XXIII

[316] Bennigsen ritt von Gorki auf der großen Heerstraße nach der Brücke hinunter, die der Offizier von dem Hügel aus Pierre als das Zentrum der Position gezeigt hatte und bei der am Ufer Schwaden frischgemähten, duftenden Heus lagen. Dann ritten sie über die Brücke nach dem Dorf Borodino; von dort wendeten sie sich links und ritten an einer gewaltigen Menge von Truppen und Kanonen vorbei zu einem hohen Hügel hin, auf welchem Landwehrleute schanzten. Es war dies die damals noch namenlose Schanze, die später die Benennung Rajewski-Schanze oder Hügelbatterie erhielt.

Pierre wandte dieser Schanze keine besondere Aufmerksamkeit zu. Er ahnte nicht, daß diese Stelle für ihn die denkwürdigste des ganzen Schlachtfeldes von Borodino werden sollte. Dann ritten sie durch eine Schlucht nach Semjonowskoje, wo die Soldaten die letzten Balken der Häuser und Scheunen wegschleppten. Hierauf ging es weiter bergab und bergauf und durch ein zertretenes, wie vom Hagel niedergeschlagenes Roggenfeld auf einem Weg,[316] den die Artillerie neu über den Acker gebahnt hatte, nach den Pfeilschanzen, an denen damals ebenfalls noch gearbeitet wurde.

Auf den Pfeilschanzen hielt Bennigsen an und blickte nach vorn nach der (gestern noch uns gehörigen) Schanze von Schewardino, auf der einige Reiter sichtbar waren. Die Offiziere sprachen die Vermutung aus, daß dort Napoleon oder Murat sei. Alle blickten gespannt nach diesem Reitertrupp hinüber. Pierre blickte ebenfalls hin und suchte zu erraten, wer von diesen kaum sichtbaren Menschen wohl Napoleon sein möchte. Endlich ritt der Trupp von dem Hügel herab und verschwand.

Bennigsen wandte sich an einen General, der sich ihm näherte, und begann ihm die ganze Stellung unserer Truppen zu erklären. Pierre hörte Bennigsens Worte und strengte alle seine Geisteskräfte an, um die eigentliche Idee der bevorstehenden Schlacht zu begreifen, merkte jedoch zu seinem Leidwesen, daß seine geistigen Fähigkeiten dazu nicht ausreichten. Er verstand nichts. Bennigsen beendete seine Auseinandersetzung, und als er bemerkte, daß Pierre zuhörte, wendete er sich an ihn mit der Frage: »Das interessiert Sie wohl nicht sonderlich?«

»O doch, im Gegenteil, es ist mir höchst interessant!« erwiderte Pierre nicht ganz wahrheitsgemäß.

Von den Pfeilschanzen ritten sie noch weiter nach links auf einem Weg, der sich durch dichten, niedrigen Birkenwald schlängelte. Mitten in diesem Wald sprang vor ihnen ein brauner Hase mit weißen Läufen auf den Weg und geriet, erschrocken über das Getrappel so vieler Pferde, dermaßen in Verwirrung, daß er lange auf dem Weg vor ihnen herlief, wodurch er allgemeine Aufmerksamkeit und großes Gelächter erregte; erst als einige der Reiter ihn heftig anschrien, warf er sich zur Seite und verschwand im Dickicht. Nachdem sie im Wald etwa zwei Werst zurückgelegt hatten, kamen sie auf eine Lichtung hinaus, auf der die Truppen[317] des Tutschkowschen Korps standen, das die linke Flanke decken sollte.

Hier am äußersten linken Flügel sprach Bennigsen lange und in erregtem Ton und traf eine, wie es Pierre schien, in taktischer Hinsicht wichtige Anordnung. Vor dem Standort der Truppen Tutschkows befand sich eine Anhöhe. Diese Anhöhe war nicht von Truppen besetzt. Bennigsen tadelte laut diesen Fehler und sagte, es sei sinnlos, eine Höhe, die die ganze Umgegend beherrsche, unbesetzt zu lassen und die Truppen dahinter an ihrem Fuß aufzustellen. Mehrere Generale äußerten sich in demselben Sinn; namentlich einer redete mit soldatischer Heftigkeit davon, die Truppen hätten dort ihren Platz geradezu auf einer Schlachtbank erhalten. Bennigsen befahl, auf seine Verantwortung, die Truppen auf die Höhe vorzuschieben.

Diese Anordnung auf der linken Flanke ließ Pierre noch mehr an seiner Befähigung zweifeln, militärische Dinge zu verstehen. Als er mit angehört hatte, was Bennigsen und die Generale sagten, die die Aufstellung der Truppen am Fuß der Anhöhe tadelten, hatte er sie vollständig verstanden und sich ihrer Meinung angeschlossen; aber eben deshalb konnte er nicht begreifen, wie derjenige, der sie dort am Fuß der Anhöhe aufgestellt hatte, einen so augenfälligen, groben Fehler habe begehen können.

Pierre wußte nicht, daß diese Truppen dort nicht aufgestellt waren, um die Position zu verteidigen, wie Bennigsen meinte, sondern um an dieser versteckten Stelle im Hinterhalt zu stehen, d.h. um unbemerkt zu bleiben und plötzlich auf den heranrückenden Feind loszustürzen. Bennigsen wußte das nicht und schob die Truppen, seinen besonderen Ideen entsprechend, vor, ohne dem Oberkommandierenden etwas davon zu sagen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 316-318.
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