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[210] In der Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung hat ein Redner in der Hitze des Gefechts die bürgerliche Presse »eine feile Dirne« genannt. Darob gab es ein Hallo, und die angegriffenen Blätter durften feststellen, daß sich eine solche Rempelei von selber richte.
Ich weiß doch nicht recht. Ist die bürgerliche Presse wirklich mit einem Straßenmädchen zu vergleichen? Nein. Leider nein. Die deutsche Bürgerpresse ist nicht in dieser Weise korrupt. Ihr Wesen ist nicht zu treffen durch den Hinweis auf kleine Bestechungen und Käuflichkeiten, die mit dem Inseratengeschäft und der Kunstkritik zusammenhängen. Sie ist keine feile Dirne, die man sich für ein paar Mark kaufen kann. Sie ist etwas viel Gefährlicheres. Verglichen kann sie vielleicht werden mit einer großen Kokotte, die ein gutes Herz hat und, wenn sie nicht gerade Grafen und Barone rupft, wohl auch einmal einen Tee für Minderbemittelte einlegt. Sie ist unberechenbar: sie schenkt heute diesem ihre Gunst und morgen jenem, verlangt von einem viel, vom[210] anderen alles, vom dritten nichts. Sie hat ihre Lieblinge, und sie hat ihre Feinde, und in ihrem Frauengehirn spiegelt sich die Welt auf wunderbare Weise. Sie hat viel zu tun, um alle die komplizierten Verknüpfungen auseinanderzuhalten, die feinen Fäden, die vom einen zum anderen gehen, die Beziehungen, die kleinen Abneigungen, die kleinen Freundschaften. Es kann vorkommen, daß der Liebhaber – und sie hat eine Menge, die um sie buhlen – durch den Vordereingang stelzt und von einem höhnischen Lakaien heruntergeworfen wird, und es kann passieren, daß einer über die Hintertreppe kommt und die Tür zum Boudoir offen findet.
Es ist irgendwo Geld im Spiel, aber leider nicht offen und eindeutig. Man weiß meist nicht, wo und wie, und sie küßt heute, dem sie gestern die Augen ausgekratzt hat. Sie ist viel zu fein, um sich bloß Geld auf den Nachttisch legen zu lassen, sie nimmt mehr, viel mehr, sie nimmt alles. Also kein Straßenmädchen, sondern das, was der Franzose eine ›grande cocotte‹ zu nennen pflegt.