XV

[310] Natascha hatte an diesem Tag vom frühen Morgen an auch nicht einen Augenblick lang freie Zeit gehabt und war nicht ein einziges Mal dazu gekommen, über das, was ihr bevorstand, nachzudenken.

In der feuchten, kalten Luft, der Enge und dem Halbdunkel des schaukelnden Wagens stellte sie sich zum erstenmal lebhaft[310] das vor, was ihrer dort, auf dem Ball, in den hellerleuchteten Sälen, wartete: Musik, Blumen, Tänze, der Kaiser, die ganze glänzende Jugend Petersburgs. Das, was ihrer wartete, war so schön, daß sie nicht einmal daran glauben konnte, daß es Wirklichkeit werden würde – so wenig stand es mit ihren jetzigen Empfindungen im Einklang: mit der Kälte, Enge und Dunkelheit des Wagens. Alles das, was ihrer wartete, kam ihr erst dann recht zum Verständnis, als sie über das rote Tuch am Portal gegangen war und nun in den Flur eintrat, den Pelz ablegte und neben Sonja vor der Mutter her zwischen Blumen die hellerleuchtete Treppe hinanstieg. Da erst begann sie zu überlegen, wie sie sich auf dem Ball benehmen müsse, und bemühte sich, das majestätische Wesen anzunehmen, welches sie für ein junges Mädchen auf einem Ball für notwendig erachtete. Aber zu ihrem Glück mußte sie merken, daß ihre Augen unwillkürlich umherliefen; sie vermochte nichts deutlich zu sehen; ihr Puls hatte hundert Schläge in der Minute, und das Blut in ihrem Herzen fing gewaltig zu klopfen an. Sie war nicht imstande, jenes Wesen anzunehmen, durch das sie sich lächerlich gemacht haben würde, und ging vorwärts halb bewußtlos vor Aufregung und mit allen Kräften bemüht, diese Aufregung zu verbergen. Und gerade dies war dasjenige Wesen, das ihr am allerbesten stand. Vor ihnen und hinter ihnen gingen, gleichfalls im Ballanzug, leise miteinander redend, andere Gäste. Die Spiegel auf der Treppe warfen die Bilder der Damen in weißen, blauen und rosa Kleidern, mit Brillanten und Perlen an den entblößten Armen und Hälsen, zurück.

Natascha blickte in die Spiegel, konnte aber darin ihr eigenes Bild nicht aus denen der anderen herausfinden. Alles floß zu einer einzigen glänzenden Prozession zusammen. Beim Eintritt in den ersten Saal wurde Natascha durch das gleichmäßige Getöse[311] der Stimmen, der Schritte und der Begrüßungen ganz betäubt; Licht und Glanz blendeten sie noch mehr als vorher. Der Hausherr und die Hausfrau, die schon seit einer halben Stunde an der Eingangstür standen und zu den Eintretenden immer ein und dieselben Worte sagten: »Wir sind entzückt, Sie zu sehen«, begrüßten ebenso auch Rostows und Fräulein Peronskaja.

Die beiden jungen Mädchen, beide in den gleichen weißen Kleidern, mit den gleichen Rosen im schwarzen Haar, machten in gleicher Weise ihren Knicks; aber unwillkürlich ließ die Hausfrau ihren Blick länger auf der schlanken Natascha ruhen. Sie betrachtete sie mit Interesse und lächelte ihr allein besonders zu, noch über das Lächeln hinaus, das sie als Hausfrau allen zu zeigen hatte. Beim Anblick dieses jungen Mädchens erinnerte sie sich vielleicht an ihre eigene goldene, nie wiederkehrende Mädchenzeit und an ihren ersten Ball. Auch der Hausherr folgte Natascha mit den Augen und fragte den Grafen, welches seine Tochter sei.

»Allerliebst!« sagte er und küßte seine Fingerspitzen.

Im Saal erwarteten die Gäste, an der Eingangstür zusammengedrängt, stehend den Kaiser. Die Gräfin mit den Ihrigen stellte sich in die vordersten Reihen dieser Menge. Natascha hörte und merkte an den Blicken, daß manche der Umstehenden nach ihr fragten und sie betrachteten. Sie wußte, daß sie denen gefiel, die ihr ihre Aufmerksamkeit zuwandten, und diese Wahrnehmung diente dazu, sie einigermaßen zu beruhigen.

»Hier sind manche von derselben Art wie wir und manche, die nicht so gut aussehen wie wir«, dachte sie.

Fräulein Peronskaja nannte der Gräfin die berühmtesten der auf dem Ball anwesenden Persönlichkeiten.

»Dort, das ist der holländische Gesandte, sehen Sie wohl, der Graukopf«, sagte Fräulein Peronskaja, indem sie auf einen alten[312] Herrn mit noch vollem, lockigem, silbergrauem Haar wies, der von Damen umgeben war, die er durch irgendwelche Späße zum Lachen brachte.

»Und da ist sie, die Königin von Petersburg, die Gräfin Besuchowa«, sagte sie und zeigte auf die eintretende Helene. »Wie schön sie ist! Sie gibt Marja Antonowna nichts nach; sehen Sie nur, wie die jungen und alten Herren ihr den Hof machen. Sie ist beides: schön und klug. Es heißt, daß Prinz« (sie nannte den Namen) »ganz wahnsinnig in sie verliebt ist. Und hier diese zwei Damen, wenn sie auch nicht schön sind, werden sogar noch mehr umschwärmt.« Sie zeigte auf eine Mutter und deren recht häßliche Tochter, die durch den Saal gingen.

»Das junge Mädchen hat viele Millionen«, sagte Fräulein Peronskaja. »Und nun sehen Sie nur diese Anzahl von Bewerbern!«

»Das ist ein Bruder der Gräfin Besuchowa, Anatol Kuragin«, erklärte sie weiter, indem sie auf einen schönen Chevaliergardisten wies, der an ihnen vorbeiging und mit hocherhobenem Kopf über alle Damen weg ins Unbestimmte blickte. »Welch ein schöner Mann! Nicht wahr? Man sagt, er wird dieses reiche Mädchen bekommen. Auch Ihr Verwandter, Drubezkoi, bemüht sich stark um sie. Sie soll Millionen mitbekommen. Gewiß, das ist der französische Gesandte«, antwortete sie mit Bezug auf Caulaincourt auf eine Frage der Gräfin, wer das sei. »Sehen Sie nur, wie ein regierender Herrscher! Und doch sind die Franzosen so liebenswürdig, so überaus liebenswürdig. Im gesellschaftlichen Leben kann man sich gar nichts Liebenswürdigeres denken. Und da ist auch sie! Nein, die Schönste von allen ist doch unsere Marja Antonowna! Und wie einfach sie angezogen ist! Entzückend! – Und dieser Dicke da mit der Brille, das ist ein kosmopolitischer[313] Freimaurer«, sagte Fräulein Peronskaja, auf Besuchow zeigend. »Halten Sie ihn einmal neben seine Frau dort: der reine Hanswurst!«

Pierre schritt, die Menge teilend, vorwärts, indem er seinen dicken Körper hin und her wiegte und so lässig und gutmütig nach rechts und links nickte, als wenn er durch den Menschenschwarm auf einem Markt ginge. An der Art, wie er sich durch die Menge weiterschob, konnte man sehen, daß er jemand suchte.

Natascha freute sich sehr, das bekannte Gesicht Pierres, dieses Hanswurstes, wie ihn Fräulein Peronskaja genannt hatte, zu erblicken; sie wußte, daß Pierre nach ihnen und namentlich nach ihr in der Menge suchte. Pierre hatte ihr versprochen, zu dem Ball zu kommen und ihr Herren vorzustellen.

Aber ehe Pierre noch zu ihnen hingelangt war, blieb er bei einem nur mäßig großen, sehr schönen, brünetten Offizier in weißer Uniform stehen, der am Fenster stand und mit einem andern, hochgewachsenen Herrn mit Ordensstern und Ordensband im Gespräch begriffen war. Natascha erkannte den kleineren jungen Mann in der weißen Uniform auf den ersten Blick: es war Bolkonski, und es wollte ihr scheinen, als sei er bedeutend jünger, heiterer und schöner geworden.

»Da ist noch ein Bekannter, Mama; sehen Sie ihn? Bolkonski«, sagte Natascha, auf den Fürsten Andrei weisend. »Besinnen Sie sich? Er hat einmal bei uns in Otradnoje eine Nacht logiert.«

»Ah, Sie kennen ihn?« sagte Fräulein Peronskaja. »Ich kann ihn nicht ausstehen. Er hat in den höheren Regionen jetzt großen Einfluß: er macht sozusagen Regen und Sonnenschein. Und dabei besitzt er einen Hochmut, der grenzenlos ist! Er artet ganz nach seinem Vater. Er hat sich jetzt mit Speranski liiert, und sie verfassen zusammen allerlei Reformprojekte. Sehen Sie nur, wie er mit den Damen verkehrt! Da redet eine mit ihm, und er[314] wendet sich von ihr fort!« sagte sie, empört nach ihm hindeutend. »Ich würde es ihm gehörig geben, wenn er sich gegen mich so benehmen wollte, wie gegen diese Damen.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 310-315.
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