[66] Dieser Brief war dem Kaiser noch nicht übergeben worden, als Barclay beim Mittagessen dem Fürsten Andrei mitteilte, der Kaiser wünsche ihn persönlich zu sprechen, um ihn nach dem Stand der Dinge in der Türkei zu befragen; er solle um sechs Uhr abends sich in Bennigsens Quartier einstellen.
An ebendiesem Tag war in dem kaiserlichen Quartier die Nachricht von einer neuen Bewegung Napoleons eingegangen, und man fürchtete, diese Bewegung könne für unsere Armee gefährlich werden (die Nachricht stellte sich aber später als falsch heraus). Und an demselben Vormittag hatte der Oberst Michaud mit dem Kaiser die Befestigungen an der Drissa abgeritten und dem Kaiser bewiesen, daß dieses von Pfuel eingerichtete befestigte Lager, das bisher für ein Meisterstück der Taktik gegolten hatte, an welchem Napoleon seinen Untergang finden müsse, in Wirklichkeit ein Wahnwitz sei und der russischen Armee zum Verderben gereichen werde.
Fürst Andrei ritt nach dem Quartier des Generals Bennigsen, der ein kleines Gutshaus dicht am Fluß bewohnte. Weder Bennigsen noch der Kaiser waren schon anwesend; aber der[66] kaiserliche Flügeladjutant Tschernyschow empfing den Fürsten Andrei und teilte ihm mit, der Kaiser besichtige heute schon zum zweitenmal mit dem General Bennigsen und dem Marquis Paulucci die Befestigungen des Lagers an der Drissa, an dessen Zweckmäßigkeit starke Zweifel aufgetaucht seien.
Tschernyschow saß, als Fürst Andrei eintrat, mit einem französischen Roman an einem Fenster des ersten Zimmers. Dieses Zimmer hatte wahrscheinlich früher als Tanzsaal gedient; es stand darin noch eine Art Drehorgel, über die ein paar Teppiche geworfen waren, und in einer Ecke stand das Feldbett des Adjutanten Bennigsens. Dieser Adjutant war anwesend Augenscheinlich ermüdet, sei es von einem Gelage oder vom Arbeiten, saß er auf dem Bett, dessen Oberdecke zurückgeschlagen war, im Halbschlummer. Aus diesem Saal führten zwei Türen: die eine geradeaus in einen großen Salon, die andere nach rechts in ein Arbeitszimmer. Aus der ersten Tür waren Stimmen vernehmbar, die deutsch und mitunter auch französisch sprachen. Dort, in dem ehemaligen Salon, war nicht eigentlich ein Kriegsrat versammelt (der Kaiser liebte das Unbestimmte), sondern eine Anzahl von Personen, deren Meinung er angesichts der bevorstehenden Schwierigkeiten zu hören wünschte. Es war dies kein Kriegsrat, sondern sozusagen eine Versammlung von Männern, die ausgewählt waren, um dem Kaiser persönlich Aufklärung über gewisse Fragen zu geben. Zu diesem Pseudo-Kriegsrat waren eingeladen: der schwedische General Armfelt, der Generaladjutant Wolzogen, Wintzingerode, welchen Napoleon einen entflohenen französischen Untertanen genannt hatte, Michaud, Toll, der Freiherr vom Stein, obwohl er überhaupt kein Militär war, und endlich Pfuel selbst, der, wie Fürst Andrei gehört hatte, die Haupttriebfeder der ganzen Aktion war. Fürst Andrei hatte Gelegenheit, ihn genau zu betrachten, da Pfuel bald nach ihm[67] ankam, durch den Saal nach dem Salon ging und ein Weilchen stehenblieb, um ein paar Worte mit Tschernyschow zu sprechen.
Im ersten Augenblick kam Pfuel in seiner schlecht gearbeiteten russischen Generalsuniform, die ihm so wenig paßte, als ob er sich verkleidet hätte, dem Fürsten Andrei bekannt vor, obwohl er ihn nie gesehen hatte. Er erinnerte in seiner Erscheinung an Weyrother und Mack und Schmidt und viele andere deutsche Theoretiker der Strategie, die Fürst Andrei im Jahre 1805 zu sehen Gelegenheit gehabt hatte; aber er repräsentierte den Typus reiner als diese alle. Einen solchen deutschen Theoretiker, der alle die charakteristischen Züge jener Männer in sich vereinigte, hatte Fürst Andrei noch niemals gesehen.
Pfuel war von mäßiger Größe, sehr mager, aber starkknochig, von derbem, gesundem Körperbau, mit breitem Becken und vorstehenden Schulterblättern. Sein Gesicht war sehr runzlig, die Augen lagen tief in den Höhlungen. Die Haare waren vorn an den Schläfen augenscheinlich in Eile mit einer Bürste glattgestrichen, ragten aber hinten in einzelnen Büscheln in die Höhe, was einen komischen Eindruck machte. Unruhig und ärgerlich um sich blickend, trat er in den Saal, als ob er in dem großen Salon, nach dem er hinging, alles mögliche Schlimme erwartete. Mit einer linkischen Bewegung den Degen anhebend, wandte er sich an Tschernyschow und fragte ihn auf deutsch, wo der Kaiser sei. Es lag ihm offenbar daran, möglichst schnell seinen Weg durch die Zimmer zurückzulegen und mit den Verbeugungen und Begrüßungen fertigzuwerden, um sich zur Arbeit an die Landkarte setzen zu können, wo er sich an seinem Platz fühlte. Er nickte rasch mit dem Kopf und lächelte ironisch, als er Tschernyschows Antwort hörte, der Kaiser besichtige die Befestigungen, die er, Pfuel, selbst nach Maßgabe seiner Theorie angelegt hatte. Mit seiner Baßstimme und in jenem barschen Ton, dessen sich selbstbewußte[68] Deutsche gern bedienen, brummte er vor sich hin: »Dummheiten ... die ganze Geschichte haben sie verdorben ...'s wird was Gescheites draus werden.« Fürst Andrei hörte nicht darauf hin und wollte vorbeigehen; aber Tschernyschow stellte ihn Pfuel vor und bemerkte dazu, Fürst Andrei komme aus der Türkei, wo der Krieg so glücklich beendet sei. Pfuel sah nicht sowohl den Fürsten Andrei an als vielmehr über ihn hin und äußerte lächelnd: »Das muß ein schöner taktischer Krieg gewesen sein!« Und verächtlich auflachend ging er weiter nach dem Salon, aus dem die Stimmen herausklangen.
Offenbar war Pfuel, der auch sonst stets zu gereizten, ironischen Äußerungen neigte, an diesem Tag besonders erregt, weil man gewagt hatte, ohne ihn hinzuzuziehen, sein Lager zu besichtigen und zu kritisieren. Fürst Andrei konnte sich, dank seinen Austerlitzer Erinnerungen, schon aufgrund dieser einen kurzen Begegnung mit Pfuel ein klares Bild von dem Charakter dieses Mannes machen. Pfuel war von einem unerschütterlichen, unheilbaren, geradezu fanatischen Selbstbewußtsein erfüllt, wie es eben nur bei den Deutschen vorkommt, und zwar besonders deswegen, weil nur die Deutschen aufgrund einer abstrakten Idee selbstbewußt sind, aufgrund der Wissenschaft, d.h. einer vermeintlichen Kenntnis der vollkommenen Wahrheit. Der Franzose ist selbstbewußt, weil er meint, daß seine Persönlichkeit sowohl durch geistige als durch körperliche Vorzüge auf Männer und Frauen unwiderstehlich bezaubernd wirkt. Der Engländer ist selbstbewußt aufgrund der Tatsache, daß er ein Bürger des besteingerichteten Staates der Welt ist, und weil er als Engländer immer weiß, was er zu tun hat, und weiß, daß alles, was er als Engländer tut, zweifellos das Richtige ist. Der Italiener ist selbstbewußt, weil er ein aufgeregter Mensch ist und leicht sich und andere vergißt. Der Russe ist besonders deswegen selbstbewußt, weil er nichts[69] weiß und auch nichts wissen will, da er nicht an die Möglichkeit glaubt, daß man etwas wissen könne. Aber bei dem Deutschen ist das Selbstbewußtsein schlimmer, hartnäckiger und widerwärtiger als bei allen andern, weil er sich einbildet, die Wahrheit zu kennen, nämlich die Wissenschaft, die er sich selbst ausgedacht hat, die aber für ihn die absolute Wahrheit ist.
Ein solcher Mensch war offenbar Pfuel. Er war im Besitz der Wissenschaft, d.h. einer Theorie der schrägen Bewegung; diese Theorie hatte er sich aus der Geschichte der Kriege Friedrichs des Großen abgeleitet, und alles, was ihm in der neueren Kriegsgeschichte vorkam, erschien ihm als Unsinn, als Barbarei, als wüste Rauferei, wobei von beiden Seiten so viele Fehler begangen seien, daß diese Kriege gar nicht Kriege genannt werden könnten; sie fügten sich nicht in die Theorie und konnten nicht als Objekt der Wissenschaft dienen.
Im Jahre 1806 hatte Pfuel an der Aufstellung des Feldzugsplanes für jenen Krieg mitgearbeitet, der mit Jena und Auerstedt endete; aber in dem Ausgang dieses Krieges sah er nicht den geringsten Beweis für die Unrichtigkeit seiner Theorie. Im Gegenteil waren nach seiner Anschauung die einzige Ursache des ganzen Mißlingens die Abweichungen, die man sich von seiner Theorie gestattet hatte, und mit der ihm eigenen ironischen Freude äußerte er: »Ich sagte ja vorher, daß die ganze Geschichte zum Teufel gehen werde.« Pfuel gehörte zu den Theoretikern, die in ihre Theorie so verliebt sind, daß sie den Zweck der Theorie, ihre Anwendung auf die Praxis, vergessen; in seiner Liebe zur Theorie haßte er jede Praxis und wollte von ihr nichts wissen. Er freute sich sogar über einen Mißerfolg; denn der Mißerfolg, da er von den Abweichungen herrührte, die man sich in der Praxis von der Theorie erlaubt hatte, bewies ihm lediglich die Richtigkeit seiner Theorie.[70]
Die paar Worte, die er vor den Ohren des Fürsten Andrei und Tschernyschows über den jetzigen Krieg hingeworfen hatte, waren in einer Art gesprochen, als wisse er im voraus, daß alles schiefgehen werde, und sei damit gar nicht einmal unzufrieden. Selbst die auf dem Hinterkopf aufstarrenden ungekämmten Haarbüschel und die eilig zurechtgebürsteten Schläfenhaare schienen das gewissermaßen klar und deutlich auszusprechen.
Er ging in das andere Zimmer, den Salon, und es ließen sich von dort sogleich die tiefen, mürrischen Töne seiner Stimme vernehmen.
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