XXVII

[562] Die am 2. September sich nach allen Seiten ausbreitende und sofort versickernde Überflutung Moskaus durch die Franzosen erreichte denjenigen Stadtteil, in welchem Pierre jetzt wohnte, erst gegen Abend.

Pierre befand sich, nachdem er die zwei letzten Tage in der Einsamkeit und in ganz ungewöhnlicher Weise verlebt hatte, in einem Zustand, der dem Wahnsinn nahekam. Ein Gedanke, den[562] er nicht loswerden konnte, beherrschte ihn vollständig. Er wußte selbst nicht, wie und wann es so gekommen war; aber dieser Gedanke beherrschte ihn jetzt dermaßen, daß er sich an nichts aus der Vergangenheit mehr erinnerte und nichts von der Gegenwart begriff; alles, was er sah und hörte, zog an ihm vorbei wie ein Traumgebilde.

Pierre hatte sich aus seinem Haus nur in der Absicht entfernt, sich von dem vielverschlungenen Wirrwarr der Anforderungen des Lebens zu befreien, von jenem Wirrwarr, der ihn erfaßt hatte und in dem er sich bei seinem jetzigen Zustand nicht zurechtzufinden imstande war. Er war in die Wohnung Osip Alexejewitschs gefahren unter dem Vorwand, die Bücher und Papiere des Verstorbenen zu sichten, in Wirklichkeit aber nur, weil er sich aus dem wilden Tumult des Lebens in einen ruhigen Hafen flüchten wollte und mit der Erinnerung an Osip Alexejewitsch sich in seiner Seele die Vorstellung von einer Welt ewiger, ruhiger, erhabener Gedanken verband, in vollstem Gegensatz zu dem unruhigen Wirrwarr, in den er sich hineingezogen fühlte. Er hatte in dem Arbeitszimmer Osip Alexejewitschs einen stillen Zufluchtsort gesucht und wirklich dort einen solchen gefunden. Als er sich in der Totenstille dieses Zimmers an dem bestaubten Schreibtisch des Verstorbenen niedergelassen und den Kopf auf die Arme gestützt hatte, da waren ihm ruhig und ernst, eine nach der andern, die Erinnerungen an die letzten Tage vor die Seele getreten, besonders an die Schlacht bei Borodino und an jenes für ihn unüberwindliche Gefühl der eigenen Nichtigkeit und Falschheit gegenüber der Wahrhaftigkeit, Schlichtheit und Kraft jener Menschenklasse, die sich seiner Seele unter der Bezeichnung »sie« eingeprägt hatte. Als er von Gerasim aus seiner Versunkenheit geweckt worden war, da war ihm der Gedanke gekommen, an der, wie er wußte, beabsichtigten[563] Verteidigung Moskaus durch das Volk teilzunehmen. Und zu diesem Zweck hatte er sogleich Gerasim gebeten, ihm einen Kaftan und eine Pistole zu verschaffen, und ihm mitgeteilt, er habe vor, mit Verheimlichung seines Namens im Haus Osip Alexejewitschs zu bleiben. Dann war ihm im Laufe des ersten, einsam und untätig verbrachten Tages (Pierre hatte wiederholentlich vergebens versucht, seine Aufmerksamkeit auf die freimaurerischen Manuskripte zu konzentrieren) mehrmals in undeutlicher Gestalt ein Gedanke durch den Kopf gegangen, der ihn auch schon früher beschäftigt hatte, der Gedanke an die kabbalistische Bedeutung seines Namens in Verbindung mit dem Namen Bonapartes; aber dieser Gedanke, daß er, l'Russe Besuhof, dazu prädestiniert sei, der Macht »des Tieres« ein Ziel zu setzen, war ihm nur erst wie eine flüchtige Idee gekommen, wie sie einem oft ohne Anlaß und ohne Folge durch den Kopf huschen.

Als Pierre sich den Kaftan gekauft hatte (lediglich in der Absicht, an der Verteidigung Moskaus durch das Volk teilzunehmen) und der Familie Rostow begegnet war und Natascha zu ihm gesagt hatte: »Sie bleiben hier? Ach, wie schön ist das!«, da war in seiner Seele der Gedanke aufgeblitzt, daß es wirklich schön wäre, selbst im Fall der Besetzung Moskaus durch den Feind, wenn er in der Stadt bliebe und das ausführte, wozu er prädestiniert sei.

Am folgenden Tag ging er, ganz erfüllt von dem Gedanken, sich selbst nicht zu schonen und in keinem Stücke »ihnen« nachzustehen, vor das Dreibergen-Tor hinaus. Aber als er sich überzeugt hatte, daß Moskau nicht verteidigt werden würde, und nach Hause zurückgekehrt war, da fühlte er plötzlich, daß das, was ihm vorher nur als Möglichkeit vor Augen gestanden hatte, jetzt eine unvermeidliche Notwendigkeit geworden war. Er mußte unter[564] Verheimlichung seines Namens in Moskau bleiben und in Napoleons Nähe zu kommen und ihn zu töten suchen, um entweder umzukommen oder das Elend von ganz Europa zu beenden, das nach Pierres Ansicht einzig und allein von Napoleon herrührte.

Pierre kannte alle Einzelheiten des Attentats, das ein deutscher Student im Jahre 1809 in Wien auf Bonaparte unternommen hatte, und wußte, daß dieser Student erschossen worden war. Aber die Gefahr, der er bei der Ausführung seiner Absicht sein Leben aussetzte, reizte ihn nur noch mehr.

Zwei gleich starke Gefühle waren es, die in Pierres Seele als Triebfedern zu dieser beabsichtigten Tat wirkten. Das erste war das Gefühl des Bedürfnisses, angesichts des allgemeinen Unglücks Opfer zu bringen und mit zu leiden, jenes Gefühl, unter dessen Einwirkung er am 25. nach Moschaisk gefahren war und sich mitten in den heißesten Kampf hineinbegeben hatte und jetzt aus seinem Haus geflohen war und unter Verzicht auf den gewohnten Luxus und die Bequemlichkeiten des Lebens unausgekleidet auf einem harten Sofa schlief und dieselbe Kost genoß wie Gerasim; das zweite war jenes undefinierbare, spezifisch russische Gefühl der Geringschätzung alles Konventionellen und Erkünstelten, alles mit der niedrigen Seite der menschlichen Natur Zusammenhängenden, alles dessen, was der Mehrzahl der Menschen als das höchste Erdenglück gilt. Zum erstenmal hatte Pierre dieses eigentümliche, bezaubernde Gefühl im Slobodski-Palais kennengelernt, als er auf einmal zu dem Bewußtsein gekommen war, daß Reichtum, Macht, Leben, kurz alles, was die Menschen mit solchem Eifer zu erwerben und zu bewahren suchen, wenn es überhaupt einen Wert hat, nur insofern einen Wert besitzt, als ein Genuß darin liegt, all dies von sich zu werfen.

Es war dies jenes Gefühl, von welchem getrieben der freiwillige[565] Rekrut die letzte Kopeke vertrinkt, der Betrunkene ohne jeden sichtbaren Anlaß Spiegel und Fensterscheiben zerschlägt, obwohl er weiß, daß dies ihn sein letztes Geld kosten wird; jenes Gefühl, von welchem getrieben der Mensch durch die Ausführung von Taten, die im vulgären Sinn unverständig sind, gleichsam seine persönliche Macht und Kraft auf die Probe stellt, indem er dadurch das Vorhandensein eines höheren, außerhalb der menschlichen Lebensverhältnisse stehenden Gerichtes über Leben und Tod offenbar macht.

Schon von dem Tag an, an welchem Pierre zum erstenmal im Slobodski-Palais dieses Gefühl kennengelernt hatte, hatte er sich beständig unter der Einwirkung desselben befunden; aber erst jetzt fand er in ihm seine volle Befriedigung. Außerdem wurde im jetzigen Augenblick Pierre auch durch das, was er bereits nach dieser Richtung hin getan hatte, in seiner Absicht bestärkt und der Möglichkeit eines Zurücktretens beraubt. Seine Flucht aus seinem Haus und sein Kaftan und die Pistole und die den Rostows gegenüber von ihm abgegebene Erklärung, daß er in Moskau bleiben werde, alles dies hätte nicht nur jeden Sinn verloren, sondern wäre auch albern und lächerlich geworden (und in dieser Hinsicht war Pierre sehr empfindlich), wenn er nach alledem, ebenso wie die andern, Moskau verlassen hätte.

Pierres physischer Zustand entsprach, wie das ja immer der Fall zu sein pflegt, seinem seelischen. Die ungewohnte, grobe Nahrung, der Branntwein, den er in diesen Tagen getrunken hatte, das Entbehren des Weines und der Zigarren, die schmutzige, nicht gewechselte Wäsche, die fast schlaflosen beiden Nächte, die er auf dem kurzen Sofa ohne Federbetten verbracht hatte, alles dies erhielt ihn in einem Zustand reizbarer Erregung, der dem Wahnsinn nahekam.
[566]

Es war schon zwei Uhr nachmittags. Die Franzosen waren bereits in Moskau eingerückt. Pierre wußte das; aber statt zu handeln, dachte er nur an sein Vorhaben und überlegte alle die kleinen und kleinsten Einzelheiten, die damit verbunden sein würden. Und zwar war das, was er sich in seinen Träumereien lebhaft vergegenwärtigte, nicht eigentlich der Akt der Ermordung selbst oder der Tod Napoleons; wohl aber stellte er sich mit außerordentlicher Klarheit und mit einer Art von traurigem Genuß seinen eigenen Untergang und seine heldenmütige Mannhaftigkeit vor.

»Ja, ich muß mich opfern, einer für alle; ich muß es ausführen oder zugrunde gehen!« dachte er. »Ja, ich will hingehen ... und dann auf einmal ... Mit der Pistole oder mit dem Dolch?« überlegte er. »Aber darauf kommt es nicht an. ›Nicht ich, sondern die Hand der Vorsehung vollstreckt an dir die Todesstrafe‹, werde ich sagen.« (So legte sich Pierre die Worte zurecht, die er bei der Ermordung Napoleons sprechen wollte.) »Nun wohl, packt mich und richtet mich hin!« sprach Pierre weiter bei sich mit trauriger, aber fest entschlossener Miene und ließ den Kopf sinken.

Während Pierre, mitten im Zimmer stehend, solche Überlegungen anstellte, öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und auf der Schwelle erschien die völlig verwandelte Gestalt des vorher immer so schüchternen Makar Alexejewitsch.

Sein Schlafrock stand offen. Sein Gesicht war gerötet und entstellt. Augenscheinlich war er betrunken.

Als er Pierre erblickte, wurde er im ersten Augenblick verlegen; aber als er dann auch auf Pierres Gesicht eine gewisse Verlegenheit wahrnahm, machte ihn das sofort dreister, und er kam auf seinen dünnen, schwankenden Beinen bis in die Mitte des Zimmers.

»Die andern haben den Mut verloren«, sagte er in vertraulichem[567] Ton mit heiserer Stimme. »Aber ich sage: ich ergebe mich nicht. Ja, so sage ich ... ist's nicht recht so, mein Herr?«

Er überlegte ein Weilchen, und als er dann die Pistole auf dem Tisch erblickte, ergriff er sie auf einmal mit ungeahnter Geschwindigkeit und lief damit auf den Korridor hinaus.

Gerasim und der Hausknecht, die hinter ihm hergegangen waren, hielten ihn auf dem Flur an und versuchten, ihm die Pistole abzunehmen. Pierre, der auf den Korridor hinaustrat, betrachtete voll Mitleid und Ekel diesen halbverrückten Alten.

Vor Anstrengung die Stirn runzelnd, hielt Makar Alexejewitsch die Pistole fest und schrie mit heiserer Stimme; offenbar glaubte er, sich in einer erhabenen Situation zu befinden.

»Zu den Waffen! Zum Entern! Bilde dir nichts ein, du wirst sie mir nicht wegnehmen!« schrie er.

»Lassen Sie es doch gut sein, bitte, lassen Sie es doch gut sein! Haben Sie die Güte; bitte, lassen Sie doch! Nun, bitte, gnädiger Herr ...!« sagte Gerasim und suchte behutsam Makar Alexejewitsch an den Ellbogen nach einer Tür hin zu drehen.

»Wer bist du? Bist du Bonaparte?« schrie Makar Alexejewitsch.

»Aber das ist nicht hübsch von Ihnen, gnädiger Herr. Bitte, kommen Sie ins Zimmer; da können Sie sich ausruhen. Bitte, geben Sie das Pistölchen her!«

»Weg, verächtlicher Sklave! Rühre mich nicht an! Siehst du das da?« rief Makar Alexejewitsch und schüttelte die Pistole. »Zum Entern!«

»Faß zu!« flüsterte Gerasim dem Hausknecht zu.

Sie ergriffen Makar Alexejewitsch bei den Armen und schleppten ihn zur Tür hin.

Häßliches Gepolter der Ringenden und das heisere, atemlose Geschrei des Betrunkenen erfüllten den Flur.[568]

Plötzlich erscholl ein neuer durchdringender Schrei einer Frauenstimme von der Haustür her, und die Köchin kam auf den Flur gelaufen.

»Da sind sie! O Gott, o Gott! Wahrhaftig, sie sind da! Vier Mann, zu Pferde!« rief sie.

Gerasim und der Hausknecht ließen Makar Alexejewitsch los, und in dem nun still gewordenen Korridor hörte man deutlich, wie mehrere Hände an die Haustür pochten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 562-569.
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