IX

[404] Es war am Tag vor dem Winter-Nikolausfest, am 5. Dezember 1820. In diesem Jahr war Natascha mit ihren Kindern und ihrem Mann seit dem Anfang des Herbstes bei ihrem Bruder zu Besuch. Pierre war jedoch in besonderen persönlichen Angelegenheiten nach Petersburg gefahren; er hatte gesagt, auf drei Wochen, war aber jetzt schon die siebente Woche dort. Man erwartete ihn jeden Augenblick zurück.

Am 5. Dezember war, außer der Familie Besuchow, bei Rostows auch noch ein alter Freund Nikolais zu Besuch, der General a.D. Wasili Fedorowitsch Denisow.

Nikolai wußte, was ihm am 6., seinem Namenstag, bevorstand,[404] zu welchem die Gäste von allen Seiten eintreffen würden: er mußte sein gestepptes Jackett ablegen, den Oberrock sowie enge Stiefel mit schmalen Spitzen anziehen, in die neue Kirche fahren, die er hatte bauen lassen, dann die Glückwünsche entgegennehmen, den Gästen einen Imbiß anbieten und eine Unterhaltung über die Adelswahlen und den Erdrutsch führen. Aber den vorhergehenden Tag hielt er sich für berechtigt, noch in gewohnter Weise zu verleben. Vor dem Mittagessen revidierte er die Rechnungen des Vogtes aus dem Dorf im Rjasanschen über das Gut des Neffen seiner Frau, schrieb zwei Geschäftsbriefe und machte einen Inspektionsgang nach der Tenne und dem Vieh- und Pferdehof. Nachdem er noch vorbeugende Anordnungen gegen eine allgemeine Betrunkenheit getroffen hatte, die für morgen aus Anlaß des hohen Festtages zu erwarten war, ging er zum Mittagessen und nahm, ohne daß er Zeit gehabt hätte noch mit seiner Frau ein paar Worte allein zu sprechen, an dem langen Tisch mit zwanzig Gedecken Platz, an dem bereits alle Hausgenossen versammelt waren. An dem Tisch saßen seine Mutter, das alte Fräulein Bjelowa, das mit dieser zusammen wohnte, seine Frau, seine drei Kinder, die Gouvernante, der Erzieher, der Neffe mit seinem Erzieher, Sonja, Denisow, Natascha, ihre drei Kinder, deren Gouvernante und der alte Michail Iwanowitsch, der bei dem verstorbenen Fürsten Baumeister gewesen war und nun in Lysyje-Gory im Ruhestand lebte.

Gräfin Marja saß am entgegengesetzten Ende des Tisches. Sowie ihr Mann sich an seinen Platz setzte, merkte sie an der Gebärde, mit der er die Serviette ergriff und hastig die vor ihm stehenden Gläser anders rückte, sofort, daß er verstimmt war, wie das oft bei ihm vorkam, namentlich vor der Suppe, und wenn er unmittelbar aus der Wirtschaft zum Essen kam. Gräfin Marja[405] kannte diese Stimmung an ihm sehr wohl, und wenn sie selbst guter Laune war, so wartete sie ruhig, bis er seine Suppe gegessen hatte, begann dann erst mit ihm zu reden und brachte ihn zu dem Eingeständnis, daß seine üble Stimmung keinen vernünftigen Grund gehabt habe. Aber heute vergaß sie das sonst von ihr beobachtete Verfahren vollständig; es war ihr schmerzlich, daß er ohne Anlaß auf sie böse war, und sie fühlte sich unglücklich. Sie fragte ihn, wo er gewesen sei. Er antwortete. Sie fragte weiter, ob er in der Wirtschaft alles in Ordnung gefunden habe. Er runzelte wegen ihres gekünstelten Tones unfreundlich die Stirn und gab eine hastige Antwort.

»Ich habe mich also nicht geirrt«, dachte Gräfin Marja. »Und warum mag er nur böse auf mich sein?« Aus dem Ton, in dem er ihr geantwortet hatte, hörte Gräfin Marja eine Mißstimmung gegen sich heraus, sowie den Wunsch, das Gespräch abzubrechen. Sie fühlte selbst, daß ihre Worte unnatürlich klangen; aber sie konnte sich nicht enthalten, noch ein paar Fragen zu tun.

Das Tischgespräch wurde bald ein allgemeines und lebhaftes, wozu besonders Denisow beitrug, und Gräfin Marja sprach nicht mehr mit ihrem Mann. Als sie vom Tisch aufstanden und zu der alten Gräfin hingingen, um ihr zu danken, reichte Gräfin Marja ihrem Mann die Hand, küßte ihn und fragte ihn, weswegen er auf sie böse sei.

»Du hast immer so sonderbare Ideen; es fällt mir gar nicht ein, böse zu sein«, erwiderte er.

Aber aus dem Wort »immer« hörte Gräfin Marja die Antwort heraus: »Ja, ich bin böse und will es nicht sagen.«

Nikolai lebte mit seiner Frau so einträchtig, daß selbst Sonja und die alte Gräfin, die aus Eifersucht Mißhelligkeiten zwischen den beiden ganz gern gesehen hätten, keinen Vorwand zu einem Vorwurf finden konnten; aber auch zwischen diesen Gatten[406] kamen Augenblicke von Feindseligkeit vor. Manchmal, und zwar gerade nach Zeiten glücklicher Harmonie, überkam sie beide auf einmal ein Gefühl der Entfremdung und Feindseligkeit; dieses Gefühl zeigte sich am häufigsten während der Schwangerschaften der Gräfin Marja. Jetzt befanden sie sich gerade in einem solchen Zeitabschnitt.

»Nun, messieurs et mesdames«, sagte Nikolai laut und, wie es schien, heiter (Gräfin Marja hatte die Empfindung, als spräche er absichtlich in dieser Weise, um sie zu kränken). »Ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen. Morgen werde ich ja freilich aushalten müssen; aber heute möchte ich mich noch ein wenig zurückziehen, um mich auszuruhen.«

Und ohne noch weiter mit Gräfin Marja zu sprechen, begab er sich in das kleine Sofazimmer und legte sich dort nieder.

»Ja, so macht er es immer«, dachte Gräfin Marja. »Mit allen redet er, nur mit mir nicht. Ich sehe, sehe klar, daß ich ihm zuwider bin. Besonders in diesem Zustand.« Sie betrachtete ihren hohen Unterleib und im Spiegel ihr gelblich blasses, mager gewordenes Gesicht, in welchem die Augen größer erschienen als sonst je.

Und alles wurde ihr widerwärtig: Denisows Schreien und Lachen und Nataschas Gespräche und ganz besonders der Blick, den Sonja ihr eilig zuwarf. Wenn Gräfin Marja sich in gereizter Stimmung befand, suchte sie immer zuerst irgendwelche Schuld bei Sonja.

Nachdem sie noch ein Weilchen bei den Gästen gesessen hatte, ohne von dem, was diese sprachen, etwas zu verstehen, ging sie leise hinaus und begab sich in das Kinderzimmer.

Die Kinder fuhren auf Stühlen nach Moskau und forderten sie auf mitzufahren. Sie setzte sich hin und spielte für kurze Zeit mit; aber der Gedanke an ihren Mann und dessen grundlose Verstimmung[407] quälte sie ohne Unterlaß. Sie stand auf und ging, mühsam nur mit den Fußspitzen auftretend, nach dem kleinen Sofazimmer.

»Vielleicht schläft er nicht, und ich kann mich mit ihm aussprechen«, sagte sie zu sich selbst. Der kleine Andrei, ihr ältester Knabe, ging, ihren Gang nachahmend, auf den Fußspitzen hinter ihr her. Gräfin Marja bemerkte ihn nicht.

»Liebe Marja, ich glaube, er schläft; er ist so angegriffen«, sagte Sonja zu ihr im großen Sofazimmer; Gräfin Marja hatte die Empfindung, Sonja müsse ihr aber auch überall begegnen. »Daß ihn Andrei nur nicht aufweckt.«

Gräfin Marja sah sich um und bemerkte hinter sich den kleinen Andrei. Sie fühlte, daß Sonja recht hatte; und gerade darum stieg ihr das Blut in den Kopf, und es kostete ihr Mühe, ein scharfes Wort zu unterdrücken. Sie erwiderte nichts, und um ihr nicht zu gehorchen, machte sie mit der Hand dem Kleinen ein Zeichen, er solle keinen Lärm machen, dürfe aber doch hinter ihr hergehen, und näherte sich der Tür. Sonja ging durch die andre Tür hinaus. Aus dem Zimmer, in welchem Nikolai schlief, ertönte sein gleichmäßiges Atmen, das seine Frau bis in die kleinsten Nuancen kannte. Während sie so sein Atmen hörte, glaubte sie seine glatte, schöne Stirn vor sich zu sehen und seinen Schnurrbart und sein ganzes Gesicht, das sie so oft in der Stille der Nacht, wenn er schlief, lange betrachtet hatte. Plötzlich regte sich Nikolai und räusperte sich. Und in demselben Augenblick rief der kleine Andrei durch die ein wenig geöffnete Tür: »Papachen, hier steht Mamachen!« Gräfin Marja wurde blaß vor Schreck und machte dem Knaben ein Zeichen, daß er still sein solle. Er schwieg, und dieses für Gräfin Marja furchtbare Schweigen dauerte ungefähr eine Minute. Sie wußte, wie unangenehm es ihrem Mann war, wenn man ihn weckte. Da ließ sich hinter der Tür ein neues[408] Räuspern und eine Bewegung vernehmen, und Nikolais Stimme sagte in mißvergnügtem Ton:

»Nicht eine Minute Ruhe wird einem gegönnt. Bist du da, Marja? Warum hast du ihn denn hergebracht?«

»Ich war nur hergekommen, um nachzusehen ... Ich hatte nicht bemerkt, daß er ... Verzeih ...«

Nikolai hustete eine Weile und schwieg. Gräfin Marja ging von der Tür weg und führte ihr Söhnchen nach dem Kinderzimmer. Fünf Minuten darauf lief die kleine, schwarzäugige, dreijährige Natascha, des Vaters Liebling, die von ihrem Bruder gehört hatte, Papa schlafe und Mama sei im Sofazimmer, zu dem Vater hin, ohne daß die Mutter es merkte. Die schwarzäugige Kleine knarrte dreist mit der Tür, ging auf ihren dicken Beinchen mit energischen, kleinen Schritten zum Sofa hin, und nachdem sie die Lage des Vaters betrachtet hatte, der, ihr den Rücken zuwendend, schlief, hob sie sich auf den Zehen in die Höhe und küßte die Hand des Vaters, die unter seinem Kopf lag. Nikolai drehte sich um; sein Gesicht zeigte ein Lächeln liebevoller Zärtlichkeit.

»Natascha, Natascha!« flüsterte Gräfin Marja erschrocken von der Tür her. »Papachen will schlafen.«

»Nein, Mama, er will nicht schlafen«, antwortete die kleine Natascha im Ton fester Überzeugung. »Er lacht ja.«

Nikolai nahm die Beine vom Sofa herunter, richtete sich auf und nahm sein Töchterchen auf den Arm.

»Komm doch herein, Marja«, sagte er zu seiner Frau.

Gräfin Marja kam ins Zimmer und setzte sich neben ihren Mann.

»Ich hatte vorhin gar nicht bemerkt, daß Andrei hinter mir herlief«, sagte sie schüchtern. »Ich war nur so ohne eigentlichen Zweck hergekommen.«[409]

Nikolai, der auf dem einen Arm seine Tochter hielt, blickte seine Frau an, und als er auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Schuldbewußtsein wahrnahm, umschlang er sie mit dem andern Arm und küßte ihn auf das Haar.

»Darf ich Mama küssen?« fragte er Natascha.

Natascha lächelte verschämt.

»Noch mal!« sagte sie mit befehlender Gebärde und zeigte auf die Stelle, wo Nikolai seine Frau geküßt hatte.

»Ich weiß nicht, weswegen du meinst, daß ich schlechter Laune wäre«, sagte Nikolai als Antwort auf die Frage, die, wie er wußte, seine Frau innerlich beschäftigte.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich und vereinsamt ich mir vorkomme, wenn du so bist. Ich denke immer ...«

»Marja, hört auf, das sind ja Torheiten. Schämen solltest du dich«, sagte er heiter.

»Ich denke immer, du kannst mich nicht lieben; ich bin so häßlich ... immer schon ... und nun jetzt ... in diesem Zu ...«

»Ach, was bist du komisch! Man pflegt doch zu sagen: man liebt einen nicht, weil er schön ist, sondern weil man ihn liebt, ist er einem der Schönste. Nur leichtfertige Weiber liebt man deswegen, weil sie schön sind. Und liebe ich denn überhaupt meine Frau? Das ist nicht Liebe, sondern so etwas, ich weiß nicht, wie ich es dir verdeutlichen soll. Wenn du nicht bei mir bist und wenn wir etwas miteinander haben, dann fühle ich mich wie verloren und bin zu nichts fähig. Sieh mal, liebe ich etwa meinen Finger? Lieben tue ich ihn nicht; aber versuche einmal, ihn mir abzuschneiden.«

»Nein, mit mir ist es anders; aber ich verstehe dich. Also du bist nicht böse auf mich?«

»Furchtbar böse«, antwortete er lächelnd, stand auf, strich[410] sich die Haare zurecht und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Weiß du, Marja, woran ich gedacht habe?« sagte er; jetzt, wo die Versöhnung vollzogen war, fing er sofort an in Gegenwart seiner Frau laut zu denken. Er fragte nicht erst, ob sie auch bereit sei, ihn anzuhören; das war ihm ganz gleich. Es war ihm ein Gedanke gekommen, also mußte er ihn auch ihr mitteilen. Und so erzählte er ihr denn, er beabsichtige, Pierre zuzureden, daß er doch bis zum Frühling bei ihnen bleiben möchte.

Gräfin Marja hörte ihn an, machte ihre Bemerkungen dazu und begann nun auch ihrerseits laut zu denken. Ihre Gedanken bezogen sich auf die Kinder.

»Wie doch schon das Weib in ihr zu erkennen ist«, sagte sie auf französisch, indem sie auf die kleine Natascha wies. »Ihr werft uns Frauen immer Mangel an Logik vor. Da siehst du nun unsere Logik. Ich sage: ›Papa will schlafen‹, und sie antwortet: ›Nein, er lacht.‹ Und sie hatte recht«, sagte die Gräfin Marja, glücklich lächelnd.

»Jawohl, jawohl!«

Und Nikolai nahm sein Töchterchen auf seinen starken Arm, hob sie hoch in die Höhe, setzte sie auf seine Schulter, indem er ihre Beinchen mit dem Arm umschlang, und ging so mit ihr im Zimmer auf und ab. Die Gesichter des Vaters und der Tochter hatten beide den gleichen Ausdruck glückseliger Gedankenlosigkeit.

»Weißt du, du kannst doch auch ungerecht sein; du liebst dieses Kind zu sehr«, sagte Gräfin Marja flüsternd auf französisch.

»Ja, aber was ist da zu tun? Ich gebe mir Mühe, es nicht merken zu lassen ...«

In diesem Augenblick wurde vom Flur und vom Vorzimmer her das Geräusch der Rolle an der Haustür und der Schall von[411] Schritten vernehmbar; es klang gerade, wie wenn jemand ankäme.

»Es ist jemand gekommen.«

»Ich glaube bestimmt, daß es Pierre ist. Ich will hingehen und nachsehen«, sagte Gräfin Marja und verließ das Zimmer.

In ihrer Abwesenheit erlaubte sich Nikolai, sein Töchterchen im Galopp rings im Zimmer herumreiten zu lassen. Als er außer Atem gekommen war, hob er das lachende Kind schnell herunter und drückte es an seine Brust. Seine Sprünge erinnerten ihn an das Tanzen, und beim Anblick des runden, glückseligen Kindergesichtchens dachte er daran, wie die jetzige kleine Natascha wohl dann aussehen werde, wenn er als schon älterer Mann sie in die Gesellschaft führen und (wie manchmal sein verstorbener Vater mit seiner Tochter den Danilo Kupor vorgeführt hatte) mit ihr eine Mazurka tanzen werde.

»Er ist es, er ist es, Nikolai«, sagte Gräfin Marja, als sie einige Minuten darauf ins Zimmer zurückkehrte. »Jetzt ist aber Frau Natascha lebendig geworden. Du hättest ihr Entzücken sehen sollen, und wie er sogleich seine Schelte dafür bekam, daß er so lange weggeblieben war. Nun komm schnell, komm! Trennt euch endlich einmal voneinander«, sagte sie und blickte lächelnd das kleine Mädchen an, das sich an den Vater schmiegte.

Nikolai ging hinaus, sein Töchterchen an der Hand führend. Gräfin Marja blieb noch einen Augenblick im Sofazimmer zurück.

»Nie, nie hätte ich geglaubt«, flüsterte sie vor sich hin, »daß ich so glücklich sein könnte.« Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln; aber in demselben Augenblick seufzte sie, und eine stille Traurigkeit prägte sich in ihrem tiefen Blick aus, als gäbe es außer dem Glück, das sie jetzt empfand, noch ein anderes, in diesem Leben unerreichbares Glück, an das sie in diesem Augenblick unwillkürlich denken mußte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 404-412.
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