XIII

[432] Als Pierre und seine Frau in den Salon kamen, befand sich die Gräfin in jenem gewohnheitsmäßigen Zustand, in dem es ihr ein Bedürfnis war, sich mit geistiger Arbeit, d.h. mit der grande patience, zu beschäftigen. Sie sagte zwar gewohnheitsmäßig die Worte, die sie immer sagte, wenn Pierre oder ihr Sohn zurückkamen: »Endlich, endlich, mein Lieber; wir haben dich ungeduldig erwartet. Nun, Gott sei Dank, daß du wieder da bist!«, und auch als ihr die Geschenke überreicht wurden, gebrauchte sie andere, ebenso gewohnheitsmäßige Redewendungen: »Noch mehr als über das Geschenk freue ich mich über die Gesinnung des Gebers. Ich danke dir, daß du mich alte Frau so bedacht hast«; aber trotzdem war es augenscheinlich, daß Pierres Kommen ihr in diesem Augenblick unangenehm war, weil es ihre Aufmerksamkeit von der noch nicht fertig gelegten grande patience ablenkte. Sie beendete die Patience und machte sich dann erst an die Geschenke. Diese Geschenke bestanden aus einem schön gearbeiteten Futteral für Spielkarten, aus einer hellblauen, mit einem Deckel versehenen Sevrestasse, auf welcher Hirtinnen dargestellt waren, und aus einer goldenen Tabaksdose mit einem Porträt des Grafen, das Pierre in Petersburg von einem Miniaturmaler hatte malen lassen. (Dies hatte sich die Gräfin schon lange gewünscht.) Sie hatte jetzt keine Lust zu weinen, und daher sah sie das Porträt gleichgültig an und beschäftigte sich mehr mit dem Futteral.

»Ich danke dir, mein Lieber; du hast mir eine große Freude gemacht«, sagte sie, wie sie immer sagte. »Aber das beste ist doch, daß du dich selbst wieder mitgebracht hast. Es war hier auch schon eine ganz tolle Wirtschaft; schelte nur deine Frau[433] ordentlich aus. Was das nur vorstellen sollte? Wie eine Irrsinnige hat sie sich benommen, während du weg warst. Sie sah nichts und hörte nichts«, sagte sie, auch dies waren gewohnheitsmäßige Wendungen. »Sieh nur, Anna Timofjejewna, was für ein schönes Futteral uns mein Schwiegersohn mitgebracht hat.«

Fräulein Bjelowa rühmte die Geschenke und zeigte sich entzückt von dem Kleiderstoff.

Pierre, Natascha, Nikolai, Gräfin Marja und Denisow hatten allerdings den Wunsch, vieles miteinander zu besprechen, was sie in Gegenwart der Gräfin nicht wohl besprechen konnten, nicht weil sie ihr etwas hätten verheimlichen wollen, sondern weil sie mit ihren Kenntnissen auf vielen Gebieten so zurückgeblieben war, daß, wenn man anfing in ihrer Gegenwart über irgend etwas zu reden, man ihre störend eingeschobenen Fragen beantworten und ihr von neuem auseinandersetzen mußte, was ihr schon ein paarmal auseinandergesetzt worden war: daß der und der gestorben sei, der und der sich verheiratet habe, was ihr immer wieder entfiel. Aber trotz dieses Wunsches saßen sie wie gewöhnlich im Salon beim Tee um den Samowar herum, und Pierre antwortete auf die Fragen der Gräfin, die für sie selbst keinen Zweck hatten und auch sonst niemand interessierten: daß Fürst Wasili recht gealtert aussehe und Gräfin Marja Alexejewna ihm Grüße und Empfehlungen aufgetragen habe usw.

Ein derartiges Gespräch, das für niemand Interesse hatte, aber sich doch nicht vermeiden ließ, wurde während der ganzen Zeit des Teetrinkens geführt. Um den runden Tisch mit dem Samowar, bei welchem Sonja saß, hatten sich alle erwachsenen Mitglieder der Familie versammelt. Die Kinder, ihre Erzieher und Gouvernanten waren schon mit dem Teetrinken fertig,[434] und ihre Stimmen klangen aus dem anstoßenden Zimmer herüber. Beim Tee saßen alle auf ihren gewohnten Plätzen: Nikolai hatte sich beim Ofen an einem kleinen Tischchen niedergelassen, wohin ihm sein Tee gebracht wurde. Die alte Jagdhündin Milka, eine Tochter der ersten Milka, mit vollständig ergrautem Gesicht, aus dem die großen, schwarzen Augen noch schärfer hervortraten, lag auf einem Stuhl neben ihm. Denisow, dessen krauses Kopfhaar, Schnurrbart und Backenbart schon zur Hälfte grau geworden waren, saß in seinem aufgeknöpften Generalsrock neben Gräfin Marja. Pierre saß zwischen seiner Frau und der alten Gräfin. Er erzählte allerlei Dinge, von denen er wußte, daß sie die alte Dame interessieren konnten und ihr verständlich waren. Er sprach von äußerlichen Ereignissen in der Gesellschaft und von Leuten, die ehemals den Kreis der Altersgenossen der alten Gräfin gebildet hatten, Leute, die ehemals ein wirklicher, lebendiger, besonderer Kreis gewesen waren, die aber jetzt, größtenteils in der Welt zerstreut, ebenso wie die alte Gräfin, ihren Lebensrest mit einer Ährenlese von dem, was sie im Leben gesät hatten, hinbrachten. Aber gerade diese Leute, ihre Altersgenossen, und nur sie, erschienen der alten Gräfin als die wahre und wirkliche Welt. An Pierres Lebhaftigkeit merkte Natascha, daß seine Reise interessant gewesen war und er Lust hatte, viel zu erzählen, aber in Gegenwart der Gräfin nicht zu reden wagte. Denisow, der kein Mitglied der Familie war und darum für Pierres Vorsicht kein Verständnis besaß, außerdem aber, als Mißvergnügter, sich sehr für die Vorgänge in Petersburg interessierte, suchte Pierre fortwährend zu allerlei Mitteilungen zu veranlassen, bald über die Geschichte mit dem Semjonower Regiment, die sich soeben zugetragen hatte, bald über Araktschejew, bald über die Bibelgesellschaft. Manchmal ließ sich Pierre hinreißen und begann[435] zu erzählen; aber jedesmal lenkten Nikolai und Natascha ihn wieder zurück zu Berichten über das Befinden des Fürsten Iwan und der Gräfin Marja Antonowna.

»Na, wie steht es denn? Dauert denn dieser ganze Unfug mit Goßner und der Frau Tatarinowa immer noch fort?« fragte Denisow.

»Ob er noch fortdauert?« rief Pierre. »Er steht in vollerer Blüte als jemals. Die Bibelgesellschaft hat jetzt die ganze Regierungsgewalt in Händen!«

»Was soll das heißen, lieber Freund?« fragte die Gräfin, die mit ihrem Tee fertig war und nun augenscheinlich einen Anlaß suchte, um sich nach dem Imbiß ein wenig zu ärgern. »Was sagst du da: die Regierungsgewalt? Das verstehe ich nicht.«

»Ja, wissen Sie, Mama«, mischte sich Nikolai hinein, welcher wußte, wie man so etwas in die Sprache der Mutter übersetzen mußte, »da hat Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn eine Gesellschaft gegründet und besitzt dadurch einen großen Einfluß, wie man sagt.«

»Araktschejew und Golizyn«, sagte Pierre unvorsichtig, »die stellen jetzt die ganze Regierung dar. Eine nette Regierung! Überall sieht sie Verschwörung, vor allem und jedem hat sie Furcht.«

»Wie? Dem Fürsten Alexander Nikolajewitsch soll etwas vorzuwerfen sein? Das ist ein höchst achtungswerter Mann. Ich bin ihm damals bei Marja Antonowna begegnet«, sagte die Gräfin in einem Ton, als ob sie sich beleidigt fühlte; und noch mehr beleidigt dadurch, daß alle schwiegen, fuhr sie fort: »Heutzutage ist es Mode geworden, einen jeden zu kritisieren. Eine christliche Gesellschaft, was ist daran Schlechtes?« Damit stand sie auf (alle andern erhoben sich gleichfalls) und schritt mit strenger Miene in das Sofazimmer zu ihrem Tisch.[436]

In das peinliche Schweigen, das hierauf eingetreten war, tönten aus dem Nachbarzimmer das Gelächter und die munteren Reden der Kinder herein. Offenbar befanden sich die Kinder in einer besonderen freudigen Erregung.

»Fertig, fertig!« hörte man aus allen Stimmen heraus das lustige Kreischen der kleinen Natascha.

Pierre wechselte mit Gräfin Marja und Nikolai einen Blick (seine Frau sah er fortwährend an) und lächelte glückselig.

»Das ist eine prächtige Musik!« sagte er.

»Da wird wohl Anna Makarowna mit einem Strumpf fertiggeworden sein«, bemerkte Gräfin Marja.

»Ach, da geh ich hin und seh zu«, rief Pierre, indem er aufsprang. »Weißt du«, sagte er, an der Tür stehenbleibend, zu seiner Frau, »warum ich diese Musik so besonders gern habe? Das ist das erste, woraus ich ersehe, daß alles gut steht. Da kam ich also heute an, und je näher ich dem Haus kam, um so größer wurde meine Beklommenheit. Als ich in das Vorzimmer kam, hörte ich, wie der kleine Andrei über irgend etwas aus vollem Hals lachte; na also, da wußte ich, daß alles in Ordnung war ...«

»Ich kenne dieses Gefühl, ich kenne es«, bestätigte Nikolai. »Aber ich für meine Person darf nicht hineingehen; denn die Strümpfe werden ja ein Geschenk, mit dem ich überrascht werden soll.«

Pierre ging zu den Kindern, und das Lachen und Schreien wurde noch stärker.

»Nun, Anna Makarowna«, hörte man Pierre sagen, »stellen Sie sich hier in die Mitte, und dann werde ich kommandieren: eins, zwei, und wenn ich sage: drei ... Du, stell du dich hierher! Warte, du kriegst auf die Hände! Nun, eins, zwei ...«, rief Pierre; es war ganz still geworden. »Drei!«[437] Und ein entzücktes Durcheinanderschreien der Kinderstimmen erhob sich in dem Zimmer. »Zwei, zwei Strümpfe!« riefen die Kinder.

Die Kinderfrau Anna Makarowna pflegte nach einer ihr bekannten geheimen Methode immer zwei Strümpfe zugleich zu stricken und, wenn sie fertig waren, in Gegenwart der Kinder einen aus dem andern herauszuziehen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 432-438.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon