[453] Als Natascha mit ihrem Mann allein geblieben war, sprach sie gleichfalls mit ihm so, wie nur Mann und Frau miteinander sprechen, d.h. indem einer des andern Gedanken mit außerordentlicher Klarheit und Schnelligkeit erkennt und ihm ebenso die seinigen mitteilt, auf einem Weg, der allen Regeln der Logik zuwiderläuft, ohne das Mittel der Urteile, Schlüsse und Beweisführungen, vielmehr auf eine ganz besondere Weise. Natascha war dermaßen daran gewöhnt, mit ihrem Mann in dieser Art zu reden, daß ein logischer Gedankengang von seiten Pierres ihr als sicherstes Merkmal dafür diente, daß zwischen[453] ihr und ihrem Mann irgend etwas nicht richtig war. Wenn er zu beweisen und vernunftgemäß und ruhig zu sprechen anfing, und wenn sie dann selbst, unwillkürlich seinem Beispiel folgend, dasselbe tat, so wußte sie, daß dies mit Sicherheit zu einem Streit führte.
Von dem Augenblick an, wo sie miteinander allein geblieben waren und Natascha mit weitgeöffneten, glückseligen Augen leise zu ihm herangetreten war, auf einmal schnell seinen Kopf gefaßt und an ihre Brust gedrückt und gesagt hatte: »Jetzt gehörst du ganz mir, ganz mir! Nun kannst du mir nicht davon!«, von diesem Augenblick an hatte dieses Gespräch begonnen, das allen Gesetzen der Logik zuwiderlief, ihnen schon deshalb zuwiderlief, weil gleichzeitig über ganz verschiedene Gegenstände gesprochen wurde. Und diese gleichzeitige Erörterung vieler Dinge tat der Klarheit des Verständnisses in keiner Weise Eintrag, ja, sie war sogar das sicherste Zeichen dafür, daß die beiden Gatten einander vollständig verstanden.
Wie im Traum alles unrichtig, sinnlos und widerspruchsvoll ist, mit Ausnahme des Gefühls, das dem Traum zugrunde liegt, so waren auch bei diesem Gedankenaustausch, der allen Gesetzen der Vernunft widersprach, folgerichtig und klar nicht die gesprochenen Sätze, sondern das zugrunde liegende Gefühl.
Natascha erzählte ihrem Mann von der Lebensweise ihres Bruders, und was für ein trauriges Leben sie während der Abwesenheit ihres Mannes geführt habe, eigentlich gar kein Leben, und daß ihre Liebe zu Marja noch stärker geworden sei, und daß Marja in jeder Hinsicht besser sei als sie. Indem Natascha das sagte, erkannte sie aufrichtig Marjas höheren Wert an; aber gleichzeitig verlangte sie doch von Pierre, er solle sie dieser und allen anderen Frauen vorziehen und solle ihr gerade[454] jetzt, nachdem er in Petersburg so viele Frauen gesehen habe, dies von neuem versichern.
In Erwiderung auf Nataschas Mitteilungen erzählte ihr Pierre, wie unerträglich es ihm in Petersburg gewesen sei, Abendgesellschaften mitzumachen und mit Damen bei Tisch zu sitzen. »Ich habe es ganz verlernt, mich mit Damen zu unterhalten«, sagte er. »Es ist mir geradezu langweilig. Und noch dazu, da ich so sehr beschäftigt war.«
Natascha blickte ihn unverwandt an und fuhr fort:
»Marja ist ein entzückendes Wesen! Wie sie die Kinder versteht! Gerade als ob sie nur ihre Seelen sähe. Gestern z.B. war der kleine Dmitri unartig ...«
»Was hat der für eine überraschende Ähnlichkeit mit seinem Vater!« bemerkte Pierre, seine Frau unterbrechend.
Natascha durchschaute sofort, warum er diese Bemerkung über die Ähnlichkeit des kleinen Dmitri mit Nikolai gemacht hatte: die Erinnerung an seinen Streit mit seinem Schwager war ihm unangenehm, und er wollte gern Nataschas Meinung darüber hören.
»Es ist eine Schwäche Nikolais«, sagte sie, »daß er um keinen Preis einer Ansicht zustimmt, wenn sie nicht allgemein angenommen ist. Du dagegen, das weiß ich, legst gerade Wert darauf, neue Bahnen zu erschließen.« Diese letzten Worte waren die Wiederholung eines Ausdrucks, den Pierre einmal gebraucht hatte.
»Nein«, erwiderte Pierre, »die Hauptsache ist dies: für Nikolai sind Gedanken und Überlegungen eine Spielerei, eigentlich nur ein Mittel, um die Zeit hinzubringen. Da sammelt er sich nun eine Bibliothek und hat es sich zum Grundsatz gemacht, kein neues Buch zu kaufen, ehe er nicht das zuletzt gekaufte durchgelesen hat. Schriften von Sismondi, Rousseau und Montesquieu«,[455] fügte Pierre lächelnd hinzu. »Du weißt ja, wie ich ihn ...«, begann er, um das Gesagte herabzumildern; aber Natascha unterbrach ihn und gab ihm dadurch zu verstehen, daß das nicht nötig sei.
»Du meinst also, daß die Gedanken für ihn nur eine Spielerei sind ...«
»Ja, und für mich ist alles übrige Spielerei. Ich habe während der ganzen Zeit in Petersburg alle Menschen nur wie im Traum gesehen. Wenn mich ein Gedanke beschäftigt, so ist mir alles übrige Spielerei.«
»Ach, wie schade, daß ich nicht mit angesehen habe, wie du die Kinder begrüßt hast«, sagte Natascha. »Welche hat sich denn am meisten gefreut? Gewiß Lisa?«
»Ja«, antwortete Pierre und fuhr fort, von dem zu sprechen, was ihn beschäftigte. »Nikolai sagt, wir sollten nicht denken. Aber darauf zu verzichten ist mir unmöglich. Ich will gar nicht davon reden, daß ich in Petersburg die Empfindung hatte (dir kann ich das ja sagen), ohne meine Bemühung würde alles auseinanderfallen und jeder eine Partei für sich bilden. Aber mir ist es gelungen, sie alle zu vereinigen; und dann ist ja auch meine Idee so einfach und so klar. Ich sage ja nicht, daß wir gegen dies und das Widerstand leisten sollen. Wir könnten ja irren. Sondern ich sage: Reicht euch die Hände, ihr, die ihr das Gute liebt, und laßt uns nur dieses eine Panier haben: werktätige Tugend. Fürst Sergei ist ein prächtiger Mensch und ein kluger Mensch.«
Natascha hätte nicht daran gezweifelt, daß Pierres Idee eine große Idee sei; nur ein Umstand machte sie betroffen, nämlich daß er ihr Mann war. »Kann ein so bedeutender und für die menschliche Gesellschaft so unentbehrlicher Mensch wirklich zugleich mein Mann sein? Wie kann das zugegangen sein?« Gern[456] hätte sie ihm diesen Zweifel ausgesprochen. »Wo sind eigentlich die Leute zu finden, die imstande wären, ein Urteil darüber abzugeben, ob er wirklich soviel klüger ist als alle andern?« fragte sie sich und musterte in Gedanken alle diejenigen Menschen, welche Pierre besonders hochschätzte. Keinen von diesen Menschen schätzte er, nach seinen Erzählungen zu urteilen, so hoch wie seinen einstigen Leidensgenossen Platon Karatajew.
»Weißt du, woran ich denke?« sagte sie. »An Platon Karatajew. Wie würde der sich dazu stellen? Würde er dir jetzt zustimmen?«
Pierre wunderte sich über ihre Frage nicht im mindesten. Er verstand den Gedankengang seiner Frau.
»Platon Karatajew?« erwiderte er und dachte nach, offenbar ernstlich bemüht, sich von Karatajews Urteil über diesen Gegenstand eine Vorstellung zu bilden. »Er würde es nicht verstehen; übrigens vielleicht doch.«
»Ich liebe dich schrecklich!« sagte Natascha auf einmal. »Schrecklich, schrecklich liebe ich dich!«
»Nein, er würde mir nicht zustimmen«, sagte Pierre, nachdem er eine Weile überlegt hatte. »Was seinen Beifall haben würde, das wäre unser Familienleben. Er wollte in allem so gern Einklang und Glück und Ruhe sehen, und ich hätte ihm mit Stolz unsere Familie gezeigt. Du sprachst vom Getrenntsein; aber du glaubst gar nicht, was für eine besondere Empfindung ich für dich habe, wenn wir getrennt sind ...«
»Vielleicht, daß du mich noch ...«, begann Natascha.
»Nein, das nicht. Ich liebe dich stets, und mehr zu lieben ist unmöglich; aber dies ist etwas Besonderes ... Nun ja ...« Er sprach nicht zu Ende, weil ihre Blicke, die sich trafen, das übrige ergänzten.
»Was die Leute für Dummheiten reden«, sagte Natascha[457] auf einmal, »von den Flitterwochen, und daß die erste Zeit die glücklichste sei. Im Gegenteil; jetzt ist die beste Zeit. Wenn du nur nicht so oft fortreistest! Erinnerst du dich wohl noch, wie heftig wir uns manchmal gestritten haben? Und immer hatte ich un recht. Jawohl, immer ich. Und worüber wir uns gestritten haben, darauf kann ich mich gar nicht einmal mehr besinnen.«
»Es war immer derselbe Grund«, erwiderte Pierre lächelnd, »Eifer ...«
»Sprich es nicht aus; ich mag es nicht hören!« rief Natascha, und ein kalter, böser Glanz leuchtete in ihren Augen auf. »Hast du sie gesehen?« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.
»Nein; und wenn ich sie gesehen hätte, so würde ich sie nicht wiedererkannt haben.«
Sie schwiegen einen Augenblick.
»Ach, weißt du? Als du in Nikolais Zimmer sprachst, habe ich dich betrachtet«, begann Natascha wieder zu sprechen; sie bemühte sich offenbar, die Wolke zu verscheuchen, die sich an dem reinen Himmel gezeigt hatte. »Ihr seid euch ähnlich wie ein Ei dem andern, du und der Junge.« (So nannte sie ihr Söhnchen.) »Ach, ich muß zu ihm gehen ... Seine Zeit ist gekommen ... Aber es tut mir leid fortzugehen.«
Sie schwiegen wieder einige Sekunden. Dann wandten sie sich plötzlich gleichzeitig einander zu und begannen zu reden, Pierre voll Begeisterung und voll Zufriedenheit mit dem Erreichten, Natascha mit stillem, glückseligem Lächeln. Sobald sie merkten, daß sie durcheinandersprachen, hielten sie beide inne, und jeder wollte den andern zuerst reden lassen.
»Was wolltest du sagen? Sprich doch, sprich!«
»Nein, sprich du; ich habe weiter nichts, nur Dummheiten«, sagte Natascha.
Pierre sagte nun das, wozu er angesetzt hatte. Es war die[458] Fortsetzung seiner Mitteilungen über seine Erfolge in Petersburg, mit denen er so zufrieden war. Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er dazu berufen sei, der gesamten sozialen Entwicklung in Rußland und in der ganzen Welt eine neue Richtung zu geben.
»Ich wollte nur sagen, daß alle Ideen, die einen gewaltigen Erfolg haben, immer einfach sind. Meine ganze Idee besteht darin: wenn die lasterhaften Menschen sich zusammenschließen und dadurch eine Macht werden, so müssen die ehrenhaften Menschen dasselbe tun. Wie einfach, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und was wolltest du sagen?«
»Ich? Ach nichts, nur Dummheiten.«
»Nein, sag es doch.«
»Es sind ja nur Torheiten«, sagte Natascha, deren Lächeln noch heller und strahlender wurde. »Ich wollte nur etwas von unserm kleinen Petja sagen: heute als die Kinderfrau zu mir trat, um ihn mir abzunehmen, da lachte er, kniff die Augen zu und drückte sich an mich; er dachte gewiß, daß er sich versteckte. Er ist zu allerliebst. Da! Jetzt schreit er. Nun, dann gute Nacht!« Sie verließ das Zimmer.
Zu derselben Zeit brannte unten in Nikolenka Bolkonskis Schlafzimmer wie immer ein Lämpchen (der Knabe fürchtete die Dunkelheit, und man harte ihm diese Schwäche nicht abgewöhnen können). Dessalles schlief mit hochliegendem Oberkörper auf seinen vier Kissen, und seine römische Nase gab gleichmäßige Schnarchtöne von sich. Der Knabe war soeben, von kaltem Schweiß bedeckt, aufgewacht, saß mit weitgeöffneten Augen auf seinem Bett und blickte vor sich hin. Ein schrecklicher Traum hatte ihn geweckt. Er hatte im Traum sich[459] und Pierre mit Helmen auf dem Kopf gesehen, mit solchen Helmen, wie sie in seiner Ausgabe des Plutarch abgebildet waren. Er und Onkel Pierre zogen vor einem gewaltigen Heer einher. Dieses Heer bestand aus weißen, schrägen Linien, die die Luft nach Art jener Spinnenfäden erfüllten, die im Herbst herumfliegen und die Herr Dessalles fils de la Vierge nannte. Vor ihnen beiden her schwebte der Ruhm, von ähnlicher Beschaffenheit wie diese Fäden, nur etwas kräftiger. Sie beide, er und Pierre, schwebten leicht und freudig immer weiter und näherten sich immer mehr ihrem Ziel. Auf einmal begannen die Fäden, durch die sie vorwärts bewegt wurden, kraftlos zu werden und sich zu verwirren; sie fühlten sich beide schwerer. Und plötzlich stand Onkel Nikolai Iljitsch in strenger, drohender Haltung vor ihnen.
»Habt ihr das getan?« sagte er, indem er auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn hinwies. »Ich habe euch liebgehabt; aber ich habe Befehl von Araktschejew erhalten und werde den ersten, der noch weiter vordringt, töten.« Nikolenka blickte sich nach Pierre um; aber Pierre war nicht mehr da. Pierre war jetzt zu seinem Vater, dem Fürsten Andrei, geworden, und der Vater hatte keine Gestalt und Form; aber er war da, und bei seinem Anblick fühlte Nikolenka, wie ihn die Liebe schwach machte: er hatte die Empfindung, als ob er keine Kraft, keine Knochen, keinen innern Halt mehr hätte. Der Vater streichelte und bedauerte ihn. Aber Onkel Nikolai Iljitsch rückte ihnen immer näher. Eine furchtbare Angst packte den Knaben, und er erwachte.
»Mein Vater«, dachte er. »Mein Vater« (obgleich im Haus zwei wohlgetroffene Porträts vorhanden waren, stellte Nikolenka sich den Fürsten Andrei niemals in menschlicher Gestalt vor), »mein Vater war bei mir und hat mich gestreichelt. Er hat[460] mich gelobt, er hat Onkel Pierre gelobt. Alles, was er mir sagt, werde ich tun. Mucius Scävola hat seine Hand ins Feuer gehalten und verbrennen lassen. Aber warum sollte sich nicht auch in meinem Leben etwas Ähnliches begeben? Ich weiß, sie wollen, daß ich lernen soll. Ich werde auch lernen. Aber es wird einmal die Zeit kommen, wo ich zu lernen aufhören werde, und dann werde ich handeln. Ich bitte Gott nur um eines, daß er mich in ähnliche Lagen bringe wie die Männer im Plutarch; dann werde ich ebenso handeln; dann werde ich noch besser handeln. Alle Menschen werden mich kennen, alle werden mich lieben, alle werden mich bewundern.« Und plötzlich fühlte er, wie ein Schluchzen ihm die Brust beengte, und er brach in Tränen aus.
»Sind Sie nicht wohl?« fragte Dessalles.
»Mir fehlt nichts«, antwortete Nikolenka und legte sich auf das Kissen.
»Er ist so gut und freundlich, und ich habe ihn lieb«, dachte er mit Bezug auf Dessalles. »Und Onkel Pierre? Oh, welch ein großartiger Mann! Und mein Vater? Mein Vater! Mein Vater! Ja, ich werde so handeln, daß auch er mit mir zufrieden sein wird ...«
Buchempfehlung
Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.
76 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro