XXXIV

[617] Als Pierre über Höfe und durch Gassen gelaufen und mit seiner Last zu dem Garten des Fürsten von Grusien an der Ecke der Powarskaja-Straße zurückgelangt war, erkannte er im ersten Augenblick den Ort gar nicht wieder, von dem er ausgegangen war, um das Kind zu holen; so dichtgedrängt voll war er von allerlei Menschen und von Hausgerät, das aus den Häusern herausgeschleppt war. Außer den russischen Familien, die sich mit ihrer Habe vor dem Feuer hierher gerettet hatten, waren auch einige französische Soldaten in verschiedenartiger Bekleidung da. Pierre achtete nicht auf sie. Er suchte möglichst schnell die Beamtenfamilie wiederzufinden, in der Absicht, der Mutter das Kind zu übergeben und dann wieder wegzugehen, um noch andere zu retten. Es war ihm zumute, als müsse er noch recht viel tun und so schnell wie möglich. Von der Hitze und dem Laufen warm geworden, empfand er in diesem Augenblick noch stärker jenes Gefühl der Jugendlichkeit, Frische und Energie, das ihn vorhin ergriffen hatte, als er sich aufmachte, um das Kind zu retten. Das kleine Mädchen war jetzt still geworden; mit den Händchen sich an Pierres Kaftan festhaltend, saß sie auf seinem Arm und blickte wie ein scheues Tierchen um sich. Pierre sah sie von Zeit zu Zeit an und lächelte ihr zu. Er glaubte einen Zug rührender Unschuld auf diesem ängstlichen, kränklichen Gesichtchen zu sehen.

Weder der Beamte noch seine Frau befanden sich mehr an der früheren Stelle. Pierre ging mit schnellen Schritten durch die[617] Menge und musterte die verschiedenen Gesichter, die ihm vorkamen. Unwillkürlich erregte eine grusinische oder armenische Familie seine Aufmerksamkeit; diese Familie bestand aus einem schönen, sehr alten Mann von orientalischem Gesichtstypus, der einen neu überzogenen Schafspelz und neue Stiefel trug, einer alten Frau von demselben Typus und einer jungen Frau. Diese noch sehr junge Person erschien Pierre als ein Ideal orientalischer Schönheit, mit ihren scharfen, bogenförmigen, schwarzen Brauen und dem länglichen, schönen Gesicht von außerordentlich zarter Hautfarbe, wiewohl ohne jeden Ausdruck. Mitten unter dem unordentlich umherliegenden Hausrat und zwischen der Volksmenge auf dem Platz erinnerte sie in ihrer kostbaren Atlaspelerine und dem lila Tuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, an eine zarte Treibhauspflanze, die auf den Schnee hinausgeworfen ist. Sie saß auf einem Kleiderbündel etwas hinter der Alten und blickte mit den regungslosen, großen, schwarzen, länglichen, langbewimperten Augen auf die Erde. Offenbar kannte sie ihre Schönheit und war um deswillen in Besorgnis. Dieses Gesicht machte auf Pierre einen starken Eindruck, und trotz seiner Eile sah er sich, während er an dem Zaun entlangging, mehrmals nach ihr um. Als er an das Ende des Zaunes gelangt war und doch die Gesuchten nicht gefunden hatte, blieb er stehen und blickte sich um.

Pierres Gestalt war jetzt, wo er das Kind auf dem Arm trug, noch auffälliger als vorher, und es sammelten sich mehrere Russen um ihn, Männer und Frauen.

»Hast du jemand verloren, lieber Mann?« – »Sie sind wohl einer von den Vornehmen, wie?« – »Wessen Kind ist denn das?« so wurde er von Verschiedenen gefragt.

Pierre antwortete, das Kind gehöre einer Frau in einer schwarzen Pelerine, die mit ihren Kindern an dieser Stelle gesessen[618] habe, und fragte, ob sie keiner kenne und wisse, wohin sie gegangen sei.

»Das wird gewiß ein Kind von Frau Anferowa sein«, sagte ein alter Diakonus, zu einem pockennarbigen Weib gewendet. »Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich«, fügte er wie in der Kirche in seinen gewohnten Baßtönen hinzu.

»Ach, wo wird es Frau Anferowa ihres sein!« erwiderte das Weib. »Die Anferows sind schon am Morgen weggefahren. Es gehört entweder Marja Nikolajewna oder der Frau Iwanowa.«

»Er sagt: ›Eine Frau‹, und Marja Nikolajewna ist doch eine Dame«, wendete ein Gutsknecht ein.

»Ihr werdet sie wohl kennen: sie hat lange Zähne und ist mager«, sagte Pierre.

»Das ist Marja Nikolajewna. Die sind in den Garten gegangen, als sich diese Wölfe hier einfanden«, sagte die Alte, auf die französischen Soldaten weisend.

»Herr, erbarme dich«, fügte der Diakonus wieder hinzu.

»Gehen Sie nur da hindurch; da sind sie. Ja, die ist es. Sie hat die ganze Zeit gejammert und geweint«, sagte wieder die Alte. »Ja, die ist es. Sehen Sie, dorthin müssen Sie gehen!«

Aber Pierre hörte nicht auf das Weib hin. Er beobachtete schon seit einigen Sekunden mit unverwandten Augen das, was einige Schritte von ihm entfernt vorging. Seine Blicke waren auf die armenische Familie und auf zwei französische Soldaten gerichtet, die sich den Armeniern näherten. Einer von diesen Soldaten, ein kleiner, beweglicher Kerl, trug einen blauen Mantel, der mit einem Strick umgürtet war; auf dem Kopf hatte er eine Schlafmütze, und seine Füße waren nackt. Der andere, der Pierres Aufmerksamkeit ganz besonders erregte, war ein langer, gebückt gehender, blonder, hagerer Mensch mit langsamen Bewegungen und einem idiotischen Gesichtsausdruck. Dieser trug einen Kapottmantel[619] von Fries, blaue Hosen und große, zerrissene Reiterstiefel. Der kleinere Franzose, der mit dem blauen Mantel und ohne Stiefel, sagte, sobald er an den Armenier herangekommen war, ein paar Worte und griff dabei sofort nach den Beinen des alten Mannes; dieser begann unverzüglich, sich eilig die Stiefel auszuziehen. Der andere, der im Kapottmantel, blieb vor der schönen Armenierin stehen und blickte sie, die Hände in den Taschen, ohne ein Wort zu sagen und ohne sich zu regen, an.

»Nimm hin, nimm das Kind!« sagte Pierre gebieterisch und hastig zu dem Weib und hielt ihr das Kind hin. »Gib es ihnen, gib es ihnen!« rief er überlaut, setzte das aufschreiende Mädchen auf die Erde und blickte wieder nach den Franzosen und der armenischen Familie hin.

Der alte Mann saß schon barfuß da. Der kleinere Franzose hatte ihm bereits den zweiten Stiefel ausgezogen und schlug nun mit einem Stiefel an den andern. Der Alte sagte schluchzend etwas; aber Pierre sah dies nur mit flüchtigem Blick; seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Franzosen im Kapottmantel gerichtet, der in diesem Augenblick mit langsamem, schaukelndem Gang auf die junge Frau zutrat, die Hände aus den Taschen zog und nach ihrem Hals griff.

Die schöne Armenierin hatte noch immer in derselben Haltung dagesessen, ohne sich zu regen, die langen Wimpern niedergeschlagen, und schien nicht gesehen und gemerkt zu haben, was der Soldat mit ihr vorhatte.

Während Pierre laufend die wenigen Schritte zurücklegte, die ihn von den beiden Franzosen trennten, hatte der lange Marodeur im Kapottmantel der Armenierin schon das Geschmeide, das sie am Hals trug, weggerissen, und die junge Frau griff mit den Händen nach ihrem Hals und stieß einen gellenden Schrei aus.

»Laß die Frau in Ruhe!« schrie Pierre mit heiserer, wütender[620] Stimme, packte den langen, krummrückigen Soldaten an den Schultern und schleuderte ihn zur Seite.

Der Soldat fiel zu Boden, erhob sich wieder und lief davon. Aber sein Kamerad warf die Stiefel hin, schickte sich an, sein Seitengewehr zu ziehen, und ging in drohender Haltung auf Pierre los.

»Hoho! Keine Dummheiten!« rief er.

Pierre befand sich in einem jener Wutanfälle, in denen er keine Überlegung mehr kannte und seine Kräfte sich verzehnfachten. Er stürzte sich auf den barfüßigen Franzosen, und ehe dieser noch Zeit gehabt hatte, sein Seitengewehr zu ziehen, hatte er ihn bereits niedergeworfen und schlug mit den Fäusten auf ihn los. Die umstehende Menge ließ beifällige Rufe vernehmen; in demselben Augenblick aber erschien um die Ecke herum eine reitende Patrouille französischer Ulanen. Die Ulanen ritten im Trab zu Pierre und dem Franzosen hin und umringten sie. Von dem, was nun weiter geschah, hatte Pierre nachher so gut wie keine Erinnerung mehr. Er erinnerte sich nur, daß er jemanden geschlagen hatte, daß er geschlagen worden war, und daß er zuletzt das Gefühl gehabt hatte, als ob ihm die Hände zusammengebunden wurden und eine Anzahl französischer Soldaten um ihn herum stand und ihm die Kleider durchsucht wurden.

»Er hat einen Dolch, Leutnant«, das waren die ersten Worte, die Pierre wieder verstand.

»Ah, eine Waffe«, sagte der Offizier und wandte sich an den barfüßigen Soldaten, der mit Pierre zusammen festgenommen war. »Es ist gut; das kannst du alles dem Kriegsgericht auseinandersetzen«, sagte der Offizier. Dann wandte er sich an Pierre mit der Frage: »Sie da, sprechen Sie französisch?«

Pierre blickte mit blutunterlaufenen Augen um sich, ohne zu antworten. Sein Gesicht mußte wohl einen schrecklichen Anblick[621] bieten; denn der Offizier gab flüsternd einen Befehl, und es sonderten sich noch vier Ulanen von dem Trupp ab und nahmen zu beiden Seiten Pierres Stellung.

»Sprechen Sie französisch?« wiederholte der Offizier seine Frage, hielt sich aber in einiger Entfernung von ihm. »Ruft den Dolmetscher her.«

Aus der Truppe kam ein kleines Männchen in russischer Zivilkleidung hervorgeritten. Am Anzug und an der Sprache erkannte Pierre ihn sofort als einen Franzosen aus einem Moskauer Ladengeschäft.

»Er sieht nicht aus wie ein Mann aus dem Volk«, sagte der Dolmetscher zu dem Offizier, nachdem er Pierre gemustert hatte.

»Mir macht er ganz den Eindruck, als ob er einer der Brandstifter wäre«, antwortete der Offizier. »Fragen Sie ihn doch, was er ist«, fügte er hinzu.

»Wer seid du?« fragte der Dolmetscher in sehr schlechtem Russisch. »Du muß antworten dem Obrigkeit.«

»Ich werde euch nicht sagen, wer ich bin. Ich bin euer Gefangener. Führt mich weg«, sagte Pierre auf einmal auf französisch.

»Ah, ah!« sagte der Offizier und machte ein finsteres Gesicht. »Nun also weiter, marsch!«

Um die Ulanen hatte sich ein Haufe Menschen geschart. Am nächsten bei Pierre stand die pockennarbige Frau mit dem kleinen Mädchen; als die Patrouille sich wieder in Bewegung setzte, ging sie nebenher.

»Wohin bringen sie dich denn, lieber Mann?« sagte sie. »Und wo soll ich denn das kleine Mädchen lassen, wenn es denen nicht gehört?«

»Was will diese Frau?« fragte der Offizier.[622]

Pierre war wie betrunken. Dieser verzückte Zustand steigerte sich noch beim Anblick des kleinen Mädchens, das er gerettet hatte.

»Was sie will?« antwortete er. »Sie bringt mir meine Tochter, die ich soeben aus den Flammen gerettet habe ... Adieu!« Und ohne selbst zu wissen, wie er dazu gekommen war, diese zwecklose Lüge auszusprechen, schritt er mit entschlossenem, feierlichem Gang zwischen den Franzosen einher.

Diese französische Patrouille war eine von denen, die auf Durosnels Anordnung durch verschiedene Straßen Moskaus geschickt waren, um dem Plündern Einhalt zu tun, und namentlich um die Brandstifter abzufassen, die nach einer an diesem Tag bei den höheren französischen Kommandostellen allgemein aufgekommenen Meinung die Urheber der Feuersbrünste waren. Bei ihrem weiteren Ritt durch einige Straßen nahm die Patrouille noch fünf verdächtige Russen fest, einen Ladenbesitzer, zwei Seminaristen, einen Bauern und einen herrschaftlichen Diener, und ferner mehrere Plünderer. Aber von allen Verdächtigen erschien als der Verdächtigste Pierre. Als sie alle für die Nacht nach einem großen Haus am Subowski-Wall transportiert waren, in dem die Hauptwache eingerichtet war, wurde Pierre unter strenger Bewachung in einem gesonderten Raum untergebracht.[623]

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 617-624.
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