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[306] Die französischen Truppen schmolzen gleichmäßig in mathematisch regelmäßiger Progression zusammen. Und jener Übergang über die Beresina, über den so viel geschrieben worden ist, war nur eine der Zwischenstufen in der Vernichtung des französischen Heeres und keineswegs die entscheidende Katastrophe des Feldzuges. Wenn über die Beresina so viel geschrieben worden ist und noch geschrieben wird, so kam das von seiten der[306] Franzosen nur daher, daß auf den eingestürzten Beresinabrücken die bis dahin über einen größeren Zeitraum verteilten Leiden, die die französische Armee auszuhalten hatte, sich plötzlich in einen Moment zusammendrängten, zu einem tragischen Schauspiel, das allen im Gedächtnis blieb. Von seiten der Russen aber ist über die Beresina nur deshalb so viel geredet und geschrieben worden, weil in weiter Entfernung vom Kriegsschauplatz, in Petersburg, ein Plan ausgearbeitet war, und zwar von Pfuel, Napoleon an der Beresina in einer strategischen Falle zu fangen. Jedermann war überzeugt, daß alles sich in Wirklichkeit genau so abspielen werde, wie es im Plan stand, und daher behauptete man nachher hartnäckig, daß gerade der Übergang über die Beresina den Untergang der Franzosen herbeigeführt habe. In Wirklichkeit aber waren die Folgen des Überganges über die Beresina für die Franzosen hinsichtlich des Verlustes an Geschützen und Gefangenen weit weniger unheilvoll als die Kämpfe bei Krasnoje, wie das die Zahlen beweisen.

Die einzige Bedeutung des Überganges über die Beresina besteht darin, daß dieser Übergang in augenfälliger und zweifelloser Weise die Unrichtigkeit aller Abschneidungspläne und die Richtigkeit des einzig möglichen, sowohl von Kutusow als auch von sämtlichen Truppen (von der Masse) geforderten Verfahrens bewies: nämlich dem Feind lediglich zu folgen. Der Haufe der Franzosen lief mit stets wachsender Geschwindigkeit vorwärts und wandte alle seine Energie auf die Erreichung dieses Zieles. Er lief wie ein verwundetes Wild, und es war ihm unmöglich, auf seinem Weg haltzumachen. Das bewies nicht sowohl die Einrichtung des Überganges wie der Zug über die Brücken. Als die Brücken eingestürzt waren, da liefen massenhaft Soldaten, nachdem sie ihre Waffen weggeworfen hatten, sowie was sich an Einwohnern von Moskau und Frauen mit Kindern in dem Zug[307] der Franzosen befand, alle unter der Einwirkung des Beharrungsvermögens, statt sich zu ergeben, vorwärts, in die Kähne und in das eiskalte Wasser.

Dieses Streben war ganz vernünftig. Die Lage der Fliehenden und der Verfolger war gleich übel. Blieb man nun bei den Seinigen, so hoffte ein jeder in der Not auf die Hilfe eines Kameraden und hatte unter den Seinigen einen bestimmten Platz, der ihm gehörte. Ergab sich aber jemand den Russen, so befand er sich in derselben kümmerlichen Lage, stellte sich aber auf eine niedrigere Stufe, wenn es bei der Befriedigung der Lebensbedürfnisse mit anderen teilen hieß. Hatten auch die Franzosen keine zuverlässigen Nachrichten darüber, daß die Hälfte der Gefangenen, mit denen die Russen nichts anzufangen wußten, trotz alles guten Willens derselben, sie zu retten, vor Kälte und Hunger umgekommen war, so ahnten sie doch, daß es sicher so sei. Die mitleidigsten, franzosenfreundlichsten russischen Kommandeure und die in russischen Diensten stehenden Franzosen konnten nichts für die Gefangenen tun. Die Not, in der sich das russische Heer selbst befand, war die Ursache, weshalb die Franzosen zugrunde gingen. Es ging doch nicht an, den hungrigen, frierenden Soldaten, die man notwendig brauchte, Brot und Kleidung wegzunehmen, um sie den Franzosen zu geben, die einem zwar keinen Schaden taten, nicht gehaßt wurden und keine Schuld trugen, aber einfach überflüssig waren. Manche taten selbst dies; aber das war eben nur eine Ausnahme.

Hinter ihnen war der sichere Untergang; vor ihnen winkte noch Hoffnung. Die Schiffe waren verbrannt; es gab keine andere Rettung als durch gemeinsame Flucht; und so waren denn auf diese gemeinsame Flucht alle Kräfte der Franzosen gerichtet.

Je weiter die Franzosen flohen, je kläglicher die Reste ihres Heeres wurden, namentlich nach dem Übergang über die Beresina,[308] auf den man an gewissen russischen Stellen infolge des Petersburger Planes besondere Hoffnungen gesetzt hatte, um so heftiger entbrannten die Leidenschaften der russischen Kommandeure, die sich untereinander und namentlich den Oberkommandierenden Kutusow beschuldigten. Da sie annahmen, daß das Mißlingen des Petersburger Beresinaplanes ihm zur Last gelegt werde, so brachten sie es immer deutlicher zum Ausdruck, wie unzufrieden sie mit ihm waren und wie gering sie ihn schätzten, und machten sich immer unverhohlener über ihn lustig. Dies äußerte sich selbstverständlich in respektvoller Form, in einer Form, bei der Kutusow nicht einmal fragen konnte, wessen man ihn eigentlich beschuldigte und warum. Sie sprachen nicht ernst mit ihm; wenn sie ihm eine Meldung erstatteten und seine Entscheidung einholten, so machten sie eine Miene, als ob sie eine traurige Zeremonie erfüllten; hinter seinem Rücken aber blinzelten sie einander zu und suchten ihn auf Schritt und Tritt zu täuschen.

Alle diese Leute betrachteten es, eben deswegen, weil sie ihn nicht verstehen konnten, als eine ausgemachte Sache, daß mit dem Alten nicht zu reden sei, daß er niemals die ganze Gedankentiefe ihrer Pläne begreifen werde, daß er ihnen immer nur seine Phrasen (denn sie hielten es nur für Phrasen) zur Antwort geben werde: von der goldenen Brücke, und daß man nicht mit einem Haufen von Landstreichern über die Grenze ziehen dürfe usw. All das hatten sie schon von ihm zu hören bekommen. Und alles, was er sagte, zum Beispiel, daß man auf den Proviant warten müsse, daß die Mannschaften keine Stiefel hätten, das alles klang so gewöhnlich, alles dagegen, was sie selbst vorschlugen, war so kunstvoll und verständig, daß es für sie keinem Zweifel unterlag, daß er ein alter Dummkopf, sie aber geniale Heerführer waren, die leider der Befehlsgewalt entbehrten.[309]

Besonders nachdem die Armee Wittgensteins, dieses hochangesehenen Admirals, des »Helden von Petersburg«, dazugestoßen war, erreichte diese Stimmung und das Geklatsch der Generalstäbler den höchsten Grad. Kutusow sah dies alles, zuckte aber nur seufzend die Achseln. Nur einmal nach dem Übergang über die Beresina wurde er ärgerlich und schrieb an Bennigsen, der an den Kaiser einen separaten Bericht eingesandt hatte, folgenden Brief:

»Aus Anlaß Ihrer Krankheitsanfälle wollen Eure Hohe Exzellenz sogleich nach Empfang dieses Schreibens sich nach Kaluga begeben und dort die weiteren Befehle und Bestimmungen Seiner Kaiserlichen Majestät abwarten.«

Aber gleich nach Bennigsens Beseitigung kam zur Armee der Großfürst Konstantin Pawlowitsch, der schon den Anfang des Feldzuges mitgemacht hatte und damals auf Kutusows Veranlassung die Armee hatte verlassen müssen. Als der Großfürst jetzt wieder bei der Armee erschien, machte er dem Oberkommandierenden Kutusow Mitteilung davon, daß der Kaiser mit den geringen Erfolgen unserer Waffen und der Langsamkeit der Bewegungen unzufrieden sei; der Kaiser beabsichtige, in den nächsten Tagen persönlich zur Armee zu kommen.

Der alte Mann, der im Hofleben ebensoviel Erfahrung besaß wie im Kriegsleben, dieser Kutusow, der im August desselben Jahres gegen den Willen des Kaisers zum Oberkommandierenden gewählt worden war, er, der den Großfürsten-Thronfolger von der Armee entfernt hatte, er, der kraft seiner Befehlsgewalt im Gegensatz zu dem Willen des Kaisers die Preisgabe Moskaus angeordnet hatte, dieser Kutusow erkannte jetzt sofort, daß seine Zeit um sei, daß er seine Rolle ausgespielt habe und daß er diese vermeintliche Befehlsgewalt nicht mehr besitze. Und nicht nur aus den Verhältnissen bei Hof erkannte er das. Er sah außerdem,[310] daß die kriegerische Aktion, bei der er seine Rolle gespielt hatte, beendet war, und fühlte, daß er seinen Auftrag erfüllt habe. Und ferner empfand er gerade in dieser selben Zeit in seinem alten Körper eine große physische Müdigkeit und das dringende Bedürfnis physischer Erholung.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 306-311.
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