X

[63] Es war dem alten Grafen Rostow durch seine Bemühungen gelungen, Nikolais Beteiligung an dem Duell zwischen Dolochow und Besuchow zu vertuschen, und Nikolai war, statt degradiert zu werden, wie er es erwartet hatte, vielmehr zum Adjutanten beim Generalgouverneur von Moskau ernannt worden. Infolgedessen konnte er nicht mit der übrigen Familie aufs Land fahren, sondern blieb wegen seiner neuen Tätigkeit den ganzen Sommer über in Moskau. Dolochow genas wieder von seiner Verwundung, und Rostow befreundete sich mit ihm während seiner Rekonvaleszenz noch enger als vorher. Dolochow überstand sein Krankenlager in der Wohnung seiner Mutter, die ihn zärtlich und leidenschaftlich liebte. Die alte Marja Iwanowna, die den jungen Rostow wegen seiner freundschaftlichen Zuneigung zu ihrem Fjodor liebgewonnen hatte, sprach häufig mit ihm über ihren Sohn.

»Ja, Graf«, pflegte sie zu sagen, »er hat eine zu edle, reine Seele für die jetzige verderbte Welt. Die Tugend hat niemand gern; die ist allen ein Dorn im Auge. Sagen Sie selbst, Graf, hat etwa dieser Besuchow sich gerecht und ehrenhaft benommen? Fjodor aber in seiner edlen Denkungsweise hat ihn gern gehabt und redet auch jetzt nie etwas Schlechtes von ihm. Diese dummen Streiche in Petersburg (sie haben da mit einem Reviervorsteher irgendeinen Scherz gemacht), die haben die beiden ja doch zusammen ausgeführt. Und doch ist diesem Besuchow nichts dafür passiert; Fjodor hat alles auf seine Schultern genommen. Was hat er nicht alles dafür ertragen müssen! Gewiß, er ist dann rehabilitiert worden; aber das war ja auch gar nicht anders möglich. Ich meine, so tapfere Helden und so treue Söhne des Vaterlandes wie ihn hat es da im Feld nicht viele gegeben. Und nun jetzt[64] dieses Duell! Haben denn diese Leute gar kein menschliches Empfinden, gar kein Ehrgefühl? Zu wissen, daß er mein einziger Sohn ist, und ihn doch zum Duell zu fordern und so geradezu auf ihn zu schießen! Nur gut, daß Gott sich unser erbarmt hat! Und was war der Grund? Nun, wer hat in unserer Zeit keine Liebesaffären? Und dann, wie kann dieser Besuchow nur plötzlich so eifersüchtig sein? Ich möchte meinen, er konnte meinem Sohn ja früher zu verstehen geben, daß ihm dieses Verhältnis nicht zusagte; aber nun hatte es doch schon wer weiß wie lange gedauert. Und dann: er hat ihn zum Duell herausgefordert, weil er dachte, Fjodor werde sich nicht mit ihm schlagen, weil er ihm Geld schuldig ist. Welch eine niedrige, gemeine Gesinnung! Ich weiß, Sie, mein lieber Graf, haben für Fjodors Wesen Verständnis gewonnen; darum habe ich Sie auch herzlich gern, das können Sie mir glauben. Es sind nur wenige, die für ihn Verständnis haben. Er hat eine so herrliche, himmlische Seele!«

Dolochow selbst redete während seiner Rekonvaleszenz häufig zu Rostow in einer Weise, die man von ihm schlechterdings nicht hätte erwarten können.

»Ich weiß, ich gelte für einen schlimmen Menschen«, sagte er oft; »nun, mag man mich dafür halten. Außer den Menschen, die ich liebe, mag ich von niemand etwas wissen; aber wen ich liebe, den liebe ich so, daß ich mein Leben für ihn hingebe; alle übrigen aber trete ich zu Boden, wenn sie mir im Wege stehen. Ich habe eine ganz prächtige, herrliche Mutter, die ich innig liebe, und zwei, drei Freunde, zu denen auch du gehörst; aber um die anderen Menschen kümmere ich mich nur insoweit, als sie mir nützlich oder schädlich sind. Und fast alle sind sie schädlich, namentlich die Weiber. Ja, mein Bester«, fuhr er fort, »Männer nach meinem Herzen habe ich schon gefunden: liebende, edeldenkende, hochsinnige Männer; aber unter dem Weibervolk bin ich bisher[65] immer nur käuflichen Geschöpfen begegnet; ob es Gräfinnen oder Köchinnen sind, das macht keinen Unterschied. Noch habe ich nie jene himmlische Reinheit und Hingebung angetroffen, die ich beim Weib suche. Wenn ich ein solches Weib fände, würde ich mein Leben für sie hingeben. Aber diese Sorte ...« Er machte eine verächtliche Gebärde. »Und glaube mir, wenn ich noch Wert darauf lege, weiterzuleben, so tue ich das nur, weil ich immer noch einem solchen himmlischen Wesen zu begegnen hoffe; diesem werde ich dann meine Wiedergeburt, meine Läuterung, meine Erhebung zu höherer Sphäre zu danken haben. Aber du verstehst mich wohl kaum.«

»O doch, ich verstehe dich sehr wohl«, antwortete Rostow, der von seinem neuen Freund ganz entzückt war.


Im Herbst kehrte die Familie Rostow nach Moskau zurück. Zu Anfang des Winters traf auch Denisow wieder in Moskau ein und logierte bei Rostows. Diese erste Zeit des Winters 1806, welche Nikolai Rostow in Moskau verlebte, war eine besonders glückliche und heitere für ihn und für seine ganze Familie. Nikolai brachte eine ganze Menge junger Männer mit in sein Elternhaus. Wjera war eine schöne junge Dame von zwanzig Jahren, Sonja ein sechzehnjähriges Mädchen mit dem ganzen Reiz einer sich eben erschließenden Blume, Natascha ein Mittelding zwischen junger Dame und Kind, bald kindlich komisch, bald mädchenhaft bezaubernd.

In dem Rostowschen Haus hatte sich damals gleichsam eine besondere Liebesatmosphäre gebildet, wie das häufig geschieht, wenn viele nette junge Mädchen in einem Haus sind. Kam ein junger Mann in das Rostowsche Haus und sah er diese jungen, angeregten Mädchengesichter, die immer über etwas (wahrscheinlich[66] über ihre eigene Glückseligkeit) lächelten, und erblickte er dieses muntere, lebhafte Treiben und hörte er dieses nicht gerade tiefsinnige, aber gegen jedermann freundliche, auf jedes Thema, auf jeden Scherz gern eingehende, von stillen Hoffnungen erfüllte Geplauder der weiblichen Jugend und hörte er, wie nach Lust und Laune bald gesungen, bald musiziert wurde: dann bemächtigte sich seiner unfehlbar dieselbe Empfindung, von der die Jugend des Rostowschen Hauses erfüllt war, eine willige Bereitschaft zur Liebe und die Erwartung eines hohen Glückes.

Unter den jungen Männern, die Rostow bei den Seinigen einführte, trat besonders Dolochow hervor, der allen im Haus gut gefiel, mit Ausnahme von Natascha. Über Dolochow hätte sie sich beinahe mit ihrem Bruder veruneinigt. Sie behauptete mit aller Bestimmtheit, er sei ein schlechter Mensch; bei dem Duell mit Besuchow habe dieser recht gehabt und Dolochow unrecht; er sei ein unangenehmer Mensch und gebe sich nicht so, wie er wirklich sei.

»Ich will von gar nichts weiter wissen!« rief sie mit eigensinniger Hartnäckigkeit. »Er ist ein böser, gefühlloser Mensch. Siehst du, da ist dein Denisow; den habe ich ganz gern; er ist ja wohl ein arger Zecher und mag auch sonst noch Fehler haben; aber ich habe ihn doch ganz gern; für den habe ich Verständnis. Ich weiß nicht, wie ich mich da deutlich ausdrücken soll; aber bei Dolochow ist alles überlegt, und das mag ich nicht. Dagegen Denisow ...«

»Na, Denisow, das ist doch eine ganz andere Sache«, erwiderte Nikolai und deutete durch seinen Ton an, daß im Vergleich mit Dolochow selbst Denisow eine Null sei. »Man muß wissen, was für eine herrliche Seele dieser Dolochow hat; man muß ihn im Verkehr mit seiner Mutter sehen. So ein edles Herz!«

»Ich weiß nicht, wie es zugeht; aber ich fühle mich in seiner[67] Gegenwart immer unbehaglich. Weißt du auch wohl, daß er in Sonja verliebt ist?«

»Unsinn!«

»Ich bin davon überzeugt. Du wirst es ja sehen.«

Nataschas Vorhersage bewahrheitete sich. Dolochow, der bisher Damengesellschaft nicht gemocht hatte, begann viel in dem Haus zu verkehren, und die Frage, wer denn auf ihn eine solche Anziehungskraft ausübe, konnte sich bald ein jeder (obgleich niemand darüber sprach) dahin beantworten, daß er um Sonjas willen kam. Und wiewohl Sonja nie gewagt hätte, dies auszusprechen, so wußte sie es doch recht wohl und wurde jedesmal, wenn Dolochow erschien, rot wie eine Mohnblume.

Dolochow speiste oft bei Rostows zu Mittag, versäumte nie eine Theatervorstellung, wenn sie dort waren, und besuchte sogar die Backfischbälle des Herrn Jogel, an denen Rostows immer teilnahmen. Er bezeigte Sonja ungewöhnliche Aufmerksamkeit und blickte sie mit solchen Augen an, daß nicht nur sie sich eines tiefen Errötens nicht erwehren konnte, sondern auch die alte Gräfin und Natascha verlegen wurden, wenn sie diesen Blick bemerkten.

Es unterlag keinem Zweifel, daß dieser kraftvolle, eigenartige Mann sich unter der unwiderstehlichen Einwirkung des Zaubers befand, den auf ihn dieses schwarzhaarige, anmutige Mädchen ausübte, das doch einen andern liebte.

Rostow bemerkte zwar, daß etwas Neues zwischen Dolochow und Sonja vorging; aber er machte es sich nicht klar, worin diese neue Beziehung bestand. »Die beiden Mädchen sind immer in irgend jemand verliebt«, dachte er mit Bezug auf Sonja und Natascha. Aber er fühlte sich im Verkehr mit Sonja und Dolochow nicht mehr so behaglich wie früher und begann, seltener zu Hause zu sein.

Seit dem Herbst 1806 wurde wieder allgemein vom Krieg mit[68] Napoleon gesprochen, und zwar mit noch größerem Eifer als im vorhergehenden Jahr. Es war verfügt worden, daß von je tausend Seelen nicht nur zehn Rekruten, sondern auch noch neun Landwehrleute gestellt werden sollten. Überall hörte man Bonaparte verwünschen, und in Moskau war von nichts anderem als von dem bevorstehenden Krieg die Rede. In der Familie Rostow drehte sich das gesamte Interesse für diese Kriegsvorbereitungen nur darum, daß Nikolai erklärt hatte, um keinen Preis in Moskau bleiben zu wollen, und nur das Ablaufen von Denisows Urlaub abwartete, um mit ihm nach den Feiertagen zum Regiment zu reisen. Indessen hinderte ihn die bevorstehende Abreise in keiner Weise daran, sich zu amüsieren, ja, sie bildete für ihn vielmehr einen Ansporn, die Zeit auszunutzen. So verbrachte er denn den größten Teil seiner Zeit außer dem Haus, auf Diners, Abendgesellschaften und Bällen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 63-69.
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