XVIII

[324] Am andern Tag erinnerte sich Fürst Andrei zwar an den gestrigen Ball; aber er verweilte mit seinen Gedanken nicht lange dabei. »Ja, es war ein recht glänzender Ball. Und es war doch noch etwas ... ja, richtig, Fräulein Rostowa ist allerliebst. Sie besitzt so eine eigene Frische, wie man sie sonst in Petersburg nicht findet; dadurch zeichnet sie sich aus.« Das war alles, was er über den gestrigen Ball dachte; und dann trank er Tee und setzte sich an die Arbeit.

Aber da er infolge der schlaflos verbrachten Nacht matt und müde war, ging an diesem Tag die Arbeit nicht recht vonstatten, und Fürst Andrei war außerstande etwas Ordentliches zu schaffen; fortwährend verwarf er (wie er das übrigens nicht selten tat) sofort selbst wieder, was er gemacht hatte, und war froh, als er jemand kommen hörte.

Der Besucher war ein Herr Bizki, der in verschiedenen Kommissionen mitarbeitete und in allen gesellschaftlichen Kreisen Petersburgs verkehrte, ein leidenschaftlicher Anhänger der neuen Ideen und persönlicher Verehrer Speranskis, der eifrigste Neuigkeitsjäger von ganz Petersburg, einer von den Menschen, die sich ihre politische Meinung gerade wie einen Anzug nach der Mode aussuchen, die aber eben darum sich als die eifrigsten Parteigänger ihrer jedesmaligen Richtung gebärden. Geschäftig kam er, nachdem er sich kaum Zeit gelassen hatte, den Hut abzulegen, zum Fürsten Andrei ins Zimmer gelaufen und begann sogleich zu reden. Er hatte soeben Einzelheiten über die am Vormittag[324] dieses Tages stattgefundene Sitzung des Reichsrates gehört, die der Kaiser selbst eröffnet hatte, und erzählte davon in enthusiastischen Ausdrücken. Die Rede des Kaisers war von ganz ungewöhnlicher Art gewesen. Es war eine Rede gewesen, wie sie eigentlich nur konstitutionelle Monarchen halten. »Der Kaiser hat geradezu gesagt, der Reichsrat und der Senat seien staatliche Körperschaften; er hat gesagt, die Regierung dürfe nicht nach Willkür verfahren, sondern müsse ihrem Handeln feste Prinzipien zugrunde legen. Der Kaiser hat gesagt, das Finanzwesen müsse reorganisiert werden, und es solle ein Rechenschaftsbericht publiziert werden«, berichtete Bizki, wobei er einzelne Worte stark betonte und in bedeutsamer Weise die Augen weit öffnete.

»Ja, das heutige Ereignis ist der Beginn einer neuen Ära, der größten Ära in unserer Geschichte«, schloß er.

Fürst Andrei hörte den Bericht über die Eröffnung des Reichsrates, die er mit solcher Ungeduld erwartet und der er eine solche Bedeutung beigemessen hatte, und war erstaunt, daß dieses Ereignis jetzt, wo es sich vollzogen hatte, auf ihn gar keinen besonderen Eindruck machte, ja sogar ihm ganz unwichtig erschien. Er hörte Bizkis begeisterte Erzählung mit einem leisen spöttischen Lächeln. Ein überaus einfacher Gedanke ging ihm durch den Kopf: »Was geht das mich und Bizki an? Was haben wir beide davon, daß der Kaiser geruht hat dies und das im Reichsrat zu sagen? Kann mich das etwa glücklicher und besser machen?«

Und diese einfache Erwägung vernichtete plötzlich bei dem Fürsten Andrei das ganze Interesse, das er früher an den im Werk begriffenen Reformen genommen hatte. An diesem selben Tag sollte er bei Speranski dinieren, »im engsten Kreis«, wie ihm der Hausherr bei der Einladung gesagt hatte. Eine solche[325] Einladung zu einem Diner im Familien- und Freundeskreis bei einem Mann, von dem er so begeistert war, hätte noch vor kurzem für den Fürsten Andrei großen Reiz gehabt, um so mehr, da er Speranski bisher noch nie in seiner Häuslichkeit gesehen hatte; aber jetzt hatte er eigentlich gar keine Lust hinzufahren.

Indes betrat Fürst Andrei dennoch zu der Zeit, auf die das Diner angesetzt war, Speranskis eigenes kleines Haus beim Taurischen Garten. Dieses Häuschen zeichnete sich durch eine ganz außerordentliche Sauberkeit aus, die an die Sauberkeit erinnerte, wie sie in Klöstern zu herrschen pflegt. In dem mit Parkett ausgelegten Speisezimmer fand Fürst Andrei, der sich ein wenig verspätet hatte, um fünf Uhr bereits sämtliche Teilnehmer dieses intimen Diners, nähere Bekannte Speranskis, versammelt. Damen waren nicht dabei, außer der kleinen Tochter Speranskis, deren langes Gesicht an den Vater erinnerte, und ihrer Gouvernante. Die Gäste waren: Gervais, Magnizki und Stolypin. Schon als er noch im Vorzimmer war, hörte Fürst Andrei laute Stimmen und helltönendes, deutlich artikuliertes Lachen, ein Lachen ähnlich dem der Schauspieler auf der Bühne. Mit einer Stimme, die der Stimme Speranskis glich, rief jemand deutlich: »Ha ... ha ... ha ...« Fürst Andrei hatte Speranski noch nie lachen hören, und dieses helle, deutliche Lachen des Staatsmannes berührte ihn sonderbar.

Fürst Andrei trat in das Speisezimmer. Die ganze Gesellschaft stand zwischen zwei Fenstern an einem kleinen Tisch mit kalten Vorspeisen. Speranski, in einem grauen Frack mit einem Orden und augenscheinlich noch mit derselben weißen Weste und derselben hohen, weißen Halsbinde, die er in der denkwürdigen Sitzung des Reichsrates getragen hatte, stand mit vergnügtem Gesicht am Tisch und die Gäste um ihn herum. Magnizki erzählte, zu dem Hausherrn gewendet, eine Anekdote; Speranski[326] hörte zu und lachte immer schon im voraus über das, was Magnizki sagen wollte. In dem Augenblick, als Fürst Andrei ins Zimmer trat, wurden gerade wieder Magnizkis Worte durch Gelächter übertönt. Stolypin, der an einem Stück Brot mit Käse kaute, lachte laut und in tiefen Tönen, Gervais leise und zischend und Speranski hell und deutlich.

Speranski reichte, immer noch lachend, dem Fürsten Andrei seine weiße, zarte Hand.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Fürst«, sagte er. »Ein Augenblickchen!« wandte er sich an Magnizki, dessen Erzählung unterbrechend. »Bei uns gilt heute als Gesetz: beim Essen nur vergnügt zu sein und kein Wort von geschäftlichen Dingen zu reden.«

Fürst Andrei hörte und sah mit Erstaunen und schmerzlicher Enttäuschung, wie Speranski lachte. Das war, wie es ihm schien, gar nicht Speranski, sondern ein anderer Mensch. Alles, was ihm vorher an Speranski geheimnisvoll und anziehend erschienen war, war ihm jetzt nur zu klar geworden und hatte für ihn allen Reiz verloren.

Bei Tisch verstummte das Gespräch keinen Augenblick und bestand eigentlich aus einer ununterbrochenen Kette komischer Anekdoten. Kaum hatte Magnizki seine Erzählung beendet, als sich schon ein anderer anheischig machte, etwas noch Komischeres zu erzählen. Die Anekdoten betrafen größtenteils wenn nicht die Staatsverwaltung selbst, so doch die Personen der Beamten. Die völlige Wertlosigkeit der Beamten schien in dieser Gesellschaft so sehr als feststehende Tatsache betrachtet zu werden, daß man glaubte, von dieser Menschenklasse nur mit gutmütiger Ironie sprechen zu dürfen. Speranski erzählte, daß am Vormittag in der Reichsratssitzung ein tauber hochgestellter Beamter auf die Frage nach seiner Meinung beziehungslos geantwortet[327] habe, er sei derselben Meinung. Gervais gab eine längere Geschichte von einer Revision zum besten, bei der der Unverstand aller Beteiligten großartig gewesen sei. Stotternd beteiligte sich nun auch Stolypin an dem Gespräch und begann mit Heftigkeit über die Mißstände des früheren Regimes zu reden, wodurch das Gespräch einen ernsten Charakter anzunehmen drohte. Aber Magnizki machte sich über Stolypins Heftigkeit lustig, und Gervais fiel mit einem Scherz ein: so kam die Unterhaltung wieder in das frühere Fahrwasser der Lustigkeit.

Augenscheinlich liebte es Speranski, sich nach der Arbeit zu erholen und sich im Freundeskreis zu erheitern, und alle seine Gäste kannten diesen seinen Wunsch und waren bemüht, ihn und sich selbst zu amüsieren. Aber diese Heiterkeit schien dem Fürsten Andrei etwas Forciertes zu haben und keine echte zu sein. Der helle Klang von Speranskis Stimme machte ihm einen unangenehmen Eindruck, und das nie verstummende Lachen hatte durch die herauszuhörende Unechtheit für das Gefühl des Fürsten Andrei etwas Verletzendes. Fürst Andrei lachte nicht mit und fürchtete, in dieser Gesellschaft durch sein ernstes Wesen Anstoß zu erregen. Aber niemand bemerkte, daß er nicht mit der allgemeinen Stimmung harmonierte. Alle schienen äußerst vergnügt zu sein.

Er machte ein paarmal den Versuch, sich an dem Gespräch zu beteiligen; aber jedesmal wurde seine Bemerkung wie ein Korkpfropfen aus dem Wasser herausgeworfen. Und mit ihnen zusammen zu scherzen und zu lachen, das bekam er nicht fertig.

Es lag nichts Schlimmes oder Unpassendes in dem, was sie sagten; alles war scharfsinnig und klug und hätte als komisch passieren können; aber ein gewisses Etwas, eben das, was das Salz der Heiterkeit bildet, war nicht vorhanden, ja, sie schienen überhaupt nicht zu wissen, daß es so etwas gab.[328]

Nach dem Essen standen Speranskis Töchterchen und ihre Gouvernante auf. Speranski streichelte das Kind liebkosend mit seiner weißen Hand und küßte es. Auch dieses Benehmen machte auf den Fürsten Andrei den Eindruck des Gekünstelten.

Die Herren blieben nach englischer Sitte am Tisch beim Portwein sitzen. Bei einem Gespräch über Napoleons kriegerische Operationen in Spanien, in deren Bewunderung alle einer Meinung waren, unternahm es Fürst Andrei, ihnen zu widersprechen. Speranski lächelte und erzählte, offenbar in der Absicht, das Gespräch von der Richtung, die es nahm, wieder abzulenken, eine Anekdote, die zu dem Gegenstand des Gespräches nicht in Beziehung stand. Eine kleine Weile waren alle still.

Nachdem sie eine Zeitlang bei Tisch gesessen hatten, korkte Speranski die Weinflasche zu, sagte: »Mit einem guten Wein muß man heutzutage sparsam umgehen«, gab sie dem Diener und stand auf. Alle erhoben sich und gingen, sich ebenso laut weiter unterhaltend, in den Salon. Speranski wurden zwei Briefe überreicht, die ein Kurier gebracht hatte. Er nahm sie und ging damit in sein Arbeitszimmer. Sowie er hinaus war, verstummte die allgemeine Lustigkeit, und die Gäste begannen ruhig und vernünftig miteinander zu reden.

»Nun, jetzt aber eine Deklamation!« rief Speranski, als er wieder aus seinem Arbeitszimmer herauskam. »Er besitzt ein ganz erstaunliches Talent!« sagte er zu dem Fürsten Andrei. Magnizki stellte sich sofort in Positur und trug französische Spottgedichte vor, die er auf einige bekannte Persönlichkeiten Petersburgs verfaßt hatte; mehrmals wurde er dabei durch Beifallklatschen unterbrochen. Nach Beendigung dieser Deklamation trat Fürst Andrei an Speranski heran, um sich zu empfehlen.

»Wohin wollen Sie denn so früh?« fragte Speranski.[329]

»Ich habe für den Abend anderweitig zugesagt ...«

Beide schwiegen einen Augenblick. Fürst Andrei blickte aus der Nähe in diese spiegelartigen Augen, die kein Eindringen gestatteten, und es kam ihm lächerlich vor, wie er von Speranski und der ganzen Tätigkeit, die mit dessen Person zusammenhing, etwas hatte erwarten und dem, was Speranski tat, irgendeine Wichtigkeit hatte beimessen können. Dieses artikulierte, unecht heitere Lachen klang dem Fürsten Andrei, nachdem er von Speranski weggefahren war, noch lange in den Ohren.

Als er nach Hause zurückgekehrt war, fing Fürst Andrei an, das Leben, das er in Petersburg während dieser vier Monate geführt hatte, zu überdenken, als ob dieses Leben ihm etwas Neues wäre. Er erinnerte sich an seine eifrige Geschäftigkeit, an seine Bestrebungen, an das Schicksal seines Entwurfes eines Militärreglements, der zur Prüfung entgegengenommen war, und den man einzig und allein deshalb totzuschweigen suchte, weil eine andere, sehr schlechte Arbeit schon fertiggestellt und dem Kaiser vorgelegt war; er erinnerte sich an die Sitzungen des Komitees, zu dessen Mitgliedern auch Berg gehörte; er erinnerte sich, mit welcher Genauigkeit und Ausführlichkeit in diesen Sitzungen alles erörtert worden war, was die Form und den Geschäftsgang der Komiteesitzungen anlangte, und wie kurz man geflissentlich alles das abgetan hatte, was sich auf die Sache selbst bezog. Er erinnerte sich an seine gesetzgeberische Arbeit, erinnerte sich daran, mit welcher Sorgfalt er Artikel der römischen und französischen Gesetzsammlung ins Russische übersetzt hatte, und begann sich vor sich selbst zu schämen. Dann stellte er sich lebhaft sein Gut Bogutscharowo vor und seine Tätigkeit auf dem Land und seine Reise nach Rjasan; er erinnerte sich an seine Bauern, an den Dorfschulzen Dron, hielt in Gedanken mit diesen Leuten das Personenrecht zusammen, das er in Paragraphen[330] eingeteilt hatte, und es kam ihm wunderlich vor, wie er sich so lange mit einer so nutzlosen Arbeit hatte beschäftigen können.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 324-331.
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