VII

[40] Nach allem, was Napoleon zu ihm gesagt hatte, nach jenen Zornausbrüchen und nach den letzten in trockenem Ton gesprochenen Worten: »Ich will Sie nicht länger aufhalten, General; mein Brief wird Ihnen zugestellt werden«, war Balaschow überzeugt, daß Napoleon nicht mehr wünschen werde, ihn zu sehen, ja sogar ein nochmaliges Zusammentreffen mit ihm geflissentlich vermeiden werde, mit ihm, dem beleidigten Abgesandten und vor allen Dingen dem Zeugen seiner unpassenden Heftigkeit. Aber zu seiner Verwunderung empfing Balaschow durch Duroc eine Einladung zur Tafel des Kaisers für denselben Tag.

Bei dem Diner waren noch Bessières, Caulaincourt und Berthier zugegen.

Napoleon begrüßte Balaschow mit heiterer, freundlicher Miene. Von Verlegenheit oder Selbstvorwürfen wegen seines heftigen Wesens am Vormittag war ihm nichts anzumerken; ganz im Gegenteil gab er sich Mühe, Balaschow aufzumuntern. Man sah, daß für Napoleon nach seiner Anschauung die Möglichkeit, Irrtümer und Fehler zu begehen, schon längst nicht mehr existierte, und daß nach seiner Meinung alles, was er tat, gut war, nicht weil es sich mit dem allgemein anerkannten Begriff des Guten deckte, sondern eben weil er es tat.

Der Kaiser war nach seinem Spazierritt durch Wilna sehr gut gelaunt. Große Haufen Volkes hatten ihn enthusiastisch begrüßt und geleitet. Aus allen Fenstern der Straßen, durch die er geritten war, waren Teppiche, Fahnen und sein Monogramm ausgehängt gewesen, und die polnischen Damen hatten zu seiner Begrüßung mit den Taschentüchern geweht.

Bei Tisch wies er Balaschow einen Platz neben sich an und[41] behandelte ihn nicht nur freundlich, sondern so, als ob er auch Balaschow zu seinen Hofleuten rechnete, zu denen, die mit seinen Plänen sympathisierten und sich über seine Erfolge naturgemäß freuten. Unter anderen Gesprächsgegenständen fing er auch an über Moskau zu reden und erkundigte sich bei Balaschow nach dieser russischen Residenz, nicht nur in der Art, wie ein wißbegieriger Reisender sich nach einem fremden Ort erkundigt, den er zu besuchen beabsichtigt, sondern gewissermaßen in der Überzeugung, daß Balaschow sich als Russe durch diese Wißbegierde geschmeichelt fühlen müsse.

»Wieviel Einwohner hat Moskau? Wieviel Häuser? Ist es wahr, daß Moskau das heilige Moskau genannt wird? Wieviel Kirchen gibt es in Moskau?« fragte er.

Und auf die Antwort, daß es dort mehr als zweihundert Kirchen gebe, sagte er:

»Wozu denn eine solche Unmenge von Kirchen?«

»Die Russen sind sehr fromm«, antwortete Balaschow.

»Aber eine große Zahl von Klöstern und Kirchen ist immer ein Zeichen der Rückständigkeit eines Volkes«, bemerkte Napoleon und blickte sich nach Caulaincourt um, um zu sehen, wie dieser wohl über die soeben ausgesprochene allgemeine Behauptung urteilte.

Balaschow erlaubte sich respektvoll anderer Meinung zu sein als der französische Kaiser.

»Jedes Land hat seine eigenen Sitten«, sagte er.

»Aber nirgends in Europa gibt es etwas Ähnliches«, entgegnete Napoleon.

»Ich bitte Euer Majestät um Verzeihung«, antwortete Balaschow. »Außer in Rußland gibt es auch in Spanien viele Kirchen und Klöster.«

Diese Antwort Balaschows, die eine Hindeutung auf die Niederlage[42] enthielt, welche die Franzosen unlängst in Spanien erlitten hatten, wurde, als Balaschow von ihr am Hof des Kaisers Alexander berichtet hatte, dort außerordentlich bewundert, während sie jetzt an der Tafel Napoleons sehr wenig gewürdigt wurde und fast unbeachtet vorüberging.

Den gleichgültigen, verwunderten Gesichtern der Herren Marschälle war anzusehen, daß sie nicht begriffen, worin bei diesem Satz eigentlich die Pointe stecken sollte, da doch auf das Vorhandensein einer solchen Balaschows besondere Betonung hinzuweisen schien. »Wenn wirklich eine Pointe darin war, so haben wir sie nicht verstanden, oder sie ist nicht gerade sehr geistreich gewesen«, sagte der Gesichtsausdruck der Marschälle. So wenig wurde diese Antwort gewürdigt, daß Napoleon auf sie überhaupt nicht aufmerksam wurde und an Balaschow die sehr naive Frage richtete, über welche Städte der gerade Weg von Wilna nach Moskau führe. Balaschow, der während des ganzen Diners auf seiner Hut war, antwortete, wie jeder Weg nach Rom führe, so führe auch jeder nach Moskau; es gebe viele Wege, darunter auch den über Poltawa, welchen Karl XII. gewählt habe. Dabei wurde Balaschow unwillkürlich ganz rot vor Freude darüber, daß ihm diese Antwort so gut gelungen sei. Aber er hatte die letzten Worte über Poltawa noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als schon Caulaincourt von der Unbequemlichkeit der Landstraße von Petersburg nach Moskau und von seinen Petersburger Erinnerungen zu reden begann.

Als die Tafel aufgehoben war, ging man, um Kaffee zu trinken, in Napoleons Arbeitszimmer, welches vier Tage vorher das Arbeitszimmer des Kaisers Alexander gewesen war. Napoleon setzte sich, nippte ein wenig an seinem Kaffee in der Sèvres-Tasse und lud durch eine Handbewegung Balaschow ein, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen.[43]

Nach dem Mittagessen befindet man sich nicht selten in einer solchen Stimmung, daß man, unbekümmert um alle Vernunftgründe, mit sich selbst zufrieden ist und alle Menschen für seine Freunde hält. In dieser Stimmung war auch Napoleon. Er hatte die Empfindung, daß er von Menschen umgeben sei, die ihn vergötterten, und war überzeugt, daß nach seinem Diner auch Balaschow sein Freund und Verehrer sei. Mit einem freundlichen, ein wenig spöttischen Lächeln wandte er sich zu ihm.

»Wie mir gesagt wurde, ist dies dasselbe Zimmer, in welchem Kaiser Alexander gewohnt hat. Sonderbar, nicht wahr, General?« sagte er, augenscheinlich ohne daran zu zweifeln, daß diese Bemerkung dem Angeredeten nur angenehm sein könne, da aus ihr seine, Napoleons, Überlegenheit über Alexander hervorging.

Balaschow konnte darauf nichts antworten und neigte schweigend den Kopf.

»Ja, in diesem Zimmer haben vor vier Tagen Wintzingerode und Stein Rat gehalten«, fuhr Napoleon mit demselben spöttischen, selbstzufriedenen Lächeln fort. »Was ich nicht begreifen kann«, fügte er hinzu, »ist dies, daß Kaiser Alexander alle meine persönlichen Feinde in seine Nähe gezogen hat. Das begreife ich nicht. Er hat wohl nicht bedacht, daß ich dasselbe tun kann?« sagte er in fragendem Ton zu Balaschow, und dieser Gedanke führte ihn wieder auf die Vorstellungsreihe, bei der er am Vormittag so zornig geworden war; dieser Zorn glühte in seinem Innern noch unter der Asche.

»Er mag sich gesagt sein lassen, daß ich das tun werde«, sagte Napoleon, indem der aufstand und seine Tasse mit der Hand zurückstieß. »Und ich werde auch alle seine Verwandten aus Deutschland vertreiben: die Württemberger und die Badenser und die Weimaraner ... jawohl, hinausjagen werde ich sie. Er mag nur ein Asyl für sie in Rußland bereithalten!«[44]

Balaschow neigte den Kopf und deutete durch seine Miene an, daß er sich gern empfehlen möchte und nur zuhöre, weil er eben nicht anders könne als anhören, was zu ihm gesagt werde. Aber Napoleon bemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht; er verkehrte mit Balaschow nicht wie mit dem Abgesandten seines Feindes, sondern wie mit jemandem, der ihm jetzt völlig ergeben sei und sich über die Herabsetzung seines früheren Herrn freuen müsse.

»Und warum hat Kaiser Alexander das Kommando über die Truppen übernommen? Was hat das für Zweck? Der Krieg ist mein Handwerk; er versteht wohl ein Land zu regieren, aber nicht Truppen zu kommandieren. Warum hat er eine so große Verantwortung auf sich genommen?«

Napoleon griff wieder zu seiner Tabaksdose, ging schweigend einige Male im Zimmer auf und ab und trat plötzlich unerwartet an Balaschow heran. Mit freundlicher Miene und mit einer solchen Sicherheit, Schnelligkeit und Natürlichkeit, als ob das, was er tat, nicht nur etwas sehr Wichtiges, sondern auch für Balaschow etwas sehr Angenehmes wäre, hob er die Hand zu dem Gesicht des vierzigjährigen russischen Generals in die Höhe, faßte ihn am Ohr und zog leise daran, wobei er nur mit den Lippen lächelte.

Vom Kaiser am Ohr gezogen zu werden galt am französischen Hof für die größte Ehre und Gnade.

»Nun, Sie sagen ja gar nichts, Sie Bewunderer und Höfling des Kaisers Alexander?« sagte er, als wäre es komisch, in seiner Gegenwart der Höfling und Bewunderer eines anderen zu sein als der seinige, Napoleons. »Stehen Pferde für den General bereit?« fügte er hinzu und neigte leicht den Kopf als Antwort auf Balaschows Verbeugung. »Geben Sie ihm von meinen Pferden; er hat weit zu reiten.«

Das Antwortschreiben, das Balaschow überbrachte, war der[45] letzte Brief Napoleons an Alexander. Alle Einzelheiten der Unterredung wurden dem russischen Kaiser berichtet, und der Krieg begann ...

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 40-46.
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