VIII

[450] Nachdem Pierre zum zweitenmal, schon gegen Ende der Schlacht bei Borodino, von der Rajewskischen Batterie hinuntergelaufen war, schlug er mit mehreren Soldatentrupps durch einen Hohlweg die Richtung nach Knjaskowo ein und gelangte zu dem Verbandsplatz. Als er dort das Blut sah und das Schreien und Stöhnen hörte, ging er, sich unter die Soldatenhaufen mischend, eilig weiter.

Das einzige, was Pierre jetzt aus aller Kraft seiner Seele wünschte, war, so schnell wie nur möglich von den furchtbaren Eindrücken loszukommen, unter denen er diesen Tag verlebt hatte, zu den gewöhnlichen Lebensverhältnissen zurückzukehren und ruhig in seinem Zimmer in seinem Bett einzuschlafen. Er fühlte, daß er nur in seinen gewöhnlichen Lebensverhältnissen imstande sein werde, sich selbst und alles, was er gesehen und erlebt hatte, zu verstehen. Aber diese gewöhnlichen Lebensverhältnisse waren eben nicht vorhanden.

Kanonen- und Flintenkugeln pfiffen zwar hier auf dem Weg, den er verfolgte, nicht umher; aber im übrigen war es ringsum dasselbe Bild wie dort auf dem Schlachtfeld. Da war derselbe Ausdruck des Leidens, der Erschöpfung und manchmal eines seltsamen Gleichmutes auf den Gesichtern, dasselbe Blut, dieselben Soldatenmäntel, dieselben Töne des zwar entfernten, aber trotzdem noch Schrecken erregenden Schießens; außerdem schwüle Luft und arger Staub.

Nachdem Pierre etwa drei Werft auf der großen Straße nach Moschaisk zurückgelegt hatte, setzte er sich am Rand derselben nieder.

Die Dämmerung senkte sich auf die Erde hinab, und der Donner der Geschütze verstummte. Den Kopf auf den Arm gestützt, legte[451] sich Pierre hin; so lag er lange und blickte nach den Schatten, die sich in der Dunkelheit an ihm vorbeibewegten. Alle Augenblicke kam es ihm vor, als ob mit furchtbarem Pfeifen eine Kanonenkugel auf ihn herabgeflogen käme; dann fuhr er zusammen und richtete sich ein wenig auf. Wieviel Zeit er so zugebracht haben mochte, dafür hatte er kein Bewußtsein. Um Mitternacht ließen sich drei Soldaten, nachdem sie Reisig herbeigeschleppt hatten, in seiner Nähe nieder und begannen ein Feuer anzumachen.

Immer nach Pierre hinschielend, brachten die Soldaten ihr Feuer in Gang, stellten einen Feldkessel mit Wasser darüber, brockten Zwieback hinein und taten Speck dazu. Der angenehme Geruch des appetitlichen, fetten Essens vermischte sich mit dem Geruch des Rauches. Pierre richtete sich auf und seufzte. Die drei Soldaten aßen, ohne sich um ihn zu kümmern, und redeten untereinander.

»Was bist du denn eigentlich für einer?« wandte sich plötzlich einer von ihnen zu Pierre; er meinte mit dieser Frage offenbar noch etwas anderes, was auch Pierre sofort verstand, nämlich: »Wenn du mitessen willst, so wollen wir dir etwas abgeben; aber sage vorher, ob du auch ein ordentlicher Mensch bist.«

»Ich? ich?« erwiderte Pierre, der die Notwendigkeit fühlte, seine gesellschaftliche Stellung möglichst zu verkleinern, um dadurch den Soldaten näherzurücken und verständlicher zu werden. »Ich bin eigentlich Landwehroffizier; ich habe nur meine Leute nicht bei mir; ich bin mit ihnen in den Kampf gekommen, und da bin ich von ihnen getrennt worden.«

»Na, nun sieh mal an!« sagte einer von den Soldaten.

Ein anderer Soldat wiegte den Kopf hin und her.

»Na gut, wenn du magst, iß von unserer Zwiebacksuppe!« sagte[452] der erste und reichte Pierre seinen hölzernen Löffel, nachdem er ihn vorher abgeleckt hatte.

Pierre setzte sich ans Feuer und aß von der Zwiebacksuppe im Kessel, und diese Suppe erschien ihm schmackhafter als alle Gerichte, die er je gegessen hatte. Während er, über den Kessel gebeugt, gierig große Löffel voll herausholte und einen nach dem andern kaute und hinunterschluckte und sein Gesicht im Schein des Feuers deutlich zu sehen war, betrachteten ihn die Soldaten schweigend.

»Sag doch mal, wo willst du denn hin?« fragte ihn wieder einer von ihnen.

»Ich will nach Moschaisk.«

»Du bist wohl ein Herr?«

»Ja.«

»Und wie heißt du?«

»Pjotr Kirillowitsch.«

»Na, Pjotr Kirillowitsch, dann komm mit; wir wollen dich hinbringen.«

In völliger Dunkelheit gingen die Soldaten mit Pierre nach Moschaisk.

Die Hähne krähten schon, als sie nach Moschaisk gelangten und den steilen Berg bei der Stadt hinaufzusteigen begannen. Pierre ging mit den Soldaten mit, ohne daran zu denken, daß seine Herberge am Fuß des Berges lag und er schon an ihr vorbei war. Bei dem Zustand der Verstörtheit, in dem er sich befand, würde er sich überhaupt nicht mehr daran erinnert haben, wenn ihm nicht auf halber Höhe des Berges sein Reitknecht begegnet wäre, der sich nach der Stadt begeben hatte, um dort nach ihm zu suchen, und nun auf dem Rückweg nach ihrer Herberge war. Der Reitknecht erkannte Pierre an seinem weißen Hut, der durch die Dunkelheit schimmerte.[453]

»Euer Erlaucht!« rief er. »Wir waren schon ganz verzweifelt. Und Sie sind zu Fuß? Wohin gehen Sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Ach ja!« antwortete Pierre.

Die Soldaten waren stehengeblieben.

»Na, hast du einen von deinen Leuten gefunden?« fragte einer von ihnen. »Na, dann adje, Pjotr Kirillowitsch, so heißt du ja wohl.«

»Adje, Pjotr Kirillowitsch«, sagten auch die beiden andern.

»Adieu!« antwortete Pierre und schlug mit seinem Reitknecht die Richtung nach der Herberge ein.

»Ich muß ihnen wohl etwas geben!« dachte Pierre und griff in die Tasche. »Nein, das ist nicht das richtige«, sagte ihm eine innere Stimme.

In den Stuben der Herberge war kein Platz; sie waren sämtlich besetzt. Pierre ging auf den Hof, legte sich in seinen Wagen und hüllte den Kopf in den Mantelkragen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 450-454.
Lizenz:
Kategorien: