Das Paradigma

[148] Walter Jarotschiner, die illegitime Amme der Rechtsbeflissenen, die an den Brüsten der alma mater vorschriftsmäßig zu saugen hatten, der juristische Repetitor Walter Jarotschiner rutschte mit einem matten Seufzer ins Bett; seine pinselblonden Haare, die im Kranze die ehrfurchtgebietende Tonsur umstanden, bauschten sich. Der Dienstag war ein böser Tag: neun Stunden saß Rabbi Ben Jarotschiner im Kreise seiner Schüler und lehrte: von den Verhältnissen der Germanen und den Schuldverhältnissen insbesondere und von den Geschäftsbüchern der römischen Familienväter und von den Käufen nach, auf und zur Probe . . . Und sein Mund troff von Weisheiten, und seine irrenden Äuglein sahen alles andere als die aufhorchenden Jünglinge: die waren seit Generationen an ihm vorbeigezogen, und er glaubte nicht mehr daran, daß jeder von ihnen einen eigenen Namen besäße, – er hatte ein eigenes topographisches System erfunden, um sie zu bezeichnen: da gab es einen ›Tür-Präsidenten‹ und einen ›Umgedrehten‹ und einen ›Nebenmann‹ und einen ›Blätterer‹ –, das paßte auf alle und ließ außerdem eine objektive Distanz des Lehrenden zu den Hörern erkennen . . .

Jarotschiner kuschelte zusammengesunken im Bett. Der zu schwere, birnenförmige Kopf war wie immer nach vorn gekippt, und nur der Bauch lag ruhig und ein bißchen gebläht da, still bewegt von dem taktmäßigen Atmen des Einschlafenden . . .

Öffnete sich die Tür? – Sie öffnete sich. Und herein trat – mein Gott! – welch ein Wesen! – Es war grau, unscheinbar, ein Mann offenbar, wie? und statt der Hände und Arme wie wir, die »normalen Durchschnittsmenschen«1 sie haben, trug es längliche Klumpen, Keulen, schien es, und auch sie grau, glibberig, durchscheinend wie eine Kinovision . . . Jarotschiner unterschied deutlich dahinter die Wand, ein Stückchen gemusterte Tapete und das Bild des Rechtsgelehrten Kohler, der aufgerichtet und würdig in einem Rahmen stand, Professor, Dichter und Musiker, der er war . . .

Der Jugendbildner rührte sich nicht. Das Phantom, denn was anders konnte es sein? – das Phantom klappte ein paar Mal die gewaltigen Kiefern probeweise auf, zu, auf . . . und begann zu sprechen; flüsternd, heiser, aber man konnte jedes verdammte Wort hören:

»Oh, Walter Jarotschiner! – Du überhäufst mich mit Schande! – oder besser: Du behaftest mich in solchem Maße damit, daß ich nicht umhin kann, mich an dir zu rächen.«

Hatte die trockene Stimme aufgehört zu knarren? Der im Bett wurde völlig wach. Sein Denken glitschte aus. Wer war das? War es eine[148] Inkarnation seiner verpfuschten Latein-Extemporalia der Schulzeit? – Es sprach so. Himmlischer . . .

»Gibt es denn noch ein Verbrechen«, redete das Ding weiter, »das du mir nicht schon angedichtet hast? – Du hast mich geschaffen, hast mich aus dem Nichts geholt – aahaach! hättest du mich doch darinnen belassen!« –

Setzte sich auf des Bettes Rand und weinte bittere Tränen. Jarotschiner staunte: gefährlich war es anscheinend nicht, das leuchtete ein. Aber wer war das, und was in aller Welt mochte es wollen? – Es schluchzte noch immer, seine Nase war voll, es rutschte mit dem Ärmel darüber hin . . .

»Ich – e-ä-iche . . . Mit wem habe ich das Vergnügen?« fragte Herr Jarotschiner.

Das Ding fuhr auf. Donnernd: »Ich bin das Paradigma, an dem du deine scheußliche Wissenschaft übst, ich bin das wehrlose Opfer all deiner bubenhaften Schüler, schülerhaften Buben . . . Buben . . . Schüler . . . ich bin geschändet! denn es gibt nichts, aber auch nichts, was ich noch nicht begangen hätte: vom einfachen Rechtsgeschäft mit obligater Schieberei bis zur Majestätsbeleidigung! Du hast mich auf deinem sonst so blonden Gewissen!! Erkenne mich: ich heiße und bin PETER PANTER!« –

In der Tat. Daran hatte er nicht gedacht. Er, Jarotschiner, hatte diesem Unding das Leben gegeben – er hatte es wirklich erschaffen, aus dem Nichts, wie es sich richtig ausgedrückt hatte, er hatte es abgerichtet, alle nur denkbaren Verbrechen zu begehen, damit seine Schüler daran lernten, es war gewissermaßen sein kriminalistisches Versuchskaninchen gewesen . . . und nun stand es da und hielt Abrechnung . . .

»Du schufest mich als einen armen Wandersmann, der ehrsam mit Waren, – mit welchen, sagtest du nie, – handeln ging, und so ließ es sich eine Weile auch ganz schön an. Aber wie durftest du es dir in den Sinn kommen lassen, mich zu den fürchterlichsten Verbrechen anzustacheln, die du ersinnen konntest?! – Ich raubte, ich mußte mich auf dein Geheiß an fremden beweglichen Sachen bereichern in der Absicht, mir dieselben rechtswidrig zuzueignen, ich mußte in das befriedete Besitztum eines andern widerrechtlich eindringen, ich mußte durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Frauenspersonen zur Duldung des außerehelichen Beischlafs nötigen; übel nachreden mußte ich und Münzen verringern und viele Totschläge mit der Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters und unter mildernden Umständen begehen . . . «

Da war nichts zu machen. Jedes Wort eine Anklage, jedes Wort eine Wahrheit, jedes Wort eine Verurteilung. Aber wie sollte man es den jungen Herren beibringen, die die ganze Schönheit der Vorschriften über den Rücktritt vom Versuch theoretisch zu begreifen nicht imstande[149] waren? Ein Hülfsmittel, nicht wahr, eine harmlose Eselsbrücke, sozusagen . . . Kinder werden nicht immer um ihrer selbst willen gezeugt . . . Wenn der jetzt böse wurde – Jarotschiner versuchte, mit seinem ledernen Herzen ein bißchen schneller zu klopfen . . .

Aber siehe: Peter Panter weinte . . . Er weinte, unter vielem Blasen und Ziehen, so wie die gewöhnlichen Leute ihrem inneren Schmerze Ausdruck zu verleihen pflegen. Ein Taschentuch hatte er auch nicht . . .

»Ich bin erledigt, ich, Peter Panter; nirgends kann ich mich mehr blicken lassen! Niemand achtet mich mehr. Nicht der Hochstapler Othmar Gubatta, dem ich die goldene Uhr seines verstorbenen Vaters unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – aber auf dein Geheiß, Jarotschiner! – aus der Tasche holen mußte, nicht die Prostituierte Berta Stocklossa, der ich ihren bewegten Lebenswandel vorhielt, tückisch darauf bauend, nachher einen Wahrheitsbeweis erbringen zu können; nicht der Feldwebel Senf und die Oberin Trinius und Herr Puschnus und Frau Tumuscheit und nicht Direktor Sporckhorst und nicht der Kriminalschutzmann August Seegebarth . . . Sie alle speien nunmehr auf Peter Pantern . . . chp! . . . chp! . . . «

Und nun weinte er so schaudervoll, daß es dem Jarotschiner das Herz zerschnitt. Er wollte ihn aufrichten, trösten – zu spät!

Herr Panter war auf das Fenster zugewankt, hatte es geöffnet und kullerte sich sanft heraus, ein müdes Lebewohl seinem Schöpfer und Mörder zuhauchend . . .

Jarotschiner auf – und an das Fenster. Er beugte sich weit hinaus, Die kühle Nachtluft strich ihm traditionell um die heißen Schläfen. Nichts. Der Hof war leer. Oben auf dem Dach maute ein Kater, er stand im Vollmond, sein emporgereckter Schwanz verdeckte das Mare procellarum, eine wenig gebirgige Stelle des Erdtrabanten . . .

Sein schönstes Paradigma! Sein eines, einziges, allereinzigstes Paradigma! Sein Herz hämmerte: Wie sollte er morgen die atmende Gemeine lehren, wenn jener fehlte? Wie den jungen Herren beibringen, daß das Standesamtsregister und das Grundbuch nicht ganz dasselbe sei?

Diese Nacht schlief Walter Jarotschiner nicht.

Aber am Morgen – es mochte auf ein Viertel sieben gehen, und draußen begann es schon zu grauen und zu blauen, – erschuf er: THEOBALD TIGER.


  • · Ignaz Wrobel
    Der Zeitsparer.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 148-150.
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