Das Reimlexikon

[239] Genie ist Fleiß


Merkwürdig: wir wissen alle, daß es so etwas gibt. Wir wissen auch alle, daß es bei Reclam erschienen ist. Aber dann ist es aus, denn in der Hand hats selten jemand gehabt, und wenn ich nur den erwischen könnte, ders schon einmal angewendet hat!

Der erste Eindruck ist überwältigend. Ein ganzes Buch mit Reimen! Und richtig geordnet, so wie sich das gehört: die auf -afer stehen zusammen und die auf -obeln und die auf -under. Nun Dichter, auf den Plan! Der Verfasser, ein Regierungsrat und Doktor juris, hats ganz ernsthaft gemeint, als er sich diese Höllenarbeit machte. Er belehrt uns in der Vorrede über die Historie der Reimlexika, und erzählt uns auch von einem bösen Vorgänger, der sich den Ruhm, das dickste Reimlexikon geschrieben zu haben, damit erschlich, daß er zum Beispiel bei den Reimen auf -aut sechshundertundfünfzig Krautarten aufzählt. Pfui! Wir hingegen arbeiten ehrlich, und los gehts. Was eigentlich losgehen soll, ist nicht ganz klar. Das Dichten? Jedenfalls, denn zum handlichen Gebrauch ist das Büchlein hergestellt. Es ist ja nun billig, sich darüber lustig zu machen – und wir sind uns genugsam klar, daß es so nicht geht. Schön. Aber man kann darin lesen. Ganz ernsthaft lesen, so, wie man übrigens im Büchmann lesen kann oder im Brockhaus oder in dergleichen Institutionen, die sehr zu Unrecht immer nur für die trockene Praxis aus den Regalen geholt werden.

[239] Es fällt einem schon so allerhand ein, wenn man im Reimlexikon liest. Der Reim – was das für eine ulkige Sache ist! Wie so ein Gleichklang am Schluß dem Ding gleich einen andern Aspekt gibt! »Der Segen, der Degen, allerwegen, wogegen.« Nun bloß noch ein bißchen Sinn: und das Gedicht ist fertig. Doch – es ist fertig. Man lese einmal so einen Abschiedsbrief eines Mannes an seine Geliebte (die er nachher erschoß).


Vergißmeinnicht

Behüt Dich Gott, geliebtes Kind,

In Deinen Locken spielt der Wind,

Das Hündlein wedelt, springt und bellt,

Dein Mut ist frisch und schön die Welt,

Behüt Dich Gott!

Behüt Dich Gott in Freud und Leid,

Behüt Dich Gott in Ewigkeit!


Na? Dem und ihr mochte doch sicher gleich sein, was da drin stand – aber daß man die Zeilen so schön absetzen mußte und der geliebte Gleichklang: das wars, was das Herz bewegte! Immer klappts aber nicht im Lexikon, das muß ich schon sagen. Oder sind das vielleicht Reime, die ich doch für meine vierzig Pfennige verlangen kann? Die Proklamation, Die Aktion, Die Insurrektion: das reimt sich – aber Reime sinds doch nicht. Und was die Wörter mit der Endsilbe -ung angeht, nein, da tu ich nicht mit. Der Rösselsprung und Die Begüterung und Die Einigung und Die Beglaubigung – mein Geld möcht ich wiederhaben, mein Geld!

Und beim Blättern stoß ich auch auf den lieben alten Operettenreim -ieren. Ach, welche Couplets tauchen auf, wenn ich so lese: Ich erfriere, ich geniere, ich dressiere – amüsieren, animieren, kommandieren . . . ! Offenbach, Cancan, -ieren -ieren -ieren -ieren . . . !

Manchmal reimt das Lexikon auch allein: In betreff – der Chef – das Reff. Oder: Der Floh – froh – inkognito – irgendwo – oh! – roh – schadenfroh – so – das Stroh – der Studio – ein Trikot – wo? Das ist der Liebig-Extrakt, und jeder kann sich seine Bouillon davon kochen.


  • · Peter Panter
    Die Schaubühne, 09.07.1914, Nr. 27, S. 35.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 239-240.
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