XII

[425] Wie in jeder richtigen Familie, so lebten auch im Gutshaus von Lysyje-Gory mehrere völlig verschiedene Elemente zusammen, die, indem ein jedes, ohne seine Besonderheit aufzugeben, den andern mancherlei Konzessionen machte, zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen. Jedes Ereignis, das sich im Haus zutrug, war in Freude oder Leid für alle diese Elemente in gleicher Weise wichtig; aber jedes Element hatte seine[425] völlig eigenen, von den andern unabhängigen Gründe, über irgendein Ereignis froh oder betrübt zu sein.

So war auch Pierres Ankunft ein frohes, wichtiges Ereignis und übte in diesem Sinn auf alle seine Wirkung aus.

Die Dienstboten, die die zuverlässigsten Richter der Herrschaft sind, weil sie nicht nach Reden und Gefühlsäußerungen, sondern nach den Handlungen und der gesamten Lebensweise urteilen, freuten sich über Pierres Ankunft, weil sie wußten, daß während seiner Anwesenheit Graf Rostow nicht mehr täglich durch die Wirtschaft gehen und heiterer und gutmütiger sein werde, und dann auch deshalb, weil jeder von ihnen reiche Geschenke zum Festtag erwarten durfte.

Die Kinder und Gouvernanten freuten sich über Besuchows Ankunft, weil niemand sie so zu dem gemeinsamen geselligen Leben mit heranzog wie Pierre. Er allein konnte auf dem Klavier jene berühmte Ekossaise spielen (übrigens sein einziges Stück), nach der man, wie er versicherte, alle möglichen Tänze tanzen konnte; und dann hatte er gewiß auch Geschenke für alle mitgebracht.

Nikolenka, jetzt ein fünfzehnjähriger, magerer, kränklicher, kluger Knabe mit blondem, lockigem Haar und schönen Augen, freute sich, weil Onkel Pierre, wie er ihn nannte, der Gegenstand seiner Bewunderung und leidenschaftlichen Liebe war. Niemand hatte dem Knaben eine besondere Liebe zu Pierre einzuprägen gesucht, und er hatte ihn nur selten gesehen. Seine Erzieherin, Gräfin Marja, wandte alle Mittel, die in ihrer Macht standen, an, um Nikolenka dahin zu bringen, daß er ihren Mann ebenso liebhaben möchte, wie sie ihn liebte; und Nikolenka hatte seinen Onkel ja auch wirklich lieb, aber doch mit einer ganz leisen Nuance von Geringschätzung. Pierre dagegen vergötterte er. Er wollte nicht Husar werden und das Georgskreuz bekommen wie Onkel Nikolai; er wollte gelehrt, klug und gut werden wie[426] Pierre. Sobald Pierre zugegen war, lag auf dem Gesicht des Knaben immer ein freudiger Glanz, und er errötete und konnte kaum atmen, wenn Pierre ihn anredete. Er ließ sich kein Wort von dem, was Pierre sagte, entgehen und rief sich dann nachher mit Dessalles oder auch für sich allein jedes Wort Pierres ins Gedächtnis zurück und suchte sich über den Sinn desselben klarzuwerden. Pierres früheres Leben, sein Unglück vor dem Jahr 1812 (wovon er sich aus einzelnen Äußerungen, die er gehört hatte, eine unklare, poetische Vorstellung zurechtgemacht hatte), seine Abenteuer in Moskau, seine Gefangenschaft, Platon Karatajew (über den er von Pierre manches gehört hatte), seine Liebe zu Natascha (zu der der Knabe gleichfalls eine ganz besondere Liebe hegte) und vor allen Dingen seine Freundschaft mit seinem Vater, auf den Nikolenka sich nicht mehr besinnen konnte, alles dies machte Pierre für ihn zu einem Helden und zu einem Gegenstand heiliger Scheu.

Aus abgerissenen Reden über seinen Vater und Natascha, aus der besonderen Erregung, mit welcher Pierre über den Verstorbenen sprach, aus der vorsichtigen, ehrfurchtsvollen Zärtlichkeit, mit der Natascha seiner Erwähnung tat, hatte sich der Knabe, der soeben anfing etwas von Liebe zu ahnen, eine Vorstellung zurechtgemacht, daß sein Vater Natascha geliebt und, als er starb, seinem Freund vermacht habe. Dieser Vater aber, für den der Knabe keine Erinnerung mehr hatte, erschien ihm wie eine Gottheit, von der er sich kein Bild machen dürfe und an die er nur mit stockendem Herzschlag und mit Tränen der Trauer und des Entzückens dachte. Und auch er war glücklich über Pierres Ankunft.

Die Gäste freuten sich, daß Pierre wieder da war, weil er jede Gesellschaft zu beleben und in ihr das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erwecken verstand.[427]

Die erwachsenen Hausgenossen, von seiner Frau ganz zu schweigen, waren froh über die Heimkehr des Freundes, bei dessen Anwesenheit man leichter und behaglicher lebte.

Die alten Damen freuten sich sowohl über die Geschenke, die er mitbringen werde, als auch ganz besonders darüber, daß Natascha nun wieder werde frischer und lebendiger sein.

Pierre kannte diese verschiedenen Gesichtspunkte recht wohl, von denen aus die verschiedenen Elemente ihn betrachteten, und beeilte sich, einem jeden zukommen zu lassen, was derselbe erwartete.

Pierre, der zerstreuteste, vergeßlichste Mensch auf der Welt, hatte diesmal nach einem von seiner Frau zusammengestellten Verzeichnis alles gekauft und nichts vergessen, weder die Aufträge ihrer Mutter und ihres Bruders, noch die Geschenke zum Feiertag, noch das Kleid für Fräulein Bjelowa, noch das Spielzeug für die Neffen und Nichten. In der ersten Zeit seiner Ehe war ihm diese Forderung seiner Frau, das, was er einzukaufen übernommen hatte, auch wirklich alles zu besorgen, ohne etwas zu vergessen, recht sonderbar vorgekommen, und ihr ernstlicher Verdruß, als er bei seiner ersten Reise alles vergessen hatte, hatte ihn höchlichst überrascht. Aber in der Folge hatte er sich daran gewöhnt. Da er wußte, daß Natascha ihm für ihre eigene Person keine Aufträge gab und für andere nur dann, wenn er sich selbst dazu anbot, so fand er jetzt zu seiner eigenen Überraschung ein kindliches Vergnügen an diesen Einkäufen von Geschenken für das ganze Haus und vergaß dabei nie jemanden. Wenn er sich Vorwürfe Nataschas zuzog, so war es nur dafür, daß er Überflüssiges gekauft und zu hohe Preise bezahlt hatte. Die Mehrzahl der Hausgenossen war der Ansicht, daß zu allen bisherigen Fehlern Pierres, wie Unordnung und Nachlässigkeit (Pierre selbst hielt dies freilich für Vorzüge), Natascha noch den Geiz hinzuzugesellen suche.[428]

Von dem Tag an, wo Pierre angefangen hatte, einen großen Haushalt zu führen und eine Familie zu unterhalten, die große Ausgaben erforderte, bemerkte er zu seiner Verwunderung, daß er nur halb soviel verbrauchte wie früher und daß seine finanziellen Verhältnisse, die in der letzten Zeit, namentlich durch die Schulden seiner ersten Frau, stark zerrüttet gewesen waren, sich wieder zu bessern anfingen.

Das Leben kam ihm jetzt billiger zu stehen, weil es an eine bestimmte Ordnung gebunden war: den teuren Luxus, der darin bestand, so zu leben, daß man seine Lebensweise jeden Augenblick ändern konnte, erlaubte sich Pierre nicht mehr, und er hatte auch nicht die geringste Sehnsucht danach. Er fühlte, daß seine Lebensweise jetzt ein für allemal bis zu seinem Tod fest geregelt sei, und daß es gar nicht in seiner Macht stehe, sie zu ändern, und daß deshalb diese Lebensweise billiger sei.

Pierre packte mit vergnügtem, lachendem Gesicht seine Einkäufe aus.

»Was sagst du hierzu?« sagte er, während er, wie ein Kommis, ein Stück Zeug auseinanderschlug.

Natascha saß ihm gegenüber; sie hatte ihr ältestes Töchterchen auf dem Schoß und ließ ihre glänzenden Augen schnell zwischen ihrem Mann und dem, was er vorzeigte, hin und her gehen.

»Das ist für Fräulein Bjelowa? Wunderschön.« (Sie befühlte die Qualität.) »Das kostet wohl einen Rubel die Elle?«

Pierre nannte den Preis.

»Das ist teuer«, sagte Natascha. »Wie sich die Kinder freuen werden, und Mama! Aber für mich hättest du das nicht kaufen sollen«, fügte sie hinzu, vermochte aber doch nicht ein Lächeln zu unterdrücken, als sie den goldenen, mit Perlen besetzten Kamm betrachtete, wie sie damals gerade Mode wurden.[429]

»Adele wollte mir abreden: ›Sie kaufen und kau fen!‹ sagte sie«, berichtete Pierre.

»Wann werde ich denn den tragen?« Natascha steckte ihn sich ins Haar. »Wenn wir unsere kleine Marja in Gesellschaft führen werden; vielleicht trägt man dann wieder solche. Nun, dann komm.«

Sie faßten ihre Geschenke zusammen und gingen zuerst in das Kinderzimmer, dann zu der alten Gräfin.

Die Gräfin war schon über sechzig Jahre alt. Sie hatte graues Haar und trug eine Haube, die ihr ganzes Gesicht mit einer Rüsche umrahmte. Ihr Gesicht war runzlig, die Oberlippe eingeschrumpft, die Augen blickten trübe.

Nachdem ihr Sohn und ihr Mann so schnell hintereinander gestorben waren, hatte sie die Empfindung, sie sei ein Wesen, das nur so zufällig auf der Welt vergessen sei und keinen Sinn und Zweck mehr habe. Sie aß und trank, schlief und wachte; aber sie lebte eigentlich nicht. Das Leben machte ihr keinen Eindruck. Sie verlangte vom Leben nichts als Ruhe, und diese Ruhe konnte sie nur im Tod finden. Aber bis der Tod kam, mußte sie leben, d.h. ihre Lebenskräfte gebrauchen. Es trat bei ihr im höchsten Grad eine Eigenheit hervor, die man bei sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten wahrnehmen kann. Es war in ihrem Leben kein äußerer Zweck zu sehen; sichtbar war bei ihr nur das Bedürfnis, ihre mancherlei Neigungen und Fähigkeiten zu üben. Sie mußte essen, schlafen, den ken, reden, weinen, arbeiten, sich ärgern usw., lediglich weil sie einen Magen, ein Gehirn, Muskeln, Nerven und eine Leber hatte. Alles dies tat sie, ohne durch eine äußere Einwirkung dazu veranlaßt zu[430] sein, nicht so, wie das Menschen tun, die in voller Lebenskraft stehen, wo man über dem Zweck, den sie selbst verfolgen, den andern Zweck, der in dem Gebrauch der vorhandenen Kräfte besteht, nicht wahrnimmt. Sie redete nur, weil es ihr ein physisches Bedürfnis war, mit der Lunge und der Zunge zu arbeiten. Sie weinte wie ein Kind, weil es ihr ein Bedürfnis war, die Flüssigkeit aus den Augen und der Nase loszuwerden, usw. Wo Leute, die in voller Lebenskraft stehen, einen Zweck haben, da benutzte sie offenbar nur eine Gelegenheit.

So zeigte sich bei ihr morgens, namentlich wenn sie am vorhergehenden Abend etwas Fettes gegessen hatte, das Bedürfnis, sich zu ärgern, und dann wählte sie sich dazu als die nächste Gelegenheit Fräulein Bjelowas Taubheit.

Sie sagte zu ihr irgend etwas leise vom andern Ende des Zimmers her.

»Heute scheint es etwas wärmer zu sein, meine Liebe«, sagte sie flüsternd.

Und wenn dann Fräulein Bjelowa antwortete: »Gewiß, sie sind angekommen«, so brummte sie ärgerlich vor sich hin: »Mein Gott, wie taub und dumm!«

Eine andre Gelegenheit bot sich durch ihren Schnupftabak, der ihr bald zu trocken, bald zu feucht, bald schlecht gerieben vorkam. Nach diesen Gemütserregungen ergoß sich ihr die Galle ins Gesicht, und ihre Stubenmädchen wußten schon an sicheren Vorzeichen voraus, wann Fräulein Bjelowa wieder taub und der Tabak wieder zu feucht und das Gesicht der alten Gräfin wieder gelb sein werde. Ebenso wie es ihr ab und zu Bedürfnis war, ihre Galle ein wenig arbeiten zu lassen, so mußte sie auch von Zeit zu Zeit die ihr noch verbliebenen Fähigkeiten in Tätigkeit setzen, z.B. die Denkfähigkeit, und dazu bot die Patience eine geeignete Gelegenheit. Wenn sie das Bedürfnis hatte zu[431] weinen, so war der verstorbene Graf ein passender Gegenstand. Wenn sie das Bedürfnis hatte sich zu beunruhigen, so fand sie dazu Gelegenheit bei Nikolai und seiner Gesundheit. Verlangte es sie, spitze, giftige Reden zu führen, so war dazu Gräfin Marja ein stets bereiter Anlaß. Verspürte sie das Bedürfnis, ihr Sprechorgan zu üben (dies war meist gegen sieben Uhr abends der Fall, nachdem sie zum Zweck der Verdauung sich in der dunklen Stube eine Weile ausgeruht hatte), so zog sie die Gelegenheit an den Haaren herbei, immer dieselben Geschichten denselben Zuhörern zu erzählen.

Über diesen Zustand der alten Dame waren alle Hausgenossen sich klar, wiewohl nie jemand darüber sprach und alle sich aufs eifrigste bemühten, diese ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Nur selten fand dieses gemeinsame Verständnis für den Zustand der alten Gräfin seinen Ausdruck in einem traurigen, leise lächelnden Blick, den Nikolai, Pierre, Natascha und Gräfin Marja miteinander wechselten.

Aber diese Blicke sagten außerdem noch etwas anderes. Sie sagten, daß die alte Gräfin ihre Lebensarbeit bereits beendet habe, daß das, was man jetzt von ihr sehe, nur eine Ruine sei, daß auch sie selbst alle einmal so sein würden, und daß sie sich ihr gern fügten, sich gern überwänden, um diesem teuren Wesen gefällig zu sein, das einstmals ebenso lebensvoll gewesen sei, wie sie selbst, und jetzt ein so klägliches Schauspiel biete. »Memento mori«, sagten diese Blicke.

Unter allen Hausbewohnern waren es nur ganz schlechte und dumme Menschen und die kleinen Kinder, die das nicht verstanden und sich von der alten Gräfin fernhielten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 425-432.
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