VI

[249] Kutusow zog sich in der Richtung auf Wien zurück und brach dabei die Brücken über den Inn bei Braunau und über die Traun bei Linz hinter sich ab. Am 23. Oktober überschritten die russischen Truppen die Enns. Der russische Train, die Artillerie und die Truppenkolonnen zogen am Mittag durch die Stadt Enns, die auf beiden Seiten des überbrückten Flusses liegt.

Es war ein warmer, regnerischer Herbsttag. Die weite Aussicht, die sich von der Anhöhe erschloß, wo die zum Schutz der Brücke dienenden russischen Batterien standen, wurde bald unvermutet von dem dünnen Schleier eines schräg fallenden Regens verhüllt, bald eröffnete sie sich wieder ebenso unvermutet, und beim hellen Schein der Sonne wurden bis in weite Ferne die wie lackiert aussehenden Gegenstände deutlich sichtbar. Unten zu ihren Füßen sahen die Artilleristen das Städtchen mit seinen weißen Häusern und roten Dächern, mit der Kirche und mit der Brücke, auf deren beiden Seiten die russischen Truppen in dichtgedrängten Massen einherzogen. An einer Krümmung der Donau sah man Schiffe und eine Insel und ein Schloß mit einem Park, bespült von den Gewässern der dort in die Donau sich ergießenden Enns. Man sah das felsige, mit Fichtenwald bedeckte linke Donauufer und darüber hinaus in geheimnisvoller Ferne grüne Berghöhen und bläuliche Schluchten. Auch die Türme eines[249] Klosters waren sichtbar; sie ragten aus einem anscheinend von keinem Menschen betretenen, wilden Fichtenwald hervor. Und in der Ferne nach vorn zu, auf dem Berg jenseits der Enns, erblickten die Artilleristen die Tirailleure des Feindes.

Auf der Anhöhe stand zwischen den Geschützen ganz vorn der die Arrieregarde befehligende General mit einem Offizier à la suite und betrachtete die Gegend durch ein Fernglas. Etwas weiter zurück saß auf einer Lafette Neswizki, der vom Oberkommandierenden mit einem Auftrag zur Arrieregarde geschickt worden war. Von dem Kosaken, der ihn begleitete, hatte er sich eine Tasche und eine Flasche reichen lassen und traktierte nun die Offiziere mit Pastetchen und echtem Doppelkümmel. Die Offiziere umgaben ihn fröhlich; die einen knieten, andere saßen mit untergeschlagenen Beinen auf dem feuchten Rasen.

»Ja, dieser österreichische Fürst war kein Dummkopf, daß er sich hier ein Schloß gebaut hat«, sagte Neswizki. »Eine herrliche Lage ...! Aber warum essen Sie nicht, meine Herren?«

»Ich danke gehorsamst, Fürst«, antwortete einer der Offiziere, dem es ein besonderes Vergnügen war, sich mit einem so hohen Offizier vom Stab unterhalten zu dürfen. »Es ist eine wunderschöne Lage. Wir sind dicht am Park vorbeigekommen. Wir haben zwei Hirsche gesehen; und das Gebäude ist großartig!«

»Sehen Sie nur, Fürst«, sagte ein anderer, der die größte Lust hatte, noch ein Pastetchen zu nehmen, sich aber genierte und deshalb tat, als betrachte er die Gegend. »Sehen Sie nur, unsere Infanterie ist da schon eingedrungen. Da, da, auf der kleinen Wiese hinter dem Dorf, da schleppen drei Mann etwas. Die werden sich das Schloß gehörig vornehmen«, sagte er mit sichtlicher Billigung.

»Wahrhaftig, Sie haben recht«, antwortete Neswizki. »Aber, wissen Sie, ich würde mir etwas anderes wünschen«, fügte er[250] hinzu, während er, die hübschen, feuchten Lippen bewegend, an einem Bissen Pastete kaute; »daß wir das Gebäude da gehörig vornehmen könnten.«

Er zeigte auf das Kloster mit den Türmen, das auf dem Berg sichtbar war. Er lächelte, seine Augen zogen sich zusammen und fingen an zu blitzen.

»Das wäre fein, meine Herren!«

Die Offiziere lachten.

»Wenn wir nur diesen Nönnchen ein bißchen angst machen könnten. Es heißt, es wären junge Italienerinnen darin. Wahrhaftig, fünf Jahre meines Lebens gäbe ich darum!«

»Die langweilen sich doch gewiß dadrin«, meinte lachend ein andrer Offizier in noch dreisterem Ton.

Unterdessen zeigte der weiter vorn stehende Offizier à la suite dem General etwas; der General blickte durch das Fernrohr.

»Na ja, es ist so, es ist so«, sagte der General zornig, indem er das Fernrohr von den Augen nahm und die Achseln zuckte. »Es ist so; sie werden den Brückenübergang beschießen. Warum sich unsere Leute nur nicht mehr beeilen?«

Auf der anderen Seite des Flusses war schon mit bloßem Auge der Feind und eine feindliche Batterie zu sehen, aus der sich ein milchweißes Wölkchen loslöste. Nach dem Erscheinen des Wölkchens ertönte ein ferner Schuß, und man konnte sehen, wie unsere Truppen an der Brücke auf einmal zu eilen anfingen.

Neswizki stand stöhnend auf und trat mit lächelnder Miene zu dem General hin.

»Wäre es Euer Exzellenz nicht gefällig, einen Bissen zu essen?« fragte er.

»Eine üble Geschichte!« sagte der General, ohne ihm zu antworten. »Die Unsrigen haben sich zu viel Zeit gelassen.«

»Soll ich vielleicht hinreiten, Euer Exzellenz?« fragte Neswizki.[251]

»Ja, bitte, reiten Sie hin«, antwortete der General und wiederholte ihm den Befehl, den er schon einmal mit allen Einzelheiten hatte hinmelden lassen. »Und sagen Sie den Husaren, sie sollen als die letzten über die Brücke gehen und die Brücke in Brand stecken, wie ich befohlen habe; auch sollen die Brennstoffe auf der Brücke vorher noch einmal revidiert werden.«

»Sehr wohl«, antwortete Neswizki.

Er rief seinen Kosaken mit dem Pferd, befahl ihm, die Tasche und die Flasche in Verwahrung zu nehmen, und schwang seinen schweren Körper behend in den Sattel.

»Ich will den Nönnchen einen Besuch machen, wahrhaftig«, sagte er zu den Offizieren, die ihn lächelnd ansahen, und ritt auf einem gewundenen Fußpfad bergab.

»Wir wollen mal sehen, wie weit unsere Geschütze tragen, Hauptmann; fangen Sie an zu schießen!« sagte der General, zu dem Batteriechef gewendet. »Machen Sie sich ein Amüsement, damit Sie sich nicht gar zu sehr langweilen.«

»Die Mannschaft an die Geschütze!« kommandierte der Offizier.

Im nächsten Augenblick kamen die Artilleristen von den Feuern, bei denen sie gesessen hatten, fröhlich herbeigelaufen und luden die Kanonen.

»Erstes Geschütz, Feuer!« ertönte das Kommando.

Mit einem energischen Ruck sprang die Kanone zurück. Sie erdröhnte von einem betäubenden metallischen Klang, und über die Köpfe all der Unsrigen, die sich am Fuß der Anhöhe befanden, flog pfeifend eine Granate; sie erreichte den Feind bei weitem nicht; ein Wölkchen ließ die Stelle erkennen, wo sie niederfiel und krepierte.

Die Gesichter der Offiziere und Soldaten waren bei diesem Ton heiter geworden; alle waren aufgestanden und beobachteten gespannt die Bewegungen unserer Truppen da unten, die[252] wie auf einem Präsentierteller zu sehen waren, sowie gegenüber die Bewegungen des heranrückenden Feindes. Gerade in diesem Augenblick trat die Sonne völlig aus den Wolken heraus, und der prächtige Klang des einzelnen Schusses und der helle Glanz der Sonne wirkten zusammen, um alle Herzen kühn und froh zu machen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 249-253.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon