[399] Das einzige, worüber Nikolai bei seiner Tätigkeit als Gutsherr mitunter eine peinliche, quälende Empfindung hatte, war sein Jähzorn im Verein mit seiner alten Husarengewohnheit, ohne weiteres zuzuschlagen. In der ersten Zeit hatte er darin nichts Anstößiges gefunden; aber im zweiten Jahr seiner Ehe änderte sich auf einmal seine Ansicht über diese Art der Bestrafung.
Eines Tages im Sommer war der Dorfschulze aus Bogutscharowo gekommen, der Nachfolger des verstorbenen Dron; Nikolai hatte ihn rufen lassen, weil ihm an allerlei Betrügereien und Nachlässigkeiten die Schuld gegeben wurde. Nikolai ging zu ihm vor die Haustür hinaus, und schon nach den ersten Antworten des Schulzen hörte man im Flur Schreien und den Schall von Schlägen. Als Nikolai zum Frühstück nach Hause zurückkehrte, trat er auf seine Frau zu, die an ihrem Stickrahmen saß und den Kopf tief auf ihre Arbeit hinabbeugte, und begann ihr, wie das seine Gewohnheit war, alles zu erzählen, was ihn an diesem Morgen beschäftigt hatte, unter anderm auch die Geschichte mit dem Schulzen von Bogutscharowo. Gräfin Marja, die die Lippen zusammenpreßte und abwechselnd rot und blaß wurde, saß immer noch in der gleichen Haltung mit gesenktem Kopf da und antwortete nichts auf die Mitteilungen ihres Mannes.
»So ein frecher Schurke«, sagte dieser, indem er bei der bloßen Erinnerung von neuem hitzig wurde. »Na, er hätte mir sagen sollen, daß er betrunken war; denn ich hatte es nicht gesehen. Aber was ist dir, Marja?« fragte er plötzlich.[399]
Gräfin Marja hob den Kopf in die Höhe und wollte etwas sagen; aber hastig ließ sie ihn wieder sinken und schloß die Lippen.
»Was ist dir? Was hast du, liebes Kind?«
Die unschöne Gräfin wurde jedesmal schön, wenn sie weinte. Sie weinte nie vor Schmerz oder vor Ärger, sondern immer nur aus Traurigkeit und Mitleid. Und wenn sie weinte, bekamen ihre leuchtenden Augen einen unwiderstehlichen Reiz.
Sobald Nikolai sie an der Hand faßte, war sie nicht mehr imstande sich zu beherrschen und brach in Tränen aus.
»Nikolai, ich habe es gesehen ... Er hat sich ja vergangen; aber du.. warum hast du ... Nikolai!« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Nikolai erwiderte nichts, wurde dunkelrot, trat von ihr zurück und begann schweigend im Zimmer auf und ab zu gehen. Er verstand, worüber sie weinte; aber er vermochte ihr nicht so auf der Stelle in seinem Herzen zuzugeben, daß eine Handlungsweise, an die er von Kindheit gewöhnt war und die er für etwas allgemein Übliches hielt, schlecht sein sollte. »Das ist Weichlichkeit, Weibergerede; oder hat sie doch recht?« fragte er sich selbst. Bevor er sich selbst auf diese Frage eine Antwort gegeben hatte, blickte er noch einmal in ihr schmerzerfülltes, liebevolles Gesicht und sah nun auf einmal ein, daß sie recht hatte; ja, er hatte die Vorstellung, als sei er sich seines Unrechtes schon längst bewußt gewesen.
»Marja«, sagte er leise, indem er zu ihr hinging, »das soll nie wieder vorkommen; ich gebe dir mein Wort. Nie wieder«, sagte er noch einmal mit zitternder Stimme wie ein Knabe, der um Verzeihung bittet.
Die Tränen strömten der Gräfin noch reichlicher aus den Augen. Sie ergriff die Hand ihres Mannes und küßte sie.
»Nikolai, wann hast du denn die Kamee entzweigemacht?«[400] fragte sie, um das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen, und betrachtete seine Hand, an der ein Ring mit einem Laokoonskopf steckte.
»Heute; auch bei dieser Geschichte. Ach, Marja, erinnere mich nicht mehr daran.« Er wurde wieder ganz rot. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß es nicht wieder vorkommen wird. Und dies hier«, fügte er hinzu, indem er auf den zerbrochenen Ring wies, »soll mir eine Erinnerung für das ganze Leben sein.«
Jedesmal wenn ihm von da an bei scharfen Auseinandersetzungen mit Dorfschulzen und Verwaltern das Blut in den Kopf stieg und die Hände sich zur Faust ballen wollten, drehte Nikolai den zerschlagenen Ring an seinem Finger und schlug die Augen vor dem Menschen nieder, der ihn zornig gemacht hatte. Aber ein paarmal im Jahre vergaß er sich doch, und dann ging er zu seiner Frau, legte ein Geständnis ab und gab ihr von neuem das Versprechen, daß es nun das letztemal gewesen sein sollte.
»Marja, du verachtest mich gewiß«, sagte er zu ihr. »Ich verdiene es.«
»Geh doch weg, geh so schnell wie möglich weg, wenn du dich außerstande fühlst, dich zu beherrschen«, sagte die Gräfin Marja traurig, indem sie ihren Mann zu trösten suchte.
In der adligen Gesellschaft der Gouvernements achtete man Nikolai zwar, mochte ihn aber nicht besonders leiden. Für die Standesangelegenheiten des Adels interessierte er sich nicht, und deswegen hielten ihn manche für stolz, andere für dumm. Im Sommer verging ihm die ganze Zeit von der Frühlingsaussaat bis zur Ernte in der Tätigkeit für seine Wirtschaft. Im Herbst widmete er sich mit demselben geschäftlichen Ernst, mit dem er seine Wirtschaft besorgte, der Jagd und zog mit seinen Hunden und Jägern auf ein, zwei Monate von Hause fort. Im Winter reiste er auf den andern Dörfern umher oder beschäftigte sich mit[401] Lektüre. Seine Lektüre bildeten Bücher, vorzugsweise geschichtliche, deren er sich jährlich eine Anzahl für eine bestimmte Summe schicken ließ. Er stellte sich, wie er sich ausdrückte, eine ernste Bibliothek zusammen und hatte es sich zur Regel gemacht, alle die Bücher, die er kaufte, durchzulesen. Mit wichtiger Miene saß er in seinem Zimmer bei dieser Lektüre, die er sich ursprünglich gleichsam wie eine Pflicht auferlegt hatte, die ihm aber dann eine gewohnte Beschäftigung geworden war, ihm eine besondere Art von Vergnügen gewährte und ihm das angenehme Bewußtsein verlieh, daß er sich mit ernsten Dingen beschäftige. Mit Ausnahme der Reisen, die er in geschäftlichen Angelegenheiten unternahm, brachte er im Winter die meiste Zeit zu Hause zu, im engen Zusammenleben mit seiner Familie und voll eifrigen Interesses für all die kleinen Beziehungen zwischen der Mutter und den Kindern. Seiner Frau trat er immer näher und entdeckte in ihr täglich neue geistige Schätze.
Sonja lebte seit Nikolais Verheiratung mit in seinem Haus. Noch vor der Hochzeit hatte Nikolai seiner Frau alles erzählt, was zwischen ihm und Sonja vorgekommen war, und zwar in der Weise, daß er sich selbst als schuldig hinstellte und Sonja lobte. Er hatte Prinzessin Marja gebeten, gegen seine Kusine freundlich und gut zu sein. Gräfin Marja erkannte in vollem Umfang die Schuld, die ihr Mann auf sich geladen hatte; auch hatte sie die Empfindung, daß sie selbst Sonja gegenüber sich schuldig gemacht habe; sie glaubte, ihr Vermögen habe auf Nikolais Wahl Einfluß gehabt, konnte Sonja in keiner Hinsicht einen Vorwurf machen und hatte die beste Absicht, sie zu lieben; aber trotzdem liebte sie sie nicht, ja, sie fand sogar häufig in ihrer Seele gegen Sonja böse Gefühle vor, die sie nicht zu unterdrücken vermochte.
Eines Tages sprach sie mit ihrer Freundin Natascha über Sonja und über ihre eigene Ungerechtigkeit gegen dieselbe.[402]
»Weißt du was?« sagte Natascha. »Du hast ja soviel im Evangelium gelesen; da gibt es eine Stelle, die akkurat auf Sonja paßt.«
»Welche denn?« fragte Gräfin Marja erstaunt.
»›Wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird genommen‹, besinnst du dich? Sonja ist so eine, die nicht hat; warum? das weiß ich nicht. Es fehlt ihr vielleicht an Egoismus, ich weiß das nicht; aber es wird ihr genommen, und so ist ihr denn alles genommen worden. Sie tut mir manchmal schrecklich leid; ich habe früher lebhaft gewünscht, Nikolai möchte sie heiraten; aber ich hatte immer so eine Art Ahnung, daß nichts daraus werden würde. Sie ist eine taube Blüte; weißt du, wie an einer Erdbeerstaude. Manchmal tut sie mir leid; aber manchmal denke ich, daß sie es nicht so empfindet, wie wir es empfinden würden.«
Gräfin Marja setzte ihr zwar auseinander, daß diese Worte im Evangelium anders zu verstehen seien, stimmte aber, wenn sie Sonja ansah, der von Natascha gegebenen Erklärung bei. Auch schien es wirklich, daß Sonja sich durch ihre Lage nicht bedrückt fühlte und sich mit ihrer Bestimmung als taube Blüte völlig ausgesöhnt habe. Sie schätzte, wie es schien, nicht sowohl die Menschen als vielmehr die ganze Familie. Wie eine Katze hatte sie sich nicht in die Menschen eingelebt, sondern in das Haus. Sie pflegte die alte Gräfin, liebkoste und hätschelte die Kinder und war stets bereit, die kleinen Dienste zu leisten, zu denen sie befähigt war; aber man nahm das alles unwillkürlich mit wenig Dank hin.
Das Gutshaus von Lysyje-Gory war neu gebaut worden, aber keineswegs so großartig, wie es bei dem verstorbenen Fürsten gewesen war.
Das Bauwerk selbst, noch in der Zeit der Not begonnen, war mehr als einfach. Das gewaltige Gebäude, das auf dem alten[403] Steinfundament errichtet war, war von Holz, nur von innen mit Kalk beworfen. Geräumig war es ja; aber die Fußböden bestanden nur aus ungestrichenen Dielen und das Mobiliar aus ganz einfachen, harten Sofas und Sesseln, aus Stühlen und Tischen; die von den eigenen Tischlern aus eigenen Birken gearbeitet waren. Das Haus enthielt auch Stuben für die Dienerschaft und Abteilungen für Gäste. Rostowsche und Bolkonskische Verwandte kamen manchmal nach Lysyje-Gory zu Besuch, und zwar mit den ganzen Familien, mit sechzehn Pferden und einem vielköpfigen Dienstpersonal, und wohnten dort monatelang. Außerdem stellten sich viermal im Jahr, zu den Namens- und Geburtstagen des Hausherrn und der Hausfrau, Gäste bis zu hundert Personen auf einen bis zwei Tage ein. Während der übrigen Zeit des Jahres nahm das Leben seinen ungestörten, regelmäßigen Verlauf mit den gewöhnlichen Beschäftigungen und Mahlzeiten: Tee, Frühstück, Mittagessen und Abendessen, alles aus den häuslichen Vorräten.
Buchempfehlung
Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro