XV

[446] Beim Abendessen handelte das Gespräch nicht mehr von Politik und Geheimbünden, sondern vielmehr von einem für Nikolai höchst angenehmen Gegenstand: von Erinnerungen an das Jahr 1812. Darauf hatte Denisow das Gespräch gebracht, und Pierre zeigte sich dabei ganz besonders liebenswürdig und unterhaltend. So trennten sich alle in der freundschaftlichsten Stimmung.

Nach dem Abendessen ging Nikolai in sein Zimmer, entkleidete sich dort und gab dem Verwalter, der auf ihn lange gewartet hatte, seine Befehle; dann begab er sich im Schlafrock ins Schlafzimmer, wo er seine Frau noch am Schreibtisch traf: sie schrieb etwas.

»Was schreibst du, Marja?« fragte Nikolai.

Gräfin Marja errötete. Sie fürchtete, daß das, was sie schrieb,[446] bei ihrem Mann kein Verständnis und keinen Beifall finden werde.

Sie hätte es ihm gern verborgen, was sie schrieb; aber gleichzeitig freute sich sich auch darüber, daß er sie dabei getroffen hatte und sie es ihm nun sagen mußte.

»Es ist ein Tagebuch, Nikolai«, sagte sie und reichte ihm ein blaues Heftchen, das zum Teil mit ihren festen, großen Schreibzügen gefüllt war.

»Ein Tagebuch?« erwiderte Nikolai mit einem leisen Anflug von Spott und nahm das Heft in die Hand.

Darin stand auf französisch folgendes geschrieben:

»Den 4. Dezember. Heute wollte Andrei« (der älteste Sohn), »nachdem er aufgewacht war, sich nicht anziehen, und Mademoiselle Luise ließ mich rufen. Er war unartig und eigensinnig. Ich versuchte es mit Drohungen; aber er wurde nur noch halsstarriger. Da nahm ich die Erledigung der Sache ganz auf mich, wandte mich von ihm weg und begann mit der Kinderfrau die andern Kinder zurechtzumachen, ihm aber sagte ich, daß ich ihm böse sei. Er schwieg lange, als wenn er erstaunt wäre; dann sprang er aus dem Bett, kam im bloßen Hemd zu mir gelaufen und schluchzte so heftig, daß ich ihn lange Zeit nicht beruhigen konnte. Offenbar war ihm das allerschmerzlichste, daß er mich betrübt hatte. Nachher am Abend, als ich ihm sein Zettelchen gab, küßte er mich und begann wieder kläglich zu weinen. Durch Zärtlichkeit kann man bei ihm alles erreichen.«

»Was ist denn das: sein Zettelchen?« fragte Nikolai.

»Ich habe angefangen, den älteren Kindern jeden Abend kleine Zensuren zu geben, wie sie sich aufgeführt haben.«

Nikolai blickte in die leuchtenden Augen, die ihn anschauten, und fuhr fort zu blättern und zu lesen. In dem Tagebuch war alles aus dem Kinderleben aufgezeichnet, was der Mutter bemerkenswert[447] erschienen war, weil es auf den Charakter der Kinder schließen ließ oder auf allgemeine Ideen über Erziehungsmethoden hinleitete. Es waren größtenteils ganz geringfügige Kleinigkeiten; aber weder die Mutter faßte sie so auf noch auch der Vater, als er jetzt zum erstenmal dieses Kindertagebuch las.

Unter dem 5. Dezember war notiert:

»Dmitri war bei Tisch unartig. Der Papa befahl, er sollte nichts von der süßen Speise bekommen. So geschah es auch; aber er sah die andern, während sie aßen, so kläglich und gierig an. Ich meine, daß eine Bestrafung durch Entziehung der süßen Speise nur die Gier entwickelt. Ich will das doch auch Nikolai sagen.«

Nikolai legte das Büchlein hin und blickte seine Frau an, deren leuchtende Augen auf ihn mit der stillen Frage gerichtet waren, ob das Tagebuch seinen Beifall habe oder nicht. Es war kein Zweifel darüber möglich, daß Nikolai nicht nur das Tagebuch billigte, sondern auch seine Frau aufrichtig bewunderte.

»Vielleicht braucht man das nicht in so pedantischer Weise zu machen; vielleicht ist es sogar überhaupt nicht nötig«, dachte Nikolai; aber diese unermüdliche, stetige geistige Anstrengung, deren Ziel nur das sittliche Wohl der Kinder war, erregte seine Bewunderung. Wäre er imstande gewesen, sich seiner eigenen Empfindungen klar bewußt zu werden, so würde er gefunden haben, daß die wichtigste Grundlage, auf der seine feste, zärtliche, stolze Liebe zu seiner Frau ruhte, immer dieses Gefühl der Bewunderung für ihr Seelenleben war, für diese hohe sittliche Welt, in der seine Frau stets lebte und die ihm selbst beinah unzugänglich war.

Er war stolz darauf, daß sie so klug und gut war, sah ein, daß er auf geistigem Gebiet hinter ihr zurückstand, und freute sich[448] um so mehr darüber, daß sie mit ihrer Seele nicht nur ihm gehörte, sondern sogar einen Teil seines eigenen Ich bildete.

»Das hat meinen vollen Beifall, meinen vollen Beifall, liebe Frau«, sagte er mit wichtiger Miene, und nach kurzem Stillschweigen fügte er hinzu: »Aber ich habe mich heute schlecht benommen. Du warst nicht in meinem Zimmer. Ich hatte einen Streit mit Pierre und wurde dabei etwas heftig. Aber es war auch nicht zum Aushalten. Er ist ja das reine Kind. Ich weiß nicht, was aus ihm werden sollte, wenn ihn Natascha nicht noch im Zaum hielte. Kannst du dir vorstellen, warum er nach Petersburg gereist war? Sie haben da so eine Art Bund gestiftet ...«

»Ja, ich weiß«, fiel Gräfin Marja ein. »Natascha hat es mir erzählt.«

»Na, also du weißt es«, fuhr Nikolai fort, der bei der bloßen Erinnerung an den Streit wieder hitzig wurde. »Er wollte mir beweisen, daß es die Pflicht jedes ehrenhaften Mannes sei, der Regierung entgegenzutreten, während doch Eid und Pflicht ... Schade, daß du nicht dabei warst. Und da fielen sie alle über mich her, auch Denisow und Natascha ... Natascha ist überhaupt eine zu komische Person. Sie hält ihn ja gehörig unter dem Pantoffel; aber sowie es zu einer Debatte kommt, hat sie gar keine eigenen Gedanken, sie redet geradezu mit Pierres eigenen Worten«, fügte Nikolai hinzu, da er jener unwiderstehlichen Neigung unterlag, die uns dazu verführt, gerade die Menschen, die uns die liebsten sind und uns am nächsten stehen, abfällig zu beurteilen.

Nikolai vergaß dabei, daß man Wort für Wort dasselbe, was er von Natascha sagte, auch von ihm selbst im Verhältnis zu seiner Frau sagen konnte.

»Ja, das habe ich auch bemerkt«, erwiderte Gräfin Marja.

»Als ich ihm sagte, Pflicht und Eid ständen höher als alles[449] andre, fing er an, Gott weiß was zu beweisen. Schade, daß du nicht dabei warst; was hättest du dazu gesagt?«

»Meiner Ansicht nach hast du vollständig recht«, sagte Gräfin Marja. »Das habe ich auch zu Natascha gesagt. Pierre sagt, alle hätten jetzt schwer zu leiden, würden gepeinigt, gerieten auf Abwege, und es sei unsere Pflicht, unserm Nächsten zu helfen. Natürlich hat er recht; aber er vergißt, daß wir noch andere, nähere Pflichten haben, auf die uns Gott selbst hingewiesen hat, und daß wir zwar unsere eigene Person aufs Spiel setzen dürfen, aber nicht unsere Kinder.«

»Na ja, siehst du, genau dasselbe habe ich ihm auch gesagt«, rief Nikolai einfallend, der sich wirklich einbildete, dasselbe gesagt zu haben. »Aber sie blieben bei ihrem Satz, daß die Liebe zum Nächsten und das Christentum usw ... Und das alles in Nikolenkas Gegenwart, der sich da ins Zimmer eingeschlichen hatte und alles zerbrach.«

»Ach ja, weißt du, Nikolai, Nikolenka macht mir so oft Sorge«, sagte Gräfin Marja. »Er ist ein ganz eigenartiger Charakter. Und ich fürchte, daß ich über der Beschäftigung mit meinen eigenen Kindern ihm nicht genug Teilnahme zuwende. Wir alle haben hier Kinder, jeder im Haus hat seine Familie, nur er hat niemanden. Er ist immer allein mit seinen Gedanken.«

»Nun, ich möchte doch meinen, daß du keinen Grund hast, dir seinetwegen Vorwürfe zu machen. Alles, was nur die zärtlichste Mutter für ihren Sohn tun kann, hast du für ihn getan und tust du noch für ihn. Und ich freue mich darüber natürlich. Er ist ein prächtiger, ganz prächtiger Junge. Heute hörte er in einer Art von Selbstvergessenheit zu, was Pierre sagte. Und denke mal: als wir hinausgehen wollen zum Abendbrot, da sehe ich, daß er auf meinem Schreibtisch alles kurz und klein gebrochen hat; und er sagte es auch sofort. Ich habe noch nie bemerkt, daß er die Unwahrheit[450] gesagt hätte. Ein prächtiger, ganz prächtiger Junge!« sagte Nikolai noch einmal, dem der Knabe im Grunde des Herzens nicht sympathisch war, der aber immer gern hervorhob, daß er ein prächtiger Junge sei.

»Ich bin ihm doch kein Ersatz für eine Mutter«, sagte Gräfin Marja. »Ich fühle meine Unzulänglichkeit, und das ist mir ein Schmerz. Er ist ein wunderbarer Knabe; aber ich bin um ihn in großer Sorge. Es wäre für ihn nützlich, wenn er Gesellschaft hätte.«

»Nun, es dauert ja nicht mehr lange; im nächsten Sommer bringe ich ihn nach Petersburg«, antwortete Nikolai. »Ja, Pierre ist von jeher ein Phantast gewesen und wird immer einer bleiben«, fuhr er fort, indem er auf das Gespräch zurückkam, das sie in seinem Zimmer geführt hatten; dieses Gespräch hatte ihn offenbar sehr erregt. »Na, was gehen mich alle diese Dinge an, daß Araktschejew ein schlechter Mensch sein soll usw.? Was habe ich mich um all dergleichen damals geschert, als ich mich verheiratete und so viel Schulden hatte, daß meine Gläubiger mich ins Loch stecken wollten, und dazu die Mutter, die das nicht sehen und begreifen konnte? Und dann nachher, als ich dich hatte und die Kinder und die Wirtschaft. Bin ich denn etwa zu meinem Vergnügen vom Morgen bis zum Abend in der Wirtschaft und im Kontor tätig? Nein, ich weiß, daß ich arbeiten muß, um meine Mutter zu versorgen, um dir meine Schuld zurückzuzahlen und um die Kinder nicht als solche Bettler zurückzulassen, wie ich einer war.«

Gräfin Marja hätte ihm gern gesagt, der Mensch lebe nicht vom Brot allein und er lege diesen materiellen Dingen eine zu große Wichtigkeit bei; aber sie wußte, daß es keinen Zweck und keinen Nutzen hatte, das zu sagen. Sie ergriff nur seine Hand und küßte sie. Er faßte diese Handlung seiner Frau als ein Zeichen[451] dafür, daß sie seine Anschauungen billige und teile, und nachdem er ein Weilchen schweigend nachgedacht hatte, fuhr er fort, seine Gedanken laut zu äußern.

»Weißt du, Marja«, sagte er, »heute ist Ilja Mitrofanowitsch« (dies war der Geschäftsführer) »von dem Gut im Tambowschen angekommen und berichtet, daß für den Wald schon achtzigtausend Rubel geboten sind.«

Und nun sprach Nikolai mit lebhafter Erregung von der Möglichkeit, in sehr kurzer Zeit Otradnoje wieder zurückzukaufen. »Wenn ich noch so zehn Jahre lebe, werde ich die Kinder in vorzüglichen Verhältnissen zurücklassen.«

Gräfin Marja hörte ihrem Mann zu und verstand alles, was er ihr sagte. Sie wußte, daß, wenn er in dieser Weise laut dachte, er sie manchmal fragte, was er gesagt habe, und ärgerlich wurde, wenn er merkte, daß sie an andere Dinge gedacht hatte. Aber sie mußte sich sehr zum Zuhören zwingen, da sie für das, was er sagte, gar kein Interesse hatte. Während sie ihn anblickte, hatte sie zwar nicht eigentlich andere Gedanken, aber andere Empfindungen. Sie empfand eine demütige, zärtliche Liebe zu diesem Mann, von dem sie wußte, daß er niemals Verständnis für alles das haben werde, wofür sie selbst Verständnis hatte; und es war, als liebe sie ihn deswegen noch stärker, mit einer Beigabe leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Außer diesem Gefühl, das sie ganz erfüllte und sie hinderte, in alle Einzelheiten der Pläne ihres Mannes einzudringen, huschten ihr noch Gedanken durch den Kopf, die mit dem, was er sagte, nichts gemein hatten. Sie dachte an ihren Neffen (die Erzählung ihres Mannes von der Aufregung desselben bei Pierres Auseinandersetzungen hatte auf sie einen starken Eindruck gemacht), und es traten ihr mancherlei Züge seines zarten, empfindsamen Charakters vor die Seele; und bei dem Gedanken an ihren Neffen mußte sie dann auch an ihre[452] eigenen Kinder denken. Sie verglich nicht den Neffen mit ihren Kindern, aber sie verglich ihr Gefühl für den einen mit ihrem Gefühl für die andern und fand zu ihrer Betrübnis, daß ihrem Gefühl für Nikolenka ein gewisser Mangel anhaftete.

Es kam ihr, wie auch sonst manchmal, der Gedanke, dieser Unterschied möge wohl vom Lebensalter herrühren; aber sie fühlte sich ihm gegenüber schuldig und gelobte sich im Herzen, sich zu bessern und das Unmögliche zu tun, d.h. in diesem Leben ihren Mann und ihre Kinder und Nikolenka und alle ihre Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hat. Die Seele der Gräfin Marja strebte immer dem Unendlichen, Ewigen, Vollkommenen zu und konnte darum niemals völlig ruhig sein. Auch jetzt trat auf ihr Gesicht der tiefernste Ausdruck eines verborgenen schweren Leides der vom Körper beschwerten Seele. Nikolai blickte sie an. »Mein Gott«, dachte er, »was soll aus uns werden, wenn sie stirbt! Und wenn ihr Gesicht so aussieht, kommen mir die schlimmsten Ahnungen!« Er trat vor das Heiligenbild und sprach das Abendgebet.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 446-453.
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