[323] Die Offiziere wollten sich empfehlen; aber Fürst Andrei, der anscheinend mit seinem Freund nicht gern unter vier Augen zusammensein mochte, lud sie ein, noch ein Weilchen dazubleiben und mit ihm Tee zu trinken. Nicht ohne Verwunderung betrachteten die Offiziere Pierres kolossale, dicke Gestalt und hörten seine Erzählungen über Moskau und über die Aufstellung unseres Heeres, die er hatte abreiten dürfen. Fürst Andrei schwieg, und sein Gesicht war so unfreundlich, daß Pierre sich mehr an den gutmütigen Bataillonskommandeur Timochin als an Bolkonski wendete.
»Du hast also die Aufstellung unserer Truppen verstanden?« unterbrach ihn Fürst Andrei.
»Ja, aber doch nur bis zu einem gewissen Grade«, erwiderte Pierre. »Als Nichtmilitär kann ich nicht sagen, daß ich sie vollständig verstanden hätte; aber ich meine doch, so im großen und ganzen.«
»Nun, dann bist du klüger als sonst jemand«, sagte Fürst Andrei.[323]
»Oh, oh!« rief Pierre erstaunt und blickte den Fürsten Andrei durch seine Brille an. »Nun, und was sagen Sie zu der Ernennung Kutusows?« fragte er.
»Ich habe mich über diese Ernennung sehr gefreut. Weiter wüßte ich darüber nichts zu sagen«, antwortete Fürst Andrei.
»Und dann sagen Sie doch: welche Meinung haben Sie über Barclay de Tolly? In Moskau wurde alles mögliche über ihn geredet. Wie urteilen Sie über ihn?«
»Frage nur diese Herren hier«, erwiderte Fürst Andrei und wies auf die Offiziere.
Pierre blickte Timochin fragend mit jenem herablassenden Lächeln an, das einem jeden im Verkehr mit diesem unwillkürlich auf die Lippen trat.
»Wir haben aufgeatmet, Euer Erlaucht, als der Durchlauchtige das Kommando übernahm«, sagte Timochin schüchtern, indem er dabei fortwährend nach seinem Regimentskommandeur hinblickte.
»Wieso denn?« fragte Pierre.
»Ja, zu Beispiel nur in bezug auf Holz und Futter möchte ich mir zu bemerken erlauben. Als wir uns von Swenziany zurückzogen, da kam der Befehl: ›Daß ihr euch nicht untersteht, ein Stück Holz oder ein Bündel Heu oder sonst was dort anzurühren!‹ Aber da wir zurückgingen, fiel es doch bloß dem Feind in die Hände, nicht wahr, Euer Durchlaucht?« wandte er sich an seinen Chef, den Fürsten Andrei. »Aber trotzdem: ›Daß ihr euch nicht untersteht!‹ In unserem Regiment wurden zwei Offiziere wegen derartiger Dinge vor das Kriegsgericht gestellt. Na, aber als der Durchlauchtige das Kommando übernahm, da wurde die Sache gleich ganz anders. Wir atmeten auf ...«
»Warum hatte Barclay de Tolly es denn verboten?«
Timochin blickte verlegen um sich, da er nicht wußte, wie und[324] was er auf eine solche Frage antworten sollte. Pierre wandte sich mit derselben Frage an den Fürsten Andrei.
»Nun, um den Landstrich, den wir dem Feind preisgaben, nicht zu verwüsten«, antwortete Fürst Andrei mit bitterem Spott. »Das ist ja logisch sehr schön begründet: man darf den Truppen nicht erlauben, im Land zu plündern und sich an das Marodieren zu gewöhnen. Ja, und in Smolensk hat er durchaus korrekt erwogen, daß die Franzosen uns umgehen könnten und größere Streitkräfte besäßen. Aber das konnte er nicht begreifen«, rief Fürst Andrei in plötzlich hervorbrechendem Ingrimm mit hoher Stimme, »das konnte er nicht begreifen, daß wir dort zum erstenmal für die russische Erde kämpften, daß in den Truppen ein solcher Geist steckte, wie ich ihn noch nie kennengelernt hatte, daß wir zwei Tage hintereinander die Franzosen zurückgeschlagen hatten, und daß dieser Erfolg unsere Kräfte verzehnfachte. Er befahl den Rückzug, und alle Anstrengungen und Verluste waren vergeblich gewesen. Verrat lag ihm ganz fern. Er bemühte sich, alles so gut wie nur irgend möglich zu machen; er überdachte alles: aber eben deshalb taugt er nichts. Gerade deshalb taugt er in diesem Zeitpunkt nichts, weil er alles so gründlich und genau überlegt, wie es eben in der Natur eines jeden Deutschen liegt. Wie kann ich es dir nur deutlich machen, was ich meine ... Nun, denke dir, dein Vater hat einen deutschen Diener, und das ist ein vortrefflicher Diener, der alles, was dein Vater braucht, ihm besser leistet, als du es könntest, und den du beruhigt seinen Dienst verrichten läßt; aber wenn dein Vater todkrank ist, dann schickst du trotzdem den Diener weg und wirst mit deinen ungeübten, ungeschickten Händen deinen Vater besser pflegen und sein Wohlbefinden besser befördern als der geschickte Diener, der ihm ein Fremder ist. So stand es auch mit Barclay. Solange Rußland heil und gesund war, konnte ihm der Fremde dienen[325] und war ein vortrefflicher Minister; aber jetzt, wo es in Gefahr ist, bedarf es der Dienste eines Angehörigen, eines Blutsverwandten. In eurem Klub ist man auf den Gedanken gekommen, Barclay wäre ein Verräter! Dadurch, daß man ihn jetzt ungerechterweise als einen Verräter bezeichnet, bewirkt man nur, daß er später, wenn man sich dieses unzutreffenden Vorwurfes schämen wird, aus einem Verräter plötzlich zu einem Helden oder zu einem Genie werden wird; und dies wird noch weniger gerecht sein. Er ist ein ehrlicher Deutscher von peinlicher Genauigkeit.«
»Man sagt aber doch, er sei ein geschickter Feldherr«, wandte Pierre ein.
»Ich verstehe nicht, was das heißt: ein geschickter Feldherr«, antwortete Fürst Andrei spöttisch.
»Ein geschickter Feldherr«, sagte Pierre, »nun, das ist ein solcher, der alle Möglichkeiten vorhersieht ... einer, der die Pläne des Gegners errät.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte Fürst Andrei, wie wenn dies eine längst entschiedene Sache wäre.
Pierre sah ihn erstaunt an.
»Aber«, wandte er ein, »man sagt doch, der Krieg habe Ähnlichkeit mit dem Schachspiel.«
»Ja«, sagte Fürst Andrei, »nur mit dem kleinen Unterschied, daß man beim Schachspiel über jeden Zug so lange nachdenken kann, als es einem beliebt, daß man dort zeitlich nicht beschränkt ist, und dann noch mit dem Unterschied, daß der Springer immer stärker ist als der Bauer und zwei Bauern immer stärker als einer, im Krieg aber ein Bataillon manchmal stärker ist als eine Division und manchmal schwächer als eine Kompanie. Das Stärkeverhältnis von Truppenkörpern kann niemand vorher beurteilen. Glaube mir«, sagte er, »wenn etwas von den Anordnungen[326] des Generalstabes abhinge, dann würde ich dort sein und Anordnungen treffen; aber statt dessen habe ich die Ehre, hier zu dienen, bei der Truppe, hier mit diesen Herren zusammen, und ich bin der Ansicht, daß der Ausgang des morgigen Tages tatsächlich von uns abhängen wird und nicht von den Generalstäblern ... Von der Position und von der Bewaffnung hat der Erfolg niemals abgehangen und wird er niemals abhängen, nicht einmal von der Zahl, am allerwenigsten aber von der Position.«
»Aber wovon denn?«
»Von dem Gefühl, das in mir, in ihm« (er zeigte auf Timochin), »in jedem Soldaten steckt.«
Fürst Andrei sah Timochin an, der einen erschrockenen, verständnislosen Blick nach seinem Kommandeur hinwarf. Im Gegensatz zu seiner bisherigen zurückhaltenden Schweigsamkeit schien Fürst Andrei jetzt sich in starker Erregung zu befinden. Er vermochte sich offenbar nicht so weit zu beherrschen, daß er die Gedanken hätte unausgesprochen lassen können, die ihm unwillkürlich zuströmten.
»Eine Schlacht gewinnt derjenige, der fest entschlossen ist, sie zu gewinnen. Warum haben wir die Schlacht bei Austerlitz verloren? Unsere Verluste und die der Franzosen waren einander fast gleich; aber wir sagten uns sehr früh, daß wir die Schlacht verloren hätten, und verloren sie nun wirklich. Wir sagten uns dies aber deshalb, weil es für uns keinen rechten Zweck hatte, dort zu kämpfen; wir wollten weiter nichts als möglichst schnell vom Schlachtfeld weg kommen. ›Wir haben verloren‹, sagten wir uns; ›nun, dann wollen wir davonlaufen!‹ und wir liefen davon. Hätten wir uns das bis zum Abend nicht gesagt, so wäre die Sache vielleicht ganz anders gekommen. Aber morgen werden wir uns das nicht sagen. Du sprichst von unserer Position, meinst, der linke Flügel sei schwach, der rechte zu weit ausgedehnt«, fuhr[327] er fort; »das alles ist Unsinn und hat keinen Wert. Sondern was steht uns morgen bevor? Hundert Millionen der verschiedenartigsten Zufälligkeiten, deren augenblickliches Resultat sein wird, daß von den Feinden oder den Unsrigen welche davonlaufen und daß dieser oder jener getötet wird; aber was jetzt getan wird, das ist alles nur Spielerei. Die Sache ist die, daß die Herren, mit denen du die Position abgeritten hast, den gesamten Gang der Dinge nicht nur nicht fördern, sondern sogar hemmen. Sie sind nur mit ihren eigenen, kleinen, persönlichen Interessen beschäftigt.«
»In einem solchen Augenblick?« sagte Pierre vorwurfsvoll.
»In einem solchen Augenblick«, wiederholte Fürst Andrei Pierres Worte mit starker Betonung. »Für sie ist das nur ein Augenblick, in dem man seinem Rivalen eine Grube graben und noch ein neues Kreuzchen oder Bändchen erhalten kann. Meine Ansicht über den morgigen Tag ist diese: hunderttausend Russen und hunderttausend Franzosen sind zusammengekommen, um miteinander zu kämpfen; und dieser Kampf wird mit Sicherheit stattfinden, und wer am grimmigsten kämpfen und sich am wenigsten schonen wird, der wird siegen. Und wenn du es hören willst, so will ich dir sagen: mag geschehen, was da will, und mögen die Herren da oben noch so viel Verwirrung anrichten, wir werden morgen die Schlacht gewinnen. Morgen, mag geschehen, was da will, werden wir die Schlacht gewinnen!«
»Das ist die Wahrheit, Euer Durchlaucht; das ist zuverlässig die Wahrheit!« sagte Timochin. »Wer wird sich jetzt schonen? Die Soldaten in meinem Bataillon (können Sie das glauben?) haben heute keinen Branntwein getrunken. ›Das paßt für einen solchen Tag nicht‹, sagen sie.«
Alle schwiegen. Die Offiziere standen auf. Fürst Andrei ging[328] mit ihnen vor den Schuppen hinaus und gab dem Adjutanten die letzten Befehle. Als die Offiziere sich entfernt hatten, trat Pierre wieder zum Fürsten Andrei hin und wollte eben ein Gespräch beginnen, als in geringer Entfernung von dem Schuppen auf dem Weg der Hufschlag von drei Pferden erscholl. Fürst Andrei blickte nach der Richtung hin und erkannte Wolzogen und Clausewitz, von einem Kosaken begleitet. Da sie ziemlich nahe vorbeiritten und ihr Gespräch fortsetzten, so hörten Pierre und Fürst Andrei unwillkürlich folgende Sätze:
»Man muß dem Krieg eine weitere räumliche Ausdehnung geben. Diese Ansicht kann ich nicht genug betonen«, sagte der eine.
»Gewiß«, antwortete eine andere Stimme. »Da der Zweck nur der ist, den Feind zu schwächen, so kann auf die Verluste, welche Privatpersonen dabei erleiden, keine Rücksicht genommen werden.«
»Ganz richtig«, erwiderte die erste Stimme.
»Jawohl, dem Krieg eine weitere räumliche Ausdehnung geben!« sprach Fürst Andrei, zornig durch die Nase schnaubend, jene Worte nach, als sie vorübergeritten waren. »Mein Vater und mein Sohn und meine Schwester haben in Lysyje-Gory den Schaden davon gehabt. Aber das ist ihm völlig gleichgültig. Siehst du, das ist das, was ich dir sagte: diese deutschen Herren werden morgen die Schlacht nicht gewinnen, sondern nur nach Kräften Schaden anrichten, weil ihr Kopf nur mit Erwägungen angefüllt ist, die keine leere Eierschale wert sind, in ihrem Herzen aber das fehlt, was einzig und allein für morgen notwendig ist: das Gefühl, das in Timochin lebt. Ganz Europa haben sie diesem Napoleon überlassen, und dann sind sie hergekommen, um uns zu unterweisen ... prächtige Lehrmeister!« Seine Stimme hatte wieder einen kreischenden Ton angenommen.[329]
»Sie glauben also, daß wir die morgige Schlacht gewinnen werden?« fragte Pierre.
»Ja, ja«, antwortete Fürst Andrei zerstreut. »Aber eins würde ich anordnen«, begann er wieder, »wenn ich die Macht dazu hätte: keine Gefangenen zu machen. Was hat es denn für einen Sinn, Gefangene zu machen? Das ist eine Handlung der Ritterlichkeit. Die Franzosen haben mein Haus zerstört und wollen nach Moskau marschieren, um diese Stadt zu zerstören. Sie haben mir schweres Leid zugefügt und tun es noch jeden Augenblick. Sie sind meine Feinde; sie sind allesamt nach meiner Auffassung Verbrecher. Und ebenso denkt Timochin und die ganze Armee. Sie müssen bestraft werden. Wenn sie meine Feinde sind, so können sie nicht meine Freunde sein, trotz allem, was sie da in Tilsit gesagt haben.«
»Ja, ja«, erwiderte Pierre und blickte den Fürsten Andrei mit glänzenden Augen an, »ich bin vollständig Ihrer Ansicht.«
Jene Frage, die ihn seit dem Berg von Moschaisk im Laufe dieses ganzen Tages beunruhigt hatte, schien ihm jetzt ihre völlig klare Beantwortung gefunden zu haben. Er verstand jetzt den ganzen Sinn und die ganze Bedeutung dieses Krieges und der bevorstehenden Schlacht. Alles, was er an diesem Tag gesehen hatte, alle die ernsten, finsteren Mienen, die an seinem Auge vorbeigezogen waren, erhielten für ihn jetzt eine neue Beleuchtung. Er verstand jene (wie man sich in der Physik ausdrückt) latente Wärme des patriotischen Empfindens, welche in allen diesen Menschen steckte, die er gesehen hatte, und durch welche es ihm klar wurde, warum alle diese Menschen ruhig und gewissermaßen leichtsinnig sich auf den Tod vorbereiteten.
»Keine Gefangenen machen«, fuhr Fürst Andrei fort. »Das ist das einzige Mittel, um den ganzen Krieg umzugestalten und ihm einen minder grausamen Charakter zu geben. So aber haben wir[330] immer den Krieg wie ein Spiel behandelt, und das ist falsch und töricht; wir spielen die Edelmütigen usw. Dieser Edelmut und diese Empfindsamkeit erinnern an eine Dame, der übel wird, wenn sie ein Kalb schlachten sieht: sie hat ein so gutes Herz, daß sie kein Blut sehen kann; aber sie ißt dieses selbe Kalb mit Appetit, wenn es mit Sauce zugerichtet ist. Man schwatzt uns soviel vor von dem Recht, das im Krieg gelte, von Ritterlichkeit, vom Verhandeln durch Parlamentäre, von Schonung der Unglücklichen usw. Alles Unsinn! Ich habe im Jahre 1805 diese Ritterlichkeit und dieses Parlamentärwesen mit angesehen: man hat uns hinters Licht geführt, und wir haben den Gegnern das gleiche getan. Man plündert fremde Häuser, setzt falsches Papiergeld in Umlauf und, was das Schlimmste ist, tötet meine Kinder und meinen Vater, und dabei redet man noch von dem im Krieg gültigen Recht und von Edelmut gegen die Feinde. Das Richtige ist: keine Gefangenen machen, sondern die Feinde töten und selbst in den Tod gehen! Wer durch so viele Leiden, wie ich, auf diesen Standpunkt gelangt ist ...«
Obgleich Fürst Andrei von sich selbst glaubte, daß es ihm ganz gleich sei, ob die Feinde nun auch noch Moskau nähmen wie vorher Smolensk, mußte er doch auf einmal infolge eines plötzlichen Krampfes, der seine Kehle befiel, in seiner Rede innehalten. Er ging ein paarmal schweigend auf und ab; aber seine Augen glänzten fieberhaft und seine Lippen zitterten, als er wieder weitersprach:
»Wenn diese Sucht, im Krieg den Edelmütigen zu spielen, in Verruf käme, so würden wir nur in solchen Fällen in den Krieg ziehen, wo sein Zweck es wert ist, daß man um seinetwillen in den sicheren Tod geht. Dann würde kein Krieg deswegen geführt werden, weil Pawel Iwanowitsch den Michail Iwanowitsch beleidigt hat. Sondern wenn Krieg geführt würde, wie jetzt, so[331] würde es ein wirklicher Krieg sein. Auch die seelische Beteiligung der Truppen würde dann eine andere sein als jetzt. Dann wären alle diese Westfalen und Hessen, die Napoleon mit sich führt, ihm nicht nach Rußland gefolgt, und wir wären nicht nach Österreich und Preußen gezogen, um dort zu kämpfen, ohne selbst zu wissen warum. Der Krieg ist keine Liebenswürdigkeit, sondern die garstigste Handlung im menschlichen Leben; das muß man sich klarmachen und ihn nicht als Spiel betreiben. Ernsten, strengen Sinnes muß man diese furchtbare Notwendigkeit hinnehmen. Alles kommt darauf an, die Unwahrhaftigkeit fernzuhalten und den Krieg als Krieg zu behandeln und nicht als Spielerei. Jetzt aber ist der Krieg das Lieblingsamüsement müßiger, leichtsinniger Menschen. Der Militärstand ist der geachtetste.
Und was ist das Wesen des Krieges? Was ist beim Kriegshandwerk zum Erfolg nötig? Wie beschaffen sind die Sitten des Militärs? Der Zweck des Krieges ist der Mord; die Mittel des Krieges sind Spionage, Verrat, Anstiftung zum Verrat, der Ruin der Einwohner, die ausgeplündert oder bestohlen werden, um die Armee zu versorgen, Betrug und Lüge, die als Kriegslist bezeichnet werden; die Sitten des Militärstandes sind: jener Mangel an persönlicher Freiheit, welcher Disziplin heißt, Müßiggang, Roheit, Grausamkeit, Unzucht, Trunksucht. Und trotzdem ist dies der höchste, allgemein geachtete Stand. Alle Herrscher, mit Ausnahme des Kaisers von China, tragen militärische Uniform, und demjenigen Soldaten, der die meisten Menschen getötet hat, werden die größten Belohnungen erteilt.
Da kommen sie nun zusammen, wie wir es morgen tun werden, um sich gegenseitig zu morden, und töten viele tausend Menschen oder machen sie zu Krüppeln, und dann halten sie Dankgottesdienste dafür ab, daß sie so viele Menschen gemordet haben (sie[332] pflegen die Zahl sogar noch zu übertreiben), und verkünden ihren Sieg, in der Überzeugung, daß ihr Verdienst um so größer sei, je mehr Menschen sie gemordet haben. Wie kann nur Gott vom Himmel her das mit ansehen und mit anhören?« rief Fürst Andrei mit hoher, kreischender Stimme. »Ach, liebster Freund, in der letzten Zeit ist mir das Leben recht schwer geworden. Ich merke, daß ich zu weit in der Erkenntnis vorgedrungen bin. Aber es ist dem Menschen nicht zuträglich, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen ... Nun, es wird ja nicht mehr lange dauern!« fügte er hinzu.
»Aber du wirst müde sein, und auch für mich ist es Zeit, daß ich mich hinlege. Reite nach Gorki«, sagte Fürst Andrei plötzlich.
»O nein, nicht doch!« antwortete Pierre und blickte ihn mit erschrockenen, mitleidigen Augen an.
»Reite nur, reite!« wiederholte Fürst Andrei. »Vor einer Schlacht muß man ausschlafen.«
Er trat schnell an Pierre heran und umarmte und küßte ihn.
»Lebe wohl, geh!« rief er. »Ob wir uns wiedersehen werden? Wohl kaum.« Er wandte sich hastig um und ging in den Schuppen hinein.
Es war schon dunkel, und Pierre vermochte nicht zu unterscheiden, ob der Gesichtsausdruck des Fürsten Andrei grimmig oder zärtlich war.
Er stand noch ein Weilchen schweigend da und überlegte, ob er ihm nachgehen oder nach Hause reiten sollte. »Nein, er bedarf meiner nicht!« sagte er sich schließlich. »Aber ich weiß, daß dies unser letztes Zusammensein war.« Er seufzte schwer und ritt nach Gorki zurück.
Als Fürst Andrei in den Schuppen zurückgekehrt war, legte er sich auf seine Decke; aber er konnte nicht einschlafen.[333]
Er schloß die Augen. Mancherlei Bilder, die einander ablösten, traten ihm vor die Seele. Bei einem von ihnen verweilte er lange und gern. Er erinnerte sich mit großer Deutlichkeit an einen Abend in Petersburg. Natascha erzählte ihm mit lebhaft erregtem Gesicht, wie sie sich im vorhergehenden Sommer beim Pilzesuchen in einem großen Wald verirrt hatte. Sie schilderte ihm bunt durcheinander die Einsamkeit des Waldes und ihre Empfindungen und ihr Gespräch mit dem Bienenvater, den sie getroffen hatte; dabei unterbrach sie sich alle Augenblicke in ihrer Erzählung, indem sie sagte: »Nein, ich kann nicht erzählen; ich erzähle gar zu ungeschickt; nein, Sie verstehen mich nicht«, obwohl Fürst Andrei sie wiederholt durch die Versicherung, daß er sie verstehe, zu beruhigen suchte und auch wirklich alles verstand, was sie sagen wollte. Natascha war unzufrieden mit ihrer eigenen Darstellung: sie meinte, daß jenes leidenschaftliche, romantische Gefühl, das an jenem Tag ihr Herz erfüllt hatte und das sie jetzt zu schildern versuchte, nicht klar zum Ausdruck käme. »Dieser alte Mann war so allerliebst, und es war so dunkel im Wald ... und er hatte so gute Augen ... Nein, ich verstehe nicht zu erzählen!« sagte sie errötend und erregt. Auf des Fürsten Andrei Lippen trat jetzt jenes selbe fröhliche Lächeln wie damals, als er ihr in die Augen blickte. »Ich verstand sie«, dachte er. »Und ich verstand sie nicht nur, sondern ich liebte auch die Kraft, die Lauterkeit, die Offenheit ihrer Seele, liebte diese Seele, die gleichsam von dem Körper zusammengehalten wurde, liebte sie so stark, so glückselig.« Und plötzlich erinnerte er sich daran, wie seine Liebe ein Ende genommen hatte. »Diesem Menschen lag an alledem nichts. Er sah und verstand nichts davon. Er sah in ihr nur ein hübsches, frisches Mädchen, das aber doch nicht wert sei, daß er sein Schicksal mit dem ihrigen verbinde. Und ich ...? Und er ist immer noch am Leben und vergnügt.«[334]
Fürst Andrei sprang auf, wie wenn ihn jemand mit einem glühenden Eisen angerührt hätte, und begann wieder vor dem Schuppen auf und ab zu gehen.
Buchempfehlung
Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.
200 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro