II

[6] Anna Pawlownas Ahnung ging wirklich in Erfüllung. Am folgenden Tag, während des Gottesdienstes, der anläßlich des Geburtstages des Kaisers im Palais stattfand, wurde Fürst Wolkonski aus der Kirche herausgerufen und ihm ein Brief des Fürsten Kutusow übergeben. Es war der Bericht, den Kutusow am Tag der Schlacht in Tatarinowa geschrieben hatte. Kutusow meldete, die Russen seien keinen Schritt zurückgewichen; die Franzosen hätten weit größere Verluste gehabt als wir; er berichte dies in Eile vom Schlachtfeld, noch ehe er die letzten Nachrichten habe sammeln können. Somit war es ein Sieg. Und sogleich, noch vor dem Verlassen des heiligen Raumes, wurde dem Schöpfer für seine Hilfe und für den Sieg Dank gesagt.

Anna Pawlownas Ahnung war in Erfüllung gegangen, und in der Stadt herrschte den ganzen Vormittag über eine frohe Feststimmung. Alle betrachteten den Sieg als feststehende Tatsache, und manche redeten sogar schon von der Gefangennahme des Kaisers Napoleon selbst, von seiner Absetzung und der Wahl eines neuen Oberhauptes für Frankreich.

Fern vom Kriegsschauplatz und in dem ganzen Milieu des Hoflebens können die Ereignisse nicht leicht mit ihrer gesamten Wucht und Kraft wirken. Unwillkürlich gruppieren die Ereignisse von allgemeiner Bedeutung sich um irgendeine zufällige Einzelheit. So bildete jetzt die Hauptfreude der Hofgesellschaft in gleichem Maße unser Sieg und der Umstand, daß die Nachricht von diesem Sieg gerade am Geburtstag des Kaisers eingetroffen war. Das war gewissermaßen eine wohlgelungene Geburtstagsüberraschung. In Kutusows Bericht war auch von den russischen Verlusten die Rede, und es waren darunter Tutschkow, Bagration und Kutaisow genannt. Und auch die[7] traurige Seite des großen Ereignisses gruppierte sich in den Kreisen der Petersburger Gesellschaft unwillkürlich um ein einzelnes Ereignis: den Tod Kutaisows. Alle hatten ihn gekannt, der Kaiser hatte ihn gern gemocht, er war ein junger, interessanter Mann gewesen. Wenn sich zwei an diesem Tag trafen, so lautete die ersten Worte stets:

»Welch ein wunderbares Zusammentreffen! Gerade während des Gottesdienstes! Und welch ein Verlust, der Tod Kutaisows! Ach, wie schade!«

»Was habe ich Ihnen über Kutusow gesagt?« sagte Fürst Wasili jetzt mit dem Stolz eines Propheten. »Ich habe immer gesagt: er ist der einzige, der Napoleon zu besiegen vermag.«

Aber am folgenden Tag gingen keine Nachrichten von der Armee ein, und die allgemeine Stimmung wurde unruhig. Die Hofleute litten daran, daß der Kaiser unter der Ungewißheit litt, in der er sich befand.

»Der Kaiser befindet sich in rechter Sorge!« sagten die Hofleute und priesen Kutusow nicht mehr, wie sie das kurz vorher getan hatten, sondern schalten auf ihn, weil er an der Unruhe des Kaisers schuld war. Fürst Wasili lobte an diesem Tag seinen Schützling Kutusow nicht mehr, sondern beobachtete mit Stillschweigen, wenn man in seiner Gegenwart von dem Oberkommandierenden sprach. Außerdem kam am Abend dieses Tages noch eine furchtbare Neuigkeit hinzu, wie wenn sich alles vereinigte, um die Einwohner von Petersburg in Aufregung und Unruhe zu versetzen: die Gräfin Besuchowa war plötzlich an jener schrecklichen Krankheit gestorben, deren Namen man mit solchem Behagen ausgesprochen hatte. Offiziell hieß es in den höheren Gesellschaftskreisen allgemein, die Gräfin Besuchowa sei an einem furchtbaren Bräuneanfall gestorben; aber in intimeren Kreisen erzählte man sich Einzelheiten von folgender Art:[8] der Leibarzt der Königin von Spanien habe der Gräfin kleine Dosen eines Medikaments zur Herbeiführung einer bestimmten Wirkung verschrieben; Helene aber habe aus Kummer darüber, daß der alte Graf einen Verdacht gegen sie hegte, und darüber, daß ihr Mann, dieser unglückliche, ausschweifende Pierre, ihr nicht geantwortet hatte, eine gewaltige Dosis des ihr verschriebenen Medikaments auf einmal genommen und sei, ehe man ihr habe Hilfe bringen können, unter Qualen gestorben. Weiter wurde erzählt, Fürst Wasili und der alte Graf hätten den Italiener zur Verantwortung ziehen wollen; aber dieser habe solche Zuschriften vorgelegt, die die unglückliche Verstorbene an ihn gerichtet hatte, daß die beiden sofort von ihm abgelassen hätten.

Das allgemeine Gespräch drehte sich ausschließlich um drei traurige Ereignisse: die peinliche Ungewißheit des Kaisers, den Tod Kutaisows und den Tod Helenes.

Drei Tage nach Kutusows Bericht kam nach Petersburg ein Gutsbesitzer aus Moskau, und nun verbreitete sich durch die ganze Stadt die Nachricht von der Übergabe Moskaus an die Franzosen. Das war furchtbar! In welcher peinlichen Lage befand sich der Kaiser! Kutusow war ein Verräter, und Fürst Wasili äußerte bei den Kondolenzbesuchen, die ihm anläßlich des Todes seiner Tochter gemacht wurden, über den früher von ihm gepriesenen Kutusow (es war bei der Trauer sehr verzeihlich, daß er vergaß, was er früher gesagt hatte): etwas anderes habe man von diesem blinden, ausschweifenden Greis auch nicht erwarten können.

»Ich wundere mich nur, wie man einem solchen Mann das Schicksal Rußlands hat anvertrauen mögen«, sagte er.

Solange diese Nachricht noch nicht offiziell war, konnte man noch an ihr zweifeln; aber am nächsten Tag ging vom Grafen Rastoptschin folgende Meldung ein:[9]

»Ein Adjutant des Fürsten Kutusow hat mir einen Brief überbracht, in welchem er von mir Polizeioffiziere verlangt, um die Armee auf die Straße nach Rjasan zu führen. Er sagt, er müsse zu seinem Schmerz Moskau dem Feind überlassen. Majestät! Dieser Schritt Kutusows entscheidet das Schicksal der Hauptstadt und Ihres Reiches. Rußland wird erschaudern, wenn es die Preisgabe der Stadt erfahrt, in der sich die majestätische Größe Rußlands verkörpert und die die Asche Ihrer Ahnherren birgt. Ich folge der Armee. Ich habe alles fortschaffen lassen; mir bleibt nichts übrig, als über das Schicksal meines Vaterlandes zu weinen.«

Als der Kaiser diesen Bericht empfangen hatte, schickte er den Fürsten Wolkonski mit folgendem Schreiben an Kutusow:

»Fürst Michail Ilarionowitsch! Seit dem 29. August habe ich von Ihnen keine Nachrichten. Inzwischen habe ich vom 1. September über Jaroslawl von dem Oberkommandierenden von Moskau die traurige Mitteilung erhalten, daß Sie den Entschluß gefaßt haben, mit der Armee Moskau zu verlassen. Sie werden sich selbst vorstellen können, welchen Eindruck diese Nachricht auf mich gemacht hat, und mein Erstaunen wird durch Ihr Schweigen noch gesteigert. Ich sende den Generaladjutanten Fürsten Wolkonski mit diesem Schreiben zu Ihnen, um von Ihnen Näheres über den Zustand der Armee und über die Ursachen, die Sie zu einem so betrübenden Entschluß gebracht haben, zu erfahren.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 6-10.
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