Die diskreditierte Literatur

[134] Das deutsche Lesepublikum scheint mit einem großen Wurstkessel verglichen werden zu dürfen. Oben stehen die Köche – das sind die Herren Verleger – und schütten und schütten Würste hinein. Wie lange noch, und der Kessel ist voll.

Wie soll das werden? Früher, das war eine schöne Zeit. Gewiß, die Bücher waren nicht so billig wie heute, und auch die Drucktechnik ließ noch zu wünschen übrig. Aber wie liebte man so ein schmales Bändchen, wie kannte man jeden Buchstaben auf dem Einband, wie zärtlich streichelte man das oft gelesene Buch! Heute hat sich der Druck verbessert, die Ausstattung ist fast durchweg gut – aber die Bücher sind wohlfeil geworden und die Liebe zu ihnen auch. Die billigen Bücher waren anfangs eine angenehme Zugabe zu den gewichtigen Dingen, die der Markt bot – heute sind sie ein Fliegengeschmeiß, und eines Tages werden sie nicht nur den ganzen Sortimenterverdienst, sondern auch das große Interesse für Bücher aufgefressen haben. Luxusausgaben mochten wir kaum noch sehen, seit Frieda Schanz für sechs Mark eine Leinenausgabe ihrer Balladen veranstaltet und ihren Namen vorne hineinsigniert hatte. Da saßen die Verleger, und ob sie die Auflage noch so begrenzten: niemand war da, der ihnen die Exemplare, nur für Liebhaber und Liebhaberinnen hergestellt, abkaufte. Da saßen sie und weinten. Und erfanden – das billige Buch.

»Auch die große Masse soll . . . Selbst der gemeine Mann . . . Das Volk . . . « klingelten die Schlagworte. Gut. Aber was Mittel war, wurde Selbstzweck, und was heute ein besseres Buch sein will, darf nicht mehr als eine Mark kosten. Warum soll ich heute noch fünf oder gar sechs Mark für ein Werk ausgeben, das ich nächstens doch in der billigen Ausgabe erwischen werde? Die Herren Dichter mögen gewiß nicht gut dabei wegkommen – und der Verleger? Die Masse macht es. Bald wird sie es nicht mehr machen. Noch sind sie nicht übersättigt, die Bücherkäufer – obgleich leise Anzeichen schon vorhanden sind – noch kaufen sie, wie es ihre Pflicht ist. Aber über ein kurzes, und sie haben es satt. Der Zeitpunkt scheint nicht mehr fern. Der Insel-Verlag hat die Fünfzig-Pfennig-Wiese abgegrast, Fischer, der es auch nicht nötig hatte, folgte, und heute gibt es überall für sechzig Pfennige ein Buch oder viele Bücher, die soviel gute Literatur enthalten, daß sie nicht anregen, sondern sättigen. Ein Insel-Almanach im Jahr ist schön; aber die Buchhändler werden merken, daß tausend solche billigen Bücher das teurere Buch nicht einführen, sondern diskreditieren. Viel Glück! Herunterzugehen, war nicht schwer. Jetzt heißt es: wieder heraufkommen.


  • [134] · Peter Panter
    Die Schaubühne, 04.12.1913, Nr. 49, S. 1210.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 134-135.
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