XXX

[588] Nach dem Feuerschein des ersten, am 2. September ausgebrochenen Brandes blickten die zu Fuß und zu Wagen flüchtenden Einwohner und die sich zurückziehenden Truppen von verschiedenen Wegen aus und mit verschiedenen Empfindungen hin.

Die Rostowsche Wagenkolonne stand in dieser Nacht in Mytischtschi, zwanzig Werst von Moskau entfernt. Sie waren am 1. September erst so spät von Moskau abgefahren und hatten den Weg von Fuhrwerken und Truppen dermaßen versperrt gefunden, und es waren so viele Sachen vergessen worden, nach denen erst noch Leute hatten zurückgeschickt werden müssen, daß die Familie sich dafür entschieden hatte, in dieser Nacht nur fünf Werst von Moskau entfernt zu übernachten. Am andern Morgen[588] waren sie erst spät aufgewacht, und es hatte wieder so viel Aufenthalt gegeben, daß sie nur bis Groß-Mytischtschi kamen. Gegen zehn Uhr quartierten sich die Familie Rostow und die mit ihr zusammen fahrenden Verwundeten sämtlich in den Höfen und Bauernhäusern dieses großen Dorfes ein. Die Dienstboten und Kutscher der Familie Rostow und die Burschen der Verwundeten sorgten zunächst für ihre Herrschaften, aßen dann selbst Abendbrot, fütterten die Pferde und gingen dar auf hinaus auf die Freitreppe.

In dem Nachbarhaus lag ein verwundeter Adjutant Rajewskis, dem eine Hand zerschmettert war, und der furchtbare Schmerz, den er auszustehen hatte, zwang ihn, unaufhörlich kläglich zu stöhnen, und dieses Stöhnen klang in der dunklen Herbstnacht geradezu entsetzlich. Die erste Nacht hatte dieser Adjutant in demselben Gutshof zugebracht, wo auch die Familie Rostow übernachtet hatte. Aber die Gräfin hatte gesagt, sie habe wegen dieses Stöhnens kein Auge zutun können, und war in Mytischtschi lieber in das schlechteste Bauernhaus gezogen, um nur etwas weiter von diesem Verwundeten entfernt zu sein.

Einer der Offiziersburschen bemerkte im Dunkel der Nacht einen zweiten, kleinen Feuerschein, der ihnen bisher durch einen an der Einfahrt stehenden hohen Kutschwagen verdeckt gewesen war. Einen zweiten: denn ein anderer war schon lange sichtbar gewesen, und alle wußten, daß da Klein-Mytischtschi brannte, das von den Mamonowschen Kosaken angezündet war.

»Seht mal, Leute, da ist noch ein Brand«, sagte der Bursche.

Alle wandten ihre Aufmerksamkeit diesem Feuerschein zu.

»Es hieß ja, die Mamonowschen Kosaken hätten Klein-Mytischtschi in Brand gesteckt.«

»Das soll Klein-Mytischtschi sein? Nein, das ist nicht Klein-Mytischtschi; das ist weiter.«[589]

»Seht nur, gerade als ob es in Moskau wäre.«

Zwei von den Leuten stiegen die Freitreppe herab, gingen um die Kutsche herum und setzten sich da auf den Wagentritt.

»Das ist weiter links, gewiß. Mytischtschi liegt ja dort, und dies ist nach einer ganz andern Seite zu.«

Es gesellten sich noch einige Dienstboten zu den ersten hinzu.

»Sieh mal, wie es aufflammt!« sagte einer. »Das Feuer ist in Moskau, Leute; entweder in der Suschtschewskaja- oder in der Rogoschskaja-Stadt.«

Niemand antwortete auf diese Bemerkung. Eine lange Zeit blickten alle diese Leute schweigend nach der um sich greifenden Flamme des neuen, fernen Brandes hin.

Der alte gräfliche Kammerdiener (so wurde er genannt), Daniil Terentjitsch, trat zu der Menschengruppe hin und rief einen jungen Diener an.

»Was hast du hier zu suchen, Schlingel! Der Graf ruft, und kein Mensch ist da; mach, daß du hinkommst, leg die Kleider zusammen.«

»Ich bin ja nur gelaufen, Wasser holen«, antwortete dieser.

»Was meinen Sie denn, Daniil Terentjitsch? Ob das Feuer wohl in Moskau ist?« fragte einer der Lakaien.

Daniil Terentjitsch antwortete nicht, und lange Zeit herrschte wieder allgemeines Schweigen. Hin und her wogend breitete sich der Feuerschein immer weiter und weiter aus.

»O Gott, erbarme dich ...! Der Wind und die Trockenheit ...«, sagte wieder jemand.

»Seht nur, wie es wächst! O Gott! Da sieht man ja die Dohlen! Gott sei uns Sündern gnädig!«

»Sie werden es ja wohl löschen.«

»Wer wird es löschen?« sagte auf einmal Daniil Terentjitsch, der bis dahin geschwiegen hatte; er sprach ruhig und langsam.[590] »Es ist Moskau, liebe Brüder, unser liebes Mütterchen.« Die Stimme versagte ihm, und er brach plötzlich in ein greisenhaftes Schluchzen aus.

Und als ob alle nur hierauf gewartet hätten, um zu begreifen, welche Bedeutung dieser Feuerschein für sie hatte, wurden nun auf einmal ringsum Seufzer und betende Ausrufe laut; und dazwischen hörte man den alten gräflichen Kammerdiener schluchzen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 588-591.
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