XVI

[333] Ende Januar kam Pierre in Moskau an und nahm in dem unversehrt gebliebenen Seitengebäude Wohnung. Er besuchte den Grafen Rastoptschin und mehrere Bekannte, die nach Moskau zurückgekehrt waren, und beabsichtigte am dritten Tag nach Petersburg zu fahren. Alle jubelten über den Sieg; alles wimmelte in der zerstörten und wiederauflebenden Hauptstadt von neuem Leben. Alle freuten sich über Pierres Rettung; alle wünschten ihn zu sehen, und alle fragten ihn aus über das, was er erlebt hatte. Pierre fühlte sich gegen alle Menschen, mit denen er zusammenkam, außerordentlich freundlich gestimmt; aber unwillkürlich war er jetzt allen Menschen gegenüber auf der Hut, um sich in keiner Weise zu binden. Auf alle Fragen, die an ihn gerichtet wurden, wichtige oder ganz unwichtige (so wenn er gefragt wurde, wo er wohnen werde, oder ob er bauen werde, oder wann er seine Reise nach Petersburg anzutreten beabsichtige, oder ob er aus Gefälligkeit ein Kästchen mitnehmen wolle), auf alle solche Fragen antwortete er: »Ja vielleicht« oder »ich denke« usw.[333]

Über die Familie Rostow hörte er, daß sie in Kostroma sei, und der Gedanke an Natascha kam ihm nur selten, und wenn er ihm kam, so nur als eine an genehme Erinnerung an etwas längst Vergangenes. Er fühlte sich frei, nicht nur von weltlichen Beschränkungen, sondern auch von diesem Gefühl, das, wie er jetzt meinte, nur etwas absichtlich Angenommenes gewesen war.

Am dritten Tag nach seiner Ankunft in Moskau erfuhr er von Drubezkois, daß Prinzessin Marja in Moskau sei. Der Gedanke an den Tod des Fürsten Andrei, an seine Leiden und letzten Tage hatte Pierre häufig beschäftigt und kam ihm jetzt mit neuer Lebendigkeit in den Sinn. Nachdem er beim Mittagessen erfahren hatte, daß Prinzessin Marja in Moskau sei und in ihrem nicht abgebrannten Haus in der Wosdwischenka-Straße wohne, fuhr er an demselben Abend zu ihr hin.

Auf dem Weg zu Prinzessin Marja dachte er unaufhörlich an den Fürsten Andrei, an seine Freundschaft mit ihm, an die verschiedenen Begegnungen, die er mit ihm gehabt hatte, und namentlich an die letzte in Borodino.

»Sollte er wirklich in der ingrimmigen Stimmung gestorben sein, in der er sich damals befand? Sollte sich ihm wirklich vor dem Tod nicht der Sinn des Lebens erschlossen haben?« dachte Pierre. Er erinnerte sich an Karatajew und dessen Tod und stellte unwillkürlich einen Vergleich zwischen diesen beiden Männern an, die voneinander so verschieden waren und doch auch zugleich einander so ähnlich in bezug auf die Liebe, die er zu beiden gehegt hatte, sowie darin, daß sie beide gelebt hatten und beide gestorben waren.

In der ernstesten Gemütsverfassung gelangte Pierre zu dem Haus des alten Fürsten. Dieses Haus war unversehrt geblieben. Man sah an ihm Spuren von Beschädigung; aber der Gesamtcharakter[334] des Hauses war derselbe wie früher. Ein alter Diener empfing Pierre mit tiefernster Miene, wie wenn er dem Besucher zu verstehen geben wollte, daß der Tod des Fürsten in die Ordnung des Hauses keine Störung hineingebracht habe, und teilte ihm mit, die Prinzessin habe sich in ihre Gemächer zurückgezogen; sie empfange sonntags.

»Melde mich nur; vielleicht werde ich doch angenommen«, erwiderte Pierre.

»Zu Befehl«, antwortete der Diener. »Haben Sie die Güte, in das Porträtzimmer zu treten.«

Einige Minuten darauf kamen der Diener und Dessalles zu Pierre herein. Dessalles meldete ihm von der Prinzessin, sie freue sich sehr, ihn wiederzusehen, und bitte ihn, wenn er ihr diese Formlosigkeit nicht übelnehmen wolle, zu ihr nach oben in ihre Zimmer zu kommen.

In einem niedrigen Zimmerchen, das nur von einer einzigen Kerze erleuchtet war, saß die Prinzessin, und bei ihr noch eine schwarzgekleidete Dame. Pierre erinnerte sich, daß die Prinzessin sich immer Gesellschafterinnen gehalten habe; aber was für Personen diese Gesellschafterinnen gewesen waren, das wußte Pierre nicht, dafür hatte er keine Erinnerung. »Das ist eine Gesellschafterin«, dachte er bei einem Blick auf die Dame in Schwarz.

Die Prinzessin stand schnell auf, kam ihm entgegen und reichte ihm die Hand, die er küßte.

»Ja«, sagte sie, indem sie sein so verändertes Gesicht betrachtete, »so sehen wir uns nun wieder. Er hat auch in der letzten Zeit häufig von Ihnen gesprochen«, fuhr sie fort und ließ ihre Augen von Pierre zu der Gesellschafterin mit einer Verlegenheit hinübergleiten, die Pierre einen Augenblick stutzig machte.

»Ich habe mich so gefreut, als ich von Ihrer Rettung hörte«,[335] fügte sie hinzu. »Das war die einzige freudige Nachricht, die wir seit langer Zeit erhalten hatten.«

Wieder blickte die Prinzessin noch unruhiger auf die Gesellschafterin hin und wollte etwas sagen; aber Pierre unterbrach sie.

»Sie können sich leicht denken, daß ich nichts von ihm wußte«, sagte er. »Ich glaubte, er wäre gefallen. Alles, was ich erfuhr, erfuhr ich von anderen, aus dritter Hand. Ich weiß nur, daß er zufällig zur Rostowschen Familie kam. Welch eine Fügung!«

Pierre sprach schnell und lebhaft. Als er einmal nach dem Gesicht der Gesellschafterin hinsah, bemerkte er, daß ihr Blick aufmerksam und freundlich auf ihn gerichtet war, und hatte, wie das oft während eines Gespräches vorkommt, aus nicht recht klarem Grund die Empfindung, daß diese schwarzgekleidete Gesellschafterin ein liebes, gutes, prächtiges Wesen sei, durch das er sich in seinem vertraulichen Gespräch mit Prinzessin Marja nicht stören zu lassen brauche.

Aber als er die letzten Worte über die Rostowsche Familie sagte, prägte sich die Verlegenheit noch stärker auf dem Gesicht der Prinzessin Marja aus. Sie ließ ihre Augen wieder von Pierres Gesicht zu dem der Dame in Schwarz hinüberwandern und sagte: »Sie erkennen sie wohl nicht?«

Pierre blickte noch einmal in das blasse, feine Gesicht der Gesellschafterin mit den schwarzen Augen und dem eigenartigen Mund. Etwas Liebes, längst Vergessenes und mehr als bloß Angenehmes schaute ihn aus diesen aufmerksamen Augen an.

»Aber nein, es ist nicht möglich«, dachte er. »Dieses ernste, hagere, blasse, alt aussehende Gesicht! Das kann sie nicht sein. Es ist nur eine Ähnlichkeit, die an sie erinnert.« Aber in diesem Augenblick sagte Prinzessin Marja: »Natascha.« Und das Gesicht mit den aufmerksamen Augen lächelte mit Mühe und Anstrengung,[336] wie eine verrostete Tür sich öffnet, und aus dieser sich öffnenden Tür duftete ihm plötzlich jenes längst vergessene Glück entgegen, an das er nicht mehr gedacht hatte, und namentlich jetzt nicht. Dieser Duft umfing ihn und nahm ihn völlig in seinen Bann. Als sie lächelte, konnte kein Zweifel mehr sein: es war Natascha, und er liebte sie.

Gleich im ersten Augenblick gab Pierre unwillkürlich sowohl ihr als auch der Prinzessin Marja und vor allem sich selbst Kenntnis von diesem ihm selbst bisher unbekannten Geheimnis. Er errötete vor Freude und schmerzlichem Leid. Er wollte seine Erregung verbergen; aber je mehr er sie zu verbergen suchte, um so deutlicher, deutlicher selbst als durch die bestimmtesten Worte, sagte er sich und ihr und der Prinzessin Marja, daß er sie liebe.

»Nein, das hat keinen tieferen Grund, das kommt nur von der Überraschung her«, dachte Pierre. Aber kaum versuchte er, das begonnene Gespräch mit Prinzessin Marja fortzusetzen, da mußte er wieder Natascha ansehen, und eine noch stärkere Röte überzog sein Gesicht, und eine noch stärkere freudige und bange Aufregung nahm von seiner Seele Besitz. Er verwirrte sich in seinen Worten und verstummte mitten in der Rede.

Pierre hatte Natascha nicht beachtet, weil er in keiner Weise erwartet hatte, sie hier zu sehen; und er hatte sie nicht erkannt, weil die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, seit er sie nicht mehr gesehen hatte, eine ganz gewaltige war. Sie war mager und blaß geworden. Aber nicht dies war es, was sie unkenntlich machte: er hatte sie im ersten Augenblick, als er eintrat, deswegen nicht erkennen können, weil auf diesem Gesicht, in dessen Augen früher immer ein verborgenes Lächeln der Lebenslust geleuchtet hatte, jetzt, als er eintrat und sie zum erstenmal ansah, auch nicht der geringste Schimmer eines Lächelns gelegen[337] hatte; nur die Augen waren dagewesen, die aufmerksamen, guten, traurig fragenden Augen.

Pierres Verlegenheit rief bei Natascha nicht die gleiche Empfindung hervor, sondern nur ein Gefühl der Freude, das leise ihr ganzes Gesicht erhellte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 333-338.
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