Massary

[126] »Hoho! P! Du mir? Nich wahr . . . ?!«

C. P.


Die Bachstelze – Motacilla alba, auch Wippsterz genannt – tänzelt auf dem keimenden Acker herum. Sie läßt sich nieder, setzt sich, fliegt auf. Oh! sie weiß ganz genau, daß das Männchen jede ihrer Bewegungen verfolgt, weiß ganz genau, was jetzt kommen wird: aber sie merkt nichts. Sie piepst, wippt kokett mit dem Federschwänzchen und ist schrecklich beschäftigt, den Kragen, der sich aufgeplustert hat, zu putzen. Das Männchen wartet. Ein doppelter Vogelschrei . . .


Die Massary ist die einzige Darstellerin der grande cocotte, die unser Theater zur Zeit besitzt. Das ist eine Schmeichelei in Deutschland, wo die Schauspielerinnen jedesmal eine Art Krampf bekommen, wenn sie bürgerliche Unzuverlässigkeit zu markieren haben, und wo die frivolités meist im Ausschnitt der Kleider, manchmal im Kopf, aber nie im Blut sitzen. Das gackert, stelzt und hopst über die Bühne – keine, die nicht merken ließe: Ich verstelle mich nur, ich bin eine anständige Frau! – alle, die merken lassen: Ich verstelle mich gar nicht, ich bin übrigens auch im Privatleben so! Sie geben weder den Typ in der Vollendung, noch einen ulkigen Einzelfall – sie kriechen mit schwerem Huch! unter die rosa Bettdecke, halten sich unten die Röcke zu, sehen durch die gespreizten Finger und gleichen im ganzen der Kuhmagd Alwine, die sich vor dem Viehtreiber im dunkeln Wald fürchtet, obgleich er mit seinem Bullen beschäftigt ist, und die spricht: »Du kannst em ja anbinnen!«

Die Massary macht das so anders.

Sie tritt ein, ihr Anbeter sitzt auf einem Stuhl, den geängstigten Zylinder auf dem Boden, die Hände Gott weiß wo . . . »Gnädige Frau, Sie glauben nicht, wie ich mich freue!« – »Ah! Sie freuen sich.« (Das spricht sie ganz durch die Nase, mit Kopfstimme.) »Sie sollten sich[126] nicht freuen, mein Freund! Man soll sich nie freuen. Ich hatte zwei Freunde, jeder freute sich, wenn ich zu ihm kam. Nun, ich machte, daß sie Sich beide freuten. Doch merkwürdigerweise freute sich dann keiner mehr. Die Männer wissen nicht, was sie wollen. Sie wissen nur, was wir wollen. Aber das wissen wir wieder nicht genau. Freuen Sie sich nicht, mein Freund, solange an Ihrem linken Stiefel ein Knopf abgeplatzt ist. Es ist ziemlich ungalant, grade den linken Stiefel offen zu lassen, wenn man eine Dame besucht, die einen erfreuen soll.«

Diesen Dialog gibt es nicht, weil die Massary fast stets in konfektioniertem Kitsch auftritt. Aber gäbe es ihn: der Anbeter und das Parkett wären sprachlos. Sie erhofften sich die Unanständigkeit einer Kokotte – und was erhielten sie? Eine allgemein gültige Abhandlung über das Wesen irgendeines abstrakten Gegenstandes, vorgetragen in demselben leichten Ton wie: »Ewald, werfen Sie diesen Herrn hinaus!« oder: »Ich werde dir ewig treu sein!« Und nun schimpfen sie die Massary kalt. Witze soll sie sagen, Zweideutigkeiten, Eindeutigkeiten, Einhalbdeutlichkeiten! Aber sie läßt leger fallen, was andre Huckepack nehmen, und ist von einer unergründlichen Obszönität. Die zeigt sie nie, läßt sie erraten, wie ein Spitzenhemd nur erraten läßt, und schwebt auf den fulminantesten Pointen einer Diwansituation mit virtuoser Leichtigkeit. Nur manchmal – dieser berühmte Augenblick ist in allen ihren Rollen – sickert etwas durch, sie gebraucht ein Wort, eine Geste, die zeigen: Ah! ich weiß wohl . . . ! Aber das geht so schnell vorüber, daß man sich erstaunt die Augen reibt und fragen möchte: »Wie bitte?« Sie ist schon längst wieder in Sangershausen, während wir sie noch in Paris wähnen, adhibiert hochherrschaftliche Bewegungen und ist vom Kopf bis zu den Füßen Adel. Einmal: »Am Champagner hat sich noch keiner die Schnauze verbrannt.« Und das Wort ›Schnauze‹ mit einer Genugtuung, einer Freude am Unterirdischen, daß man prompt neugierig wurde: Woher weiß sie das? Sie ist doch eine feine Frau? Ist sie auch, aber after, nie before. Wenn ich nicht irre, ist es Prévost, der einmal gesagt hat, der Reiz, einen unanständigen Ausdruck im Mund einer anständigen Frau zu hören, beruhe darauf, daß man unwillkürlich meditiere, wo und wie sie ihn erlernt habe. Die Massary spielt nie heute abend. Sie spielt heute abend, aber ihr ganzes Vorleben zieht sie nach sich.

Denn diese Leichtigkeit ihrer Damen ist einmal mühsam erworben. Kaskaden von Gelächter, niederträchtige Augenaufschläge im Zigarettenrauch, naschende Lüsternheit beim Sekt: im Untergrund wimmeln amüsante Bettabenteuer, kleine Schreie und ein Kitzel nach mehr. Wehe aber, wenn sich der Deutsche da täuschen läßt! Täppisch greifen seine Hände zu. »Oho! Mein Herr!« (Der Ton wechselt: für diesen Moment steht ihr ein wundervoller ethischer Baß zur Verfügung.) »Was denken Sie von mir? Ich bin eine anst . . . « Und ist das heraus, ein spöttisches Gelächter. Sie sieht den Kavalier, der an geschäftsmäßige[127] Konsequenz gewöhnt ist (»Aber Sie sagten doch eben . . . ?«) erstaunt an: »Das erste verpflichtet nicht zum zweiten, nicht zum dritten . . . das erste verpflichtet zu nichts! Ich verpflichte mich überhaupt zu nichts! Ich bin leicht, bin eine Flaumfeder – blast nur, là-bas, ich fliege so, wie es mir gefällt.« An die strenge Kette des Bürgers, in der auf drei Voraussetzungen eine Pointe folgt, ist sie nicht gebunden.

Sie hat die leichte Hand. Sie darf dies und alles: sie darf kippen, noch einen Zentimeter, noch einen; aber wir ängstigen uns nicht. Eine unfehlbare Sicherheit des Geschmacks, eine lächelnde, gleitende Überlegenheit machen uns vibrieren; aber wir fürchten uns nicht. Sie hat alles schon einmal gesehen, gehört, geschmeckt, erfahren. Was auf dieser Linie nur noch die Holl kann: psychisch als Frau interessieren, ohne unterleiblich zu wirken – hier ist es in der höchsten Vollendung. »Ich will ja gar nichts von Ihnen, gnädige Frau!« – »Umso besser, mein Herr! Man muß auch nicht immer etwas wollen. Also nehmen Sie, bitte, Platz!« Aber bevor er an sein ›eigentlich‹ gekommen ist, lächelt sie schon. Sie weiß, daß er weiß, daß sie weiß. Sie wissen beide – nur sie immer ein Lot mehr als er, und auch dies Mehrwissen weiß sie, also zwei. Und mit diesen zwei Lot operiert sie. Sie peitscht ihn auf, schon rutscht er den schrägen Abhang hinunter – da bremst sie, kühl, gelassen, uninteressiert. Sagte er: »Das ist aber ein hübscher Bilderrahmen, gnädige Frau!« – sie lachte. Wenn es ihr beliebte, könnte sie ihm jetzt antworten: »Alter Kamerad, ich weiß ganz genau, was dich bedrückt. Geh ein Haus weiter . . . Ich . . . Kurz: es sagt mir nicht zu!« Und uns plagt die infame Neugier, sie einmal schrankenlos zu sehen. Aber sie wird sich hüten: sie weiß sehr gut, daß die Grenzen das Schönste an der Heimat sind.

Das ist die Massary, die wir lieben.

Dann gibt es noch die singende, ganz vorn an der Rampe. Da machts die Rasse allein nicht. Das ist Technik, aber von der feinsten. Jeder Gestus wird als Gestus produziert, weil Madame parodieren wollen und keinen heilen Faden an der Rolle lassen. Oder sie nimmt sich wirklich eines Couplets an, trippelt am Souffleurkasten vorbei, und dann ziehen die Geiger noch einmal so straff ihre Bogen über die Saiten, der Cellist schlägt gradezu Takt, und das Ganze hat einen Schmiß, einen Elan, daß sich der Komponist gratulieren kann. Er hats, heißt er nicht Offenbach, selten bewirkt. Ihr Blut singt mit, wenn man diese Mischung noch Blut nennen kann. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß es irgendetwas mit goût américain ist.


So geht sie über unsre Bühnen, als Toilettenträgerin angestaunt, als Soubrette belacht, als Künstlerin lange nicht genug bewundert. Denn bei aller ›Rasse‹ – worunter wir in Norddeutschland immer etwas Romanisches verstehen – gehört sie irgendwie zu uns.[128]

Ein schnoddriges Berlinertum, Bachstelze, Erotik hinter tausend Vorhängen, Seidenkissen mit einem hitzigen Parfum, einen Eiskübel über den Kopf, ein helles Frauenlachen: Massary.


  • · Kurt Tucholsky
    Die Schaubühne, 20.11.1913, Nr. 47, S. 1143.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 126-129.
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