VI

[387] Zu Anfang des Winters kam Prinzessin Marja nach Moskau. Durch die in der Stadt umgehenden Gerüchte erfuhr sie von der bedrängten Lage der Familie Rostow, sowie daß »der Sohn sich für die Mutter aufopfere«, wie in der Stadt gesagt wurde.

»Ich habe auch nichts anderes von ihm erwartet«, sagte Prinzessin Marja bei sich selbst und empfand eine große Freude darüber, daß ihr Urteil über den von ihr geliebten Mann eine neue Bestätigung fand. In Erinnerung an ihre freundschaftlichen und beinahe verwandtschaftlichen Beziehungen zu der ganzen Familie hielt sie es für ihre Pflicht, ihnen einen Besuch zu machen. Aber wenn sie dann an ihre Beziehungen zu Nikolai in Woronesch dachte, so scheute sie sich wieder, es zu tun. Endlich tat sie sich doch mit großer Anstrengung Gewalt an und fuhr einige Wochen nach ihrer Ankunft in der Stadt zu Rostows hin.

Nikolai war der erste, den sie in der Wohnung zu sehen bekam,[387] da man zu der Gräfin nur durch sein Zimmer gelangen konnte. Sowie Nikolai die Prinzessin erblickte, nahm sein Gesicht statt eines Ausdrucks der Freude, den sie zu sehen erwartet hatte, einen Ausdruck von Kälte, Förmlichkeit und Stolz an, den sie auf ihm früher noch nie wahrgenommen hatte. Nikolai erkundigte sich nach ihrem Befinden, geleitete sie zu seiner Mutter, saß dort etwa fünf Minuten bei ihnen und verließ dann das Zimmer.

Als die Prinzessin aus dem Zimmer der Gräfin wieder herauskam, trat ihr Nikolai wieder entgegen und gab ihr mit besonderer Feierlichkeit und Förmlichkeit das Geleit in das Vorzimmer. Auf eine Bemerkung, die sie über das Befinden der Gräfin machte, erwiderte er kein Wort. »Was geht Sie das an? Lassen Sie mich in Ruhe!« sagte sein Blick.

»Und wozu läuft sie überall umher? Was will sie bei uns? Ich kann diese Damen und all diese Liebenswürdigkeiten nicht ausstehen!« sagte er, offenbar außerstande, seinen Ärger zu unterdrücken, laut in Sonjas Gegenwart, sobald die Equipage der Prinzessin vom Haus weggefahren war.

»Aber wie können Sie nur so reden, Nikolai!« sagte Sonja, die ihre Freude kaum verbergen konnte. »Sie ist doch so gut, und Mama hat sie so gern.«

Nikolai antwortete nichts und hätte am liebsten überhaupt nicht wieder von der Prinzessin gesprochen. Aber seit diesem Besuch begann die alte Gräfin alle Tage ein paarmal von ihr zu sprechen.

Die Gräfin lobte sie, verlangte von ihrem Sohn, daß er ihr einen Gegenbesuch mache, und sprach den Wunsch aus, sie häufiger zu sehen; aber dabei wurde sie doch jedesmal übler Laune, wenn sie von ihr redete.

Nikolai gab sich Mühe zu schweigen, sooft die Mutter von der Prinzessin sprach; aber durch sein Schweigen geriet sie in gereizte Stimmung.[388]

»Sie ist ein höchst achtbares, vortreffliches Mädchen«, sagte sie, »und du mußt ihr einen Gegenbesuch machen. Auf die Art bekommst du doch wenigstens einmal einen Menschen zu sehen; sonst langweilst du dich ja doch nur hier bei uns, meine ich.«

»Aber ich habe ja gar nicht den Wunsch, Menschen zu sehen, liebe Mama.«

»Früher warst du gern mit Menschen zusammen, und jetzt heißt es nun: ›Ich habe gar nicht den Wunsch!‹ Ich verstehe dich wahrhaftig nicht, lieber Sohn. Bald langweilst du dich, bald willst du auf einmal niemand sehen.«

»Aber ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich mich langweile.«

»Gewiß tust du das, und du hast selbst gesagt, daß du die Prinzessin nicht einmal sehen möchtest. Sie ist ein höchst achtbares Mädchen und hat dir immer gefallen; aber jetzt kommen nun auf einmal irgendwelche Ideen zum Vorschein. Aber mir wird ja aus allem ein Geheimnis gemacht.«

»Ganz und gar nicht, liebe Mama.«

»Wenn ich dich noch bäte, irgend etwas Unangenehmes zu tun; aber ich bitte dich ja doch nur, eine Visite zu machen. Das erfordert schon die bloße Höflichkeit, sollte man meinen ... Nun, ich habe dich darum gebeten und werde mich jetzt nicht mehr in die Sache hineinmischen, wenn du Geheimnisse vor deiner Mutter hast.«

»Na, wenn Sie es denn wünschen, werde ich den Besuch machen.«

»Mir für meine Person ist es ganz gleichgültig; ich wünsche es nur um deinetwillen.«

Nikolai seufzte, biß sich auf den Schnurrbart und begann Karten zu legen, in der Absicht, die Aufmerksamkeit der Mutter auf einen andern Gegenstand abzulenken.[389]

Am nächsten, am dritten und am vierten Tag wiederholte sich immer dasselbe Gespräch.

Nach ihrem Besuch bei Rostows und dem unerwartet kühlen Empfang, den sie bei Nikolai gefunden hatte, gestand sich Prinzessin Marja, daß sie recht gehabt hatte, wenn sie nicht hatte als die erste bei Rostows einen Besuch machen wollen.

»Ich habe auch nichts anderes erwartet«, sagte sie zu sich selbst, indem sie ihren Stolz zu Hilfe rief: »Ich habe mit ihm nichts zu schaffen und hatte nur die alte Dame sehen wollen, die immer gut gegen mich gewesen ist und der ich zu großem Dank verpflichtet bin.«

Aber sie war nicht imstande, sich durch diese Erwägungen Beruhigung zu verschaffen: ein Gefühl, das mit Reue Ähnlichkeit hatte, quälte sie, sooft sie sich an ihren Besuch erinnerte. Trotzdem sie fest entschlossen war, Rostows nicht mehr zu besuchen und diesen ganzen Vorfall zu vergessen, fühlte sie sich dauernd in einer unbestimmten Situation. Und wenn sie sich fragte, was es denn eigentlich sei, was sie quäle, so mußte sie bekennen, daß dies ihr Verhältnis zu Rostow war. Sein kühler, höflicher Ton entsprang nicht seiner wahren Empfindung gegen sie (das wußte sie); sondern dieser Ton verbarg etwas. Was das war, darüber mußte sie zur Klarheit gelangen, und sie fühlte, daß sie vorher nicht werde ruhig sein können.

Gegen die Mitte des Winters saß sie einmal im Unterrichtszimmer und hörte bei dem Unterricht ihres Neffen zu, als ihr der Besuch Rostows gemeldet wurde. Mit dem festen Entschluß, ihr Geheimnis nicht zu verraten und ihre Verlegenheit nicht merken zu lassen, ließ sie Mademoiselle Bourienne rufen und betrat mit ihr zugleich den Salon.

Beim ersten Blick auf Nikolais Gesicht sah sie, daß er nur gekommen war, um eine Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen, und[390] nahm sich fest vor, sich desselben Tones zu bedienen, in welchem er mit ihr verkehrt hatte.

Sie sprachen über das Befinden der Gräfin, über gemeinsame Bekannte, über die letzten Kriegsnachrichten, und als die vom Anstand erforderten zehn Minuten vorbei waren, nach denen ein Gast aufstehen darf, erhob sich Nikolai, um sich zu empfehlen.

Die Prinzessin hatte unter Mademoiselle Bouriennes Beihilfe das Gespräch sehr gut im Gange gehalten; aber gerade im letzten Augenblick, als er aufstand, war sie so müde davon, über Dinge zu reden, die ihr ganz gleichgültig waren, und der Gedanke, warum doch ihr allein so wenig Freude im Leben beschieden sei, beschäftigte sie dermaßen, daß sie in einem Anfall von Zerstreutheit, die leuchtenden Augen gerade vor sich hin gerichtet, dasaß, ohne sich zu bewegen, und gar nicht bemerkte, daß er aufstand.

Nikolai sah sie an, und in der Absicht, so zu tun, als bemerke er ihre Zerstreutheit nicht, sprach er ein paar Worte mit Mademoiselle Bourienne und blickte dann wieder nach der Prinzessin hin. Sie saß noch ebenso regungslos da, und auf ihrem zarten Gesicht prägte sich ihr inneres Leid aus. Ein warmes Mitleid mit ihr wurde auf einmal in ihm rege, und er hatte die unklare Empfindung, daß er vielleicht selbst die Ursache des Kummers sei, den ihr Gesicht erkennen ließ. Er wollte ihr behilflich sein, ihr etwas Angenehmes sagen; aber er mochte nichts zu ersinnen, was er ihr sagen könnte.

»Leben Sie wohl, Prinzessin«, sagte er.

Sie kam zu sich, wurde dunkelrot und seufzte schwer.

»Ach, verzeihen Sie«, sagte sie, wie aus einem Traum erwachend. »Wollen Sie schon aufbrechen, Graf? Nun, leben Sie wohl! Aber das Kissen für die Gräfin?«

»Warten Sie einen Augenblick; ich will es sogleich holen«, sagte Mademoiselle Bourienne und verließ das Zimmer.[391]

Beide schwiegen und blickten einander von Zeit zu Zeit an.

»Ja, Prinzessin«, sagte Nikolai endlich mit trübem Lächeln, »es ist, als wäre es gestern gewesen, und doch, wieviel Wasser ist seitdem den Berg hinuntergeflossen, seit wir uns zum erstenmal in Bogutscharowo sahen. In welcher unglücklichen Lage glaubten wir damals alle zu sein; aber ich würde viel darum geben, wenn ich jene Zeit wieder zurückbringen könnte; indes, sie ist unwiederbringlich dahin.«

Die Prinzessin schaute ihm, während er das sagte, mit ihrem leuchtenden Blick unverwandt in die Augen. Es war, als gäbe sie sich Mühe, einen geheimen Sinn seiner Worte zu verstehen, der ihr über sein Gefühl für sie Aufschluß geben sollte.

»Ja, ja«, erwiderte sie. »Aber Sie haben keinen Grund, Graf, um die Vergangenheit zu trauern. Wie ich Ihr Leben jetzt kenne, werden Sie sich seiner stets mit Freuden erinnern können, da die Selbstaufopferung, die Sie jetzt betätigen ...«

»Ich kann Ihr Lob nicht annehmen«, unterbrach er sie hastig. »Im Gegenteil, ich mache mir fortwährend Vorwürfe ... Aber das ist ein uninteressantes, unerfreuliches Thema.«

Und sein Blick nahm wieder den früheren förmlichen, kühlen Ausdruck an. Aber die Prinzessin sah jetzt bereits wieder in ihm denselben Mann, den sie kannte und liebte, und redete jetzt nur mit diesem Mann.

»Ich meinte, Sie würden mir erlauben, Ihnen das zu sagen«, erwiderte sie. »Ich bin in so nahe Beziehung zu Ihnen gekommen ... zu Ihnen und Ihrer Familie gekommen, und daher meinte ich, Sie würden den Ausdruck meiner Teilnahme nicht für unschicklich ansehen; aber ich habe mich geirrt.« Ihre Stimme begann plötzlich zu zittern. »Ich weiß nicht, warum«, fuhr sie fort, nachdem sie wieder etwas Kraft gesammelt hatte, »aber Sie waren früher anders und ...«[392]

»Warum?« (Er legte auf dieses Wort einen besonderen Nachdruck.) »Dafür gibt es tausend Gründe. Ich danke Ihnen, Prinzessin«, sagte er leise. »Es wird mir manchmal recht schwer.«

»Also deshalb! Also deshalb!« sagte in der Seele der Prinzessin Marja eine innere Stimme. »Nein, ich habe an ihm nicht nur diese heitere, gute, offene Miene, nicht nur das schöne Äußere liebgewonnen; ich habe sein edles, festes, selbstloses Herz erkannt«, sagte sie zu sich selbst. »Ja, er ist jetzt arm, und ich bin reich ... Ja, nur deshalb ... Ja, wenn das nicht wäre ...« Und indem sie seiner früheren Zärtlichkeit gedachte und jetzt in sein gutes, trauriges Gesicht blickte, verstand sie auf einmal den Grund seiner Kälte.

»Warum denn, Graf? Warum?« rief sie plötzlich ganz laut und trat unwillkürlich auf ihn zu. »Warum? Sagen Sie es mir. Sie müssen es mir sagen.« (Er schwieg.) »Ich verstehe Ihren Beweggrund nicht, Graf«, fuhr sie fort. »Aber es bedrückt mich und ... Ich bekenne es Ihnen. Sie wollen mich aus irgendeinem Grund Ihrer früheren Freundschaft berauben. Und das ist mir schmerzlich.« (Die Tränen standen ihr in den Augen, und auch ihrer Stimme war es anzuhören, wie nahe ihr das Weinen war.) »Ich habe so wenig Glück in meinem Leben gehabt, daß jeder Verlust ein schwerer Schlag für mich ist ... Verzeihen Sie mir, leben Sie wohl.« Sie brach plötzlich in Tränen aus und eilte zur Tür.

»Prinzessin! Bleiben Sie, um Gottes willen!« rief er, bemüht, sie zurückzuhalten. »Prinzessin!«

Sie wandte sich um. Einige Sekunden lang blickten sie schweigend einander in die Augen, und was ihnen vorher so fern, so unmöglich erschienen war, wurde jetzt plötzlich etwas Nahes und Mögliches und Notwendiges.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 387-393.
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