III

[371] Die eigentliche fundamentale Idee der europäischen Ereignisse zu Anfang dieses Jahrhunderts ist die kriegerische Massenbewegung der europäischen Völker von Westen nach Osten und dann von Osten nach Westen. Den Anfang machte die Bewegung von Westen nach Osten. Damit die Völker des Westens jene kriegerische Bewegung nach Moskau ausführen konnten, die sie wirklich ausgeführt haben, war mehreres notwendig: 1. daß sie sich zu einer kriegerischen Gruppe von solcher Größe zusammentaten,[371] daß sie imstande war, den Zusammenstoß mit der kriegerischen Gruppe des Ostens auszuhalten, 2. daß sie sich von allen hergebrachten Traditionen und Bräuchen lossagten, und 3. daß sie bei Ausführung ihrer kriegerischen Bewegung einen Mann an ihrer Spitze hatten, der all die Betrügereien, Räubereien und Mordtaten, die diese Bewegung notwendigerweise begleiten mußten, sowohl für seine eigene Person als auch für sie auf sein Gewissen nehmen konnte.

Die Französische Revolution bildet den Ausgangspunkt: nun zerfällt die alte Gruppierung, deren Größe nicht ausreichend war; die alten Bräuche und Traditionen schwinden; Schritt für Schritt bilden sich neue Maßstäbe und neue Bräuche heraus, und es entwickelt sich der Mann, der dazu bestimmt ist, an der Spitze der kommenden Bewegung zu stehen und die ganze Verantwortung für alles, was sich vollziehen soll, auf seinen Schultern zu tragen.

Ein Mann ohne Überzeugungen, ohne feste Gewohnheiten, ohne Traditionen, ohne Namen, nicht einmal von französischer Herkunft, wird durch die, wie es scheinen möchte, seltsamsten Zufälle zwischen allen Parteien, welche Frankreich in Aufruhr versetzten, hindurch vorwärtsgeschoben und, ohne daß er sich einer von ihnen anschlösse, an eine hervorragende Stelle befördert.

Die Unwissenheit seiner Kameraden, die Schwäche und Geringwertigkeit der Gegner, die wie Aufrichtigkeit aussehende Lügenhaftigkeit und die glänzende, selbstbewußte Beschränktheit dieses Menschen bringen ihn an die Spitze einer Armee. Die vortreffliche Zusammensetzung der Truppen der italienischen Armee, die Unlust der Gegner, sich auf einen Kampf einzulassen, seine knabenhafte Dreistigkeit und Zuversichtlichkeit verhelfen ihm zu kriegerischem Ruhm. Eine zahllose Menge sogenannter Zufälle[372] kommt ihm überall zustatten. Die Ungnade, in die er bei den Regierenden in Frankreich fällt, dient ihm zum Vorteil. Seine Versuche, dem Weg, für den er prädestiniert ist, untreu zu werden, gelingen nicht: er wird nicht nach Rußland in den Dienst übernommen, auch eine Anstellung in der Türkei erreicht er nicht. Während der Kämpfe in Italien befindet er sich mehrmals am Rand des Verderbens und wird jedesmal auf unerwartete Weise gerettet. Die russischen Truppen, also gerade diejenigen, die seinen Ruhm zu vernichten imstande sind, betreten infolge verschiedener diplomatischer Erwägungen Westeuropa nicht, solange er dort ist.

Bei seiner Rückkehr aus Italien findet er die Regierung in Paris in einem Zersetzungsprozeß begriffen, bei welchem die Männer, die in eine solche Regierung hineingeraten, unausbleiblich zerrieben werden und zugrunde gehen. Und ganz von selbst zeigt sich ihm ein Ausweg aus dieser gefährlichen Lage: dieser Ausweg besteht in der sinnlosen, jedes Grundes entbehrenden Expedition nach Afrika. Und wieder kommen ihm dieselben sogenannten Zufälle zustatten. Das unzugängliche Malta ergibt sich ohne einen Kanonenschuß; die unvorsichtigsten Anordnungen werden von Erfolg gekrönt. Die feindliche Flotte, die später nicht einmal einen Kahn durchläßt, läßt eine ganze Armee hindurchfahren. In Afrika wird gegen die fast waffenlosen Einwohner eine ganze Reihe von Schändlichkeiten begangen. Und die Menschen, die diese Schändlichkeiten begehen, und besonders ihr Anführer, sind der Überzeugung, das sei schön, das sei ein Ruhm, das gleiche den Taten Cäsars und Alexanders von Mazedonien, und das sei gut.

Jenes Ideal von Ruhm und Größe, das darin besteht, daß man keine der eigenen Taten für sittlich schlecht hält, sondern im Gegenteil auf jedes Verbrechen, das man begangen hat, stolz ist,[373] indem man ihm eine unbegreifliche, übernatürliche Bedeutung beilegt, dieses Ideal, das in Zukunft für diesen Menschen und seine Gefolgsleute der Leitstern sein soll, gelangt in Afrika zu schrankenloser Ausbildung. Alles, was er tut, gelingt ihm. Von der ansteckenden Pest bleibt er verschont. Die Grausamkeit der Ermordung der Gefangenen wird ihm nicht als Schuld angerechnet. Seine knabenhaft unvorsichtige, unbegründete, ehrlose Abfahrt aus Afrika, wo er seine Kameraden in der Not zurückläßt, wird ihm als ein Verdienst ausgelegt, und wieder läßt ihn die feindliche Flotte zweimal entschlüpfen. Als er, schon völlig betäubt von den Verbrechen, die er mit solchem Glück begangen hat, auf seine Rolle wohl vorbereitet, ohne jeden sichtbaren Zweck nach Paris kommt, hat jene Zersetzung der republikanischen Regierung, die ihn ein Jahr vorher hätte vernichten können, nun gerade den höchsten Grad erreicht, und seine Anwesenheit kann, da er dem Parteitreiben fernsteht, ihm jetzt nur zu weiterem Aufsteigen behilflich sein.

Er hat keinen bestimmten Plan; er fürchtet alles; aber die Parteien klammern sich an ihn und verlangen seine Mitwirkung.

Er allein mit seinem Ideal von Ruhm und Größe, wie es sich in Italien und Ägypten herausgebildet hat, mit seiner unsinnigen Selbstvergötterung, mit seiner Dreistigkeit im Begehen von Verbrechen, mit seiner wie Aufrichtigkeit aussehenden Lügenhaftigkeit, er allein ist imstande, das, was geschehen soll, auf sein Gewissen zu nehmen.

Er ist nötig für den Platz, der seiner wartet, und darum wird er, fast ohne daß er es gewollt hätte, trotz seiner Unentschlossenheit, trotz aller Fehler, die er begeht, und trotzdem es ihm an einem Plan mangelt, in eine Verschwörung hineingezogen, deren Zweck die Usurpation der höchsten Macht ist, und diese Verschwörung wird von Erfolg gekrönt.[374]

Man drängt ihn in eine Sitzung der Machthaber. Erschrocken will er fliehen, da er sich für verloren hält; er fingiert eine Ohnmacht; er redet sinnlose Dinge, die ihn hätten ins Verderben stürzen müssen. Aber die Machthaber Frankreichs, früher so scharfsinnig und stolz, sind jetzt, in dem Bewußtsein, daß ihre Rolle ausgespielt ist, noch verlegener als er und reden in ganz anderer Weise, als wie sie hätten reden müssen, um die Macht in Händen zu behalten und ihn zu vernichten.

Ein »Zufall«, Millionen von »Zufällen« legen die Macht in seine Hände, und alle Menschen wirken, wie wenn sie sich verschworen hätten, zur Befestigung dieser Macht mit. »Zufälle« machen die Charaktere der damaligen Machthaber Frankreichs ihm gefügig; »Zufälle« gestalten den Charakter Pauls I. so, daß dieser seine hohe Stellung anerkennt; ein »Zufall« ruft eine Verschwörung gegen die ihn hervor, die, statt ihm zu schaden, im Gegenteil zur Befestigung seiner Macht dient. Ein »Zufall« gibt ihm Enghien in die Hände und veranlaßt ihn ohne vorhergehenden Plan dazu, diesen zu töten und eben dadurch, wirkungsvoller als durch alle andern Mittel, die Menge zu überzeugen, daß er das Recht auf seiner Seite habe, da er die Macht hat. Ein »Zufall« bewirkt, daß er zu einer Expedition nach England, die offenbar sein Verderben herbeigeführt hätte, zwar all seine Kraft anstrengt, diese Absicht aber doch niemals ausführt, sondern unversehens Mack und seine Österreicher überfällt, die sich ohne Kampf ergeben. »Zufall« und »Genialität« verleihen ihm den Sieg bei Austerlitz, und alle Menschen, nicht nur die Franzosen, sondern auch das ganze übrige Europa mit Ausnahme Englands, welches auch an den kommenden Ereignissen sich nicht beteiligt, alle Menschen erkennen nun »zufällig«, trotz ihres früheren Entsetzens und Abscheus vor seinen Verbrechen, seine hohe Stellung und den Titel, den er sich gegeben hat, und sein Ideal von Größe und[375] Ruhm an, ein Ideal, das allen als etwas Schönes und Vernünftiges erscheint.

Als wollten sie einen Vorversuch machen und sich auf die bevorstehende Bewegung vorbereiten, streben die Westmächte zu wiederholten Malen in den Jahren 1805, 1806, 1807, 1809 nach dem Osten, mit immer stärkerer Wucht und wachsender Masse. Im Jahre 1811 fließt die Menschengruppe, die sich in Frankreich gebildet hat, mit den mitteleuropäischen Völkern zu einer einzigen, gewaltigen Gruppe zusammen. Gleichzeitig mit der Vergrößerung dieser Menschengruppe entwickelt sich die Kraft des an der Spitze dieser Bewegung stehenden Mannes, alles zu verantworten. In der zehnjährigen Vorbereitungszeit, die der großen Bewegung vorangeht, kommt dieser Mann mit allen gekrönten Häuptern Europas zusammen. Die gedemütigten Herren der Welt können dem sinnlosen napoleonischen Ideal von Ruhm und Größe kein vernünftiges Ideal gegenüberstellen. Wetteifernd suchen sie ihm ihre Nichtigkeit zu zeigen. Der König von Preußen schickt seine Gemahlin hin, damit sie die Gnade des großen Mannes erschmeichle; der Kaiser von Österreich erachtet es als eine besondere Huld, daß dieser Mensch die Kaisertochter in sein Ehebett nimmt; der Papst, der Hüter des Heiligtums der Völker, wirkt dienstbereit mit seiner Religion zur Erhöhung des großen Mannes mit. Nicht sowohl Napoleon selbst bereitet sich auf die Durchführung seiner Rolle vor, als vielmehr bereitet ihn seine ganze Umgebung darauf vor, die ganze Verantwortung für alles, was geschieht und noch geschehen soll, zu übernehmen. Jede seiner Handlungen, Übeltaten und unwürdigen Betrügereien, was er nur tut, alles nimmt in der Darstellung seiner Umgebung sofort die Form einer Großtat an. Das schönste Fest, das die Deutschen für ihn ersinnen können, ist die Feier der Schlacht von Jena und Auerstedt. Und nicht nur er ist groß, sondern groß sind[376] auch seine Vorfahren, seine Brüder, seine Stiefsöhne und Schwäger. Es geschieht alles, um ihn der letzten Verstandeskraft zu berauben und ihn zu seiner furchtbaren Rolle vorzubereiten. Und da er selbst bereit ist, sind auch seine Streitkräfte bereit.

Das Invasionsheer strebt nach Osten und erreicht sein Endziel, Moskau. Die Hauptstadt ist eingenommen, das russische Heer schlimmer zugerichtet als jemals die feindlichen Heere in den früheren Kriegen von Austerlitz bis Wagram. Aber an Stelle jener »Zufälle« und jener »Genialität«, die ihn bisher so konsequent in einer ununterbrochenen Reihe von Erfolgen zu dem vorherbestimmten Ziel geführt haben, erscheint nun auf einmal eine zahllose Menge entgegengesetzter »Zufälle«, von dem Schnupfen bei Borodino bis zu den Frösten und dem Funken, der Moskau in Brand setzt, und an Stelle der »Genialität« erscheinen beispiellose Dummheit und Gemeinheit.

Das Invasionsheer flieht, kehrt wieder zurück, flieht wieder, und alle »Zufälle« sind jetzt beständig nicht mehr zu seinen Gunsten, sondern zu seinen Ungunsten.

Nun vollzieht sich eine Gegenbewegung von Osten nach Westen, die mit der vorhergehenden Bewegung von Westen nach Osten eine merkwürdige Ähnlichkeit hat. Dieselben Versuche einer Bewegung von Osten nach Westen gehen in den Jahren 1805, 1807 und 1809 der großen Bewegung voraus; dieselbe Bildung einer Gruppe von gewaltigen Dimensionen; derselbe Anschluß der in der Mitte wohnenden Völker an die Bewegung; dasselbe Schwanken in der Mitte des Weges und dieselbe Beschleunigung der Geschwindigkeit, je mehr man sich dem Ziel nähert.

Paris, das äußerste Ziel, ist erreicht. Napoleons Herrschaft und Heer ist vernichtet. Napoleon selbst hat keinen gesunden Verstand mehr; alle seine Handlungen sind offenbar kläglich und widerlich; aber wieder tritt ein unerklärlicher »Zufall« ein: die Verbündeten[377] hassen Napoleon, in dem sie den Urheber ihrer Leiden sehen; der Macht und Herrschaft beraubt, arger Übeltaten und schändlicher Ränke überführt, hätte er von ihnen ebenso angesehen werden sollen wie zehn Jahre vorher und ein Jahr nachher: als ein außerhalb des Gesetzes stehender Räuber. Aber infolge eines seltsamen »Zufalls« sieht ihn niemand so an. Seine Rolle ist noch nicht ausgespielt. Den Menschen, den sie zehn Jahre vorher und ein Jahr nachher für einen außerhalb des Gesetzes stehenden Räuber erachten, schicken sie nach einer nur zwei Tagesreisen von Frankreich entfernten Insel, die sie ihm als Besitztum überweisen, geben ihm eine Leibwache und zahlen ihm, niemand weiß wofür, Millionen Geldes aus.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 371-378.
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