|
[84] Wenn man so sieht, wie die geängstigten Theaterdirektoren furchtsam die Straßen der Stadt durcheilen müssen, um nicht von den bissigen Kritikerhunden in die Hosen geschnappt zu werden – so überkommt einen das Mitleid. Doch gibt es auch noch wohlwollende Mitmenschen, denen die Nächstenliebe nur so zum Maule heraustrieft.[84]
Wissen Sie, was ein Theaterverein ist? Diesen hat man sich so zu denken: eine Anzahl Gewerbetreibender, Subalternbeamter, junger Kaufleute – auch junge Damen gibt es da, mit leis dahinblühenden Seelen – tun sich zusammen, um Theater zu spielen.
Man trifft sich alle vierzehn Tage etwa in einem Restaurationszimmer mittlerer Größe, hüllt sich in gemietete bunte Gewänder und stellt erschütternde oder auch belustigende Begebenheiten der Gegenwart und der Vergangenheit dar . . . Sie lächeln.
Tun Sie das nicht! Wissen Sie denn, wieviele solcher Vereine es gibt, wieviele Verbände, Genossenschaften – Thaliien, Hilaritasse, Erholung, Olympias?
Ihr eigentlicher Geburtsort ist bestimmt Sachsen, Jedenfalls gibt es da die meisten. Dort blühen sie, dort gedeihen sie, nur dort gibt es die ›Echten Oberbayerischen Gebirgstrachten in zwei Garnituren von jeder Größe auf Lager. Erste Garnitur mit echten Hirschhornkronen-Knöpfen, fünf Zentimeter im Durchmesser, letztere einzig und allein in Chemnitz.‹ Glaubs wohl.
Wo aber ein Theater ist, da ist auch Kritik. Und sie haben ihre Kritiker, ihre Zeitschriften – wie die Erwachsenen.
Da gibt es Bühnenwettstreite wie den großen »Reform-Humoristen-Wettstreit zu Neuß am dritten November 1912«; oder den »Couplet- und Duettwettstreit des Theater-Vereins Germania, Nachrodt-Einsal i. W. (neunten und zehnten Oktober)«. Und einer, der in einem Dorf bei Lethmathe wohnt, empfiehlt sich zur »Übernahme des Preisrichteramtes für Bühnenwettstreite. Stellung ganzer Preisrichterkollegien auch ohne persönliche Mitwirkung unter strengster Diskretion. Bewertung nach allen Systemen.« Nach allen . . . ! Aber der Mann hätte ja in Berlin sein gutes Auskommen – gerade das fehlt uns so!
Wie klappt das aber auch! Hier ein paar Proben:
»Zur Aufführung gelangte zuerst der humoristische Einakter ›Es spukt‹, der die Anwesenden in andauerndes Gelächter versetzte. Hieran schloß sich das herrliche Schauspiel ›Am Grabe der Mutter‹. Hierbei zeigten die Spieler so recht ihr ganzes Können. Die Aufführung bot recht schöne und ergreifende Momente.« Dies, was den Theaterverein Fidelia in Wattenscheid angeht. Und Fidelio in Cöln-Raderberg? Nicht minder. Und es ist gar nicht so leicht! Man höre:
»Bühnen-Wettstreit des Theater-Vereins Unitas. Couplet-Klause. Erster Preis Erholung-Steele: ›Das Leben‹, 64 Punkte. Zweiter Preis Unter uns-Styrum: ›Urgroßväterchens Geburtstag‹, 62 Punkte . . . « und so fort bis zum »Achten Preis unser Fritz M.-Styrum: ›Die letzten Momente‹, 51 Punkte«. Nicht, als ob ich dies alles verstanden hätte – wer wüßte auch in solchen Fachausdrücken Bescheid! Die Kritik weiß Bescheid.
SIE ist gerecht, sie erkennt an, sie belobt – Ave, Ave! Ein bißchen[85] Kaufmannsstil, aber immerhin. »Die Regie und Szenerie – ich erinnere an das prächtige Bauernhaus – ließ nichts zu wünschen übrig und gehört derselben ungeteiltes Lob.« Das war in Lugau. Aber in Thum ist es auch nicht so ohne, Theater zu spielen. »Sudermanns Meisterstück ›Die Heimat‹ gelangte im Dramatischen Verein Montag, am sechsten Oktober, im Saale des Hotel Thierfelder zur Aufführung. Es wurden hohe Anforderungen an unsre Dilettanten gestellt.« Das kann man wohl sagen! Aber: »Aber sie haben den Anforderungen vollständig entsprochen.« Und es ist noch gar nicht so ausgeschlossen, daß diese Inhaltsangabe auch einem Sudermannschen Stück entstammt: » . . . Der Landeshauptmann nimmt dieses sein Todesurteil gefaßt entgegen. Assessor von Salberg kommt mit der Vorladung vor das Vormundsgericht in der Unterschlagungsanzeige schon zu spät, aber zur rechten Zeit, um Juliane, welche die Mörder ihres Vaters verflucht und sich für immer von ihnen lossagt, ein treuer Gefährte zu sein auf dem weiten Wege, welcher einem neuen Leben, einem süßen Glück im Winkel entgegenführen wird.« Na? Ist das gehässig? Geht es nicht auch so? Es geht. Gewiß, man ist auch einmal streng – aber nur gegen das Publikum. »Daß der neue Hut eines Herrn aus dem Saal verschwand, und sich gar nicht wiederfinden ließ, ferner, daß während der Aufführung der ›Söhne‹ sich ein Herr in der Bauchredekunst übte und ein Mitglied des festgebenden Vereins sich weigerte, denselben aus dem Saal zu weisen, sei nur nebenbei bemerkt.« Benebst einer Erwiderung: »Armer Theater-Verein Orpheus, Bonn-Endenich! Du wirst auch überall betrogen, wo du nicht an erster Stelle stehst! Es ist ja kein Wunder, wenn das Publikum versucht. Bauchrednerübungen zu veranstalten, wenn dasselbe verurteilt ist, eine halbe Stunde solch ein Gegrunze in den tiefsten Gutturallauten eines Indianers anzuhören . . . Was zum Schluß den gestohlenen Hut anbetrifft, so war besagter Hut sicher betrunken, da er seinen Herrn nicht erkannte, denn noch heute träumt er in unserm Stammlokal von einem fröhlichen Wiedersehen mit seinem Herrn.« So die milde Kritik.
Und wer dächte nicht an berühmte Muster, dies lesend: » . . . Das konnte sich Lorenz sowie unser Verband auf keinen Fall bieten lassen, und strengte Lorenz im Auftrage des Verbandes Klage an gegen den Theaterdirektor G. Daß nun diese frivole Behauptung bloß Flunkerei war, ersehen wir aus diesem Vergleich, dem wir wohlwollend zugestimmt haben, um Herrn G., welcher doch auch Familienvater ist, keine weiteren Kosten zu machen.«
Hier wird positive Arbeit geleistet, hier wird nicht nur bekrittelt, was fleißige Künstler geschaffen haben – nein, der Kritiker selbst zeigt, weist an, unterrichtet:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
[86] Wie eine wichtige Mitteilung:
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
Laut, mit tiefer, herausfordernder Stimme:
»Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!«
Ruhig:
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
Kalt und fest:
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
Pause. Erregt auffahrend:
»Das sollst du am Kreuze bereuen.«
Das ist es.
Und wenn Sie im gespannten Parkett sitzen und die Waldeslandschaft wackelt, weil durch die Seitenkulisse der Metzgerseppl gelaufen kommt, in dem echten Oberbayerischen Gebirgskostüm, und ruft; »Ich chotle eejalwech juhuu!« – dann rufen Sie mit uns:
. . . 's ist das blanke Schwert des Geistes,
Längst in Thalias Kampf bewährt.
Thaaljas – Paroxytonon – mit dem Ton auf der ersten Silbe.
Buchempfehlung
Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.
112 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro