tausend Füße. Die Kolonnen marschierten ab, ohne zu wissen wohin, und infolge der sie umgebenden Kameraden und des Rauches und des zunehmenden Nebels sahen sie weder die Örtlichkeit, die sie jetzt verließen, noch die, nach der sie hinzogen.

Der Soldat wird auf dem Marsch von seinem Regiment ebenso umgeben, beschränkt und mitgezogen, wie der Seemann von dem Schiff, auf dem er sich befindet. Wie weit er auch fortmarschieren, in welche fremdartigen, unbekannten, gefährlichen Gegenden er auch gelangen mag, um sich hat er (wie der Seemann immer und überall dasselbe Verdeck, dieselben Masten und Taue seines Schiffes) immer und überall dieselben Kameraden, dieselben Reihen, denselben Feldwebel Iwan Mitritsch, denselben Kompaniehund Schutschka, dieselben Vorgesetzten.[510] Der Soldat hat nur selten den Wunsch, die Breiten kennenzulernen, in denen sich sein »Schiff« befindet; aber am Tag einer Schlacht macht sich, Gott weiß wie und woher, in der Gedankenwelt der Truppen gleichsam ein einheitlicher, ernster Ton vernehmbar, der das Herannahen von etwas Entscheidendem, Feierlichem zu bedeuten scheint und bei ihnen eine Neugier erweckt, die ihnen sonst fremd ist. Am Tag einer Schlacht suchen die Soldaten in lebhafter Erregung die enge Interessensphäre ihres Regiments zu überschreiten, sie horchen umher, blicken sich um und erkundigen sich eifrig nach dem, was um sie herum vorgeht.

Der Nebel hatte sich so verdichtet, daß man, obwohl es schon Tag geworden war, nicht zehn Schritte weit vor sich sehen konnte. Sträuche sahen aus wie riesige Bäume, Ebenen wie Abhänge und Schluchten. Überall, auf allen Seiten, konnte man mit dem auf zehn Schritte unsichtbaren Feind zusammenstoßen. Aber schon lange marschierten die Kolonnen immer in demselben Nebel dahin, bergab und bergauf, an Gärten und Feldern vorbei, durch eine neue, unbekannte Gegend; und nirgends stießen sie auf den Feind. Vielmehr nahmen die Soldaten bald vorn, bald hinten, auf allen Seiten, wahr, daß da russische Kolonnen in derselben Richtung marschierten. Jedem Soldaten war es ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß ebendahin, wohin er selbst ging, wiewohl das Ziel ihm unbekannt war, noch viele, viele andere der Unsrigen gingen.

»Nun sieh mal an, die Kursker sind auch vorbeimarschiert«, wurde in den Reihen gesagt.

»Es ist gar nicht zu glauben, Bruder, was für eine Unmasse von unsern Truppen hier zusammengekommen ist. Ich habe es mir am Abend angesehen, als die Feuer angezündet wurden: es war kein Ende davon zu erblicken. Ordentlich wie Moskau!«[511]

Obgleich keiner der höheren Kommandeure an die Reihen heranritt und zu den Soldaten sprach (die höheren Offiziere waren, wie wir beim Kriegsrat gesehen haben, verstimmt und mit der in Aussicht genommenen Aktion unzufrieden und beschränkten sich daher darauf, die Befehle auszuführen, ohne sich um die Aufmunterung der Soldaten zu bemühen), marschierten die Soldaten dennoch in heiterer Stimmung, wie immer, wenn es zum Kampf und namentlich zum Angriff geht. Aber nachdem sie ungefähr eine Stunde, immer im dichten Nebel, marschiert waren, mußte ein großer Teil der Truppen haltmachen, und es verbreitete sich in den Reihen das unangenehme Gefühl, daß etwas in Unordnung gekommen sei und die Dispositionen nicht stimmten. Auf welche Weise ein solches Gefühl sich verbreitet, ist sehr schwer festzustellen; aber jedenfalls verbreitet es sich, einmal aufgekommen, mit außerordentlicher Sicherheit und sickert schnell immer weiter, unmerklich und unaufhaltsam, wie Wasser, das einen Abhang hinabläuft. Wären die russischen Truppen für sich allein gewesen, ohne Verbündete, so hätte es vielleicht noch längere Zeit gedauert, bis dieses Gefühl von einer Unordnung zur allgemeinen Überzeugung geworden wäre; aber jetzt schob man, als müßte das so sein, diese Unordnung den verdrehten Deutschen in die Schuhe, und alle waren überzeugt, daß da eine nachteilige Konfusion entstanden sei, an der diese Wurstmacher schuld wären.

»Warum haben wir haltgemacht? Ist der Weg versperrt? Oder sind wir schon auf die Franzosen gestoßen?«

»Nein, es ist nichts zu hören. Dann würde doch geschossen werden.«

»Da haben sie es nun so eilig gehabt mit unserm Ausmarsch,[512] und nun sind wir ausmarschiert und stehen hier ohne Sinn und Zweck mitten auf dem Feld; diese verfluchten Deutschen richten immer nur Verwirrung an. Solche verrückten Kerle!«

»Ja, wenn's auf mich ankäme, ich würde sie ins Vordertreffen stellen; aber die, da kann man sicher sein, die drücken sich nach hinten zusammen. Da müssen wir nun stehen, ohne etwas Ordentliches im Leib zu haben!«

»Na? Geht's bald wieder weiter? Es heißt, die Kavallerie versperrt uns den Weg«, sagte ein Offizier zu einem andern.

»Ach, diese verdammten Deutschen! Kennen ihr eigenes Land nicht!« antwortete der.

»Von welcher Division sind Sie?« schrie ein Adjutant, der herangeritten kam.

»Von der achtzehnten.«

»Warum sind Sie denn dann hier? Sie müßten schon längst vorn sein! Jetzt kommen Sie vor Abend nicht durch!«

»Das kommt von den törichten Anordnungen; die hohen Herren finden selbst nicht darin zurecht«, sagte der eine Offizier und ritt weg.

Dann kam ein General geritten und rief zornig etwas, aber nicht auf russisch.

»Tafa-lafa; was der da schimpft, kann unsereiner nicht verstehen«, sagte ein Soldat, indem er dem fortreitenden General nachäffte. »Totschießen möchte ich sie, die Kanaillen!«

»Vor neun Uhr sollten wir an Ort und Stelle sein, und nun haben wir noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter uns. Das sind nette Anordnungen!« wurde von verschiedenen Seiten räsoniert.

Und der Kampfeswille, mit welchem die Truppen zum Gefecht aufgebrochen waren, fing an in Ärger und Zorn über die sinnlosen Anordnungen und über die Deutschen überzugehen.[513]

Die Ursache der Verwirrung lag darin, daß während des Vorrückens der österreichischen Kavallerie auf dem linken Flügel die oberste Leitung gefunden hatte, unser Zentrum sei doch gar zu weit vom rechten Flügel entfernt, und daher der ganzen Kavallerie Befehl erteilt hatte, auf die rechte Seite hinüberzugehen. So zogen denn mehrere tausend Mann Kavallerie vor dem Fußvolk vorbei, und das Fußvolk mußte warten.

Bei der Tete der Infanterie kam es zu einem harten Zusammenstoß zwischen einem höheren österreichischen Offizier und einem russischen General. Der russische General verlangte, zornig schreiend, die Reiterei solle anhalten; der Österreicher wies darauf hin, daß nicht er, sondern die oberste Leitung daran schuld sei. Inzwischen standen die Truppen da, bekamen Langeweile und ließen den Mut sinken. Nach einem einstündigen Aufenthalt konnten sie sich endlich wieder in Bewegung setzen und begannen bergab zu marschieren. Der Nebel, der sich oben auf der Anhöhe zerteilt hatte, breitete sich in den Tälern, in die die Truppen hinabstiegen, nur um so dichter aus. Vorn erscholl im Nebel ein Schuß, ein zweiter; anfangs fielen die Schüsse unregelmäßig, in verschieden langen Zeitabständen: »Tratta ... tat«, dann immer regelmäßiger und häufiger, und es entspann sich das Gefecht am Goldbach.

Da die Russen nicht damit gerechnet hatten, unten am Bach dem Feind zu begegnen, sondern im Nebel unvermutet auf ihn gestoßen waren, da von seiten der höheren Vorgesetzten keine ermunternden Worte an sie gerichtet wurden, da ferner unter den Truppen das Gefühl verbreitet war, sie seien schon zu spät gekommen, hauptsächlich aber, da sie in dem dichten Nebel nichts vor sich und um sich sahen: aus diesen Gründen erwiderten sie das Feuer des Feindes nur lässig und langsam; bald rückten sie vorwärts, bald blieben sie wieder stehen, weil sie nicht rechtzeitig[514] die nötigen Weisungen von den höheren Vorgesetzten und Adjutanten erhielten, die sich bei dem Nebel in dem unbekannten Terrain verirrten und die betreffenden Truppenteile nicht fanden. So begann der Kampf für die erste, zweite und dritte Kolonne, die ins Tal hinabgestiegen waren. Die vierte Kolonne, bei der sich Kutusow selbst befand, stand auf den Höhen von Pratzen.

In der Tiefe, wo der Kampf begonnen hatte, herrschte überall noch dichter Nebel. Oben hatte es sich ja aufgeklärt, aber trotzdem konnte man nichts von dem sehen, was weiter vorn vorging. Ob wirklich alle Streitkräfte des Feindes, wie auf unserer Seite angenommen wurde, zehn Werst von uns entfernt waren, oder ob der Feind dort, in diesem Nebelstrich stand, das wußte vor neun Uhr niemand.

Jetzt war es neun Uhr. In der Tiefe lag der Nebel ausgebreitet wie ein zusammenhängender Meeresarm; aber bei dem Dorf Schlapanitz, auf der Anhöhe, auf welcher Napoleon, von seinen Marschällen umgeben, stand, war es völlig hell. Über ihm war klarer, blauer Himmel, und der gewaltige Sonnenball schien wie ein großer, hohler, dunkelroter Angelkorken auf der Oberfläche des milchweißen Nebelmeeres zu schaukeln. Die gesamten französischen Truppen und auch Napoleon selbst mit seinem Stab befanden sich nicht jenseits der Bäche und Täler der Dörfer Sokolnitz und Schlapanitz, d.h. der Dörfer, die wir erst hinter uns zu bringen beabsichtigten, um dort eine Position einzunehmen und den Kampf zu beginnen, sondern diesseits, und zwar so nahe an unseren Truppen, daß Napoleon mit bloßem Auge Reiter und Fußsoldaten voneinander unterscheiden konnte. Napoleon hielt, ein wenig vor seinen Marschällen, auf einem kleinen, grauen, arabischen Pferd, in einem blauen Mantel, demselben, in dem er den italienischen Feldzug durchgemacht hatte. Schweigend schaute er nach den Hügeln hin, welche inselartig[515] aus dem Nebelmeer herausragten, und auf denen in der Ferne die russischen Truppen einherzogen, und horchte auf die Töne des Gewehrfeuers im Tal. In seinem damals noch mageren Gesicht bewegte sich kein Muskel; die blitzenden Augen waren starr nach einer Stelle hin gerichtet. Seine Voraussetzungen erwiesen sich als richtig. Die russischen Truppen waren teils schon in das Tal zu den Teichen und Seen hinabgezogen, teils hatten sie wenigstens schon die Pratzener Anhöhen verlassen, die er anzugreifen beabsichtigte, da er sie für die Schlüsselposition hielt. Er sah durch den Nebel, wie in einer Senkung, die bei dem Dorf Pratzen von zwei Bergen gebildet wird, die russischen Kolonnen mit ihren blitzenden Bajonetten sich immer in derselben Richtung nach dem Tal zu bewegten und eine nach der andern in dem Nebelmeer verschwand. Aus den Nachrichten, die ihm am Abend zugegangen waren, aus dem Geräusch von Rädern und Schritten, das die Vorposten in der Nacht gehört hatten, aus der unordentlichen Art, in der die russischen Kolonnen marschierten, aus alledem ersah er klar, daß die Verbündeten ihn weit vor sich glaubten, daß die Kolonnen, die sich in der Nähe von Pratzen bewegten, das Zentrum der russischen Armee bildeten, und daß das Zentrum bereits hinreichend geschwächt war, um es mit Erfolg angreifen zu können. Aber dennoch begann er den Kampf immer noch nicht.

Es war für ihn heute ein festlicher Tag: der Jahrestag seiner Krönung. Vor Tagesanbruch hatte er einige Stunden geschlafen und war dann, gesund, heiter, frisch und in jener glücklichen Gemütsverfassung, in der einem alles möglich scheint und alles gelingt, zu Pferd gestiegen und ins Feld hinausgeritten. Jetzt hielt er nun, ohne sich zu regen, und blickte nach den Anhöhen, die aus dem Nebel herausragten; und auf seinem kalten Gesicht lag jener besondere Ausdruck des Selbstgefühls und des[516] Bewußtseins, sein Glück zu verdienen, wie er auf dem Gesicht eines verliebten, glücklichen, sehr jungen Menschen nicht selten anzutreffen ist. Die Marschälle hielten hinter ihm und wagten nicht, seine Aufmerksamkeit abzulenken. Er blickte bald nach den Anhöhen von Pratzen, bald nach der aus dem Nebel auftauchenden Sonne.

Als die Sonne sich völlig aus dem Nebel herausgehoben hatte und ihren blendenden Glanz über die Felder und über den Nebel ergoß, da zog er, wie wenn er nur auf diesen Moment gewartet hätte, um den Kampf zu beginnen, den Handschuh von seiner schönen weißen Rechten, gab den Marschällen einen Wink und erteilte den Befehl zur Eröffnung der Schlacht. Die Marschälle jagten, von ihren Adjutanten begleitet, nach verschiedenen Seiten davon, und einige Minuten darauf rückten die Hauptstreitkräfte der französischen Armee nach jenen Anhöhen von Pratzen vor, welche stetig von den russischen Truppen geräumt wurden, die nach links in das Tal hinunterzogen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 509-517.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon