Vormärz

[193] Anmerkung in ›Weltbühne‹ 23. 11. 1926:

Der ehemalige Kronprinz, den Stresemann und die deutschen Sozialdemokraten wieder ins Land gelassen haben, und der sein Versprechen, sich nicht mit Politik zu befassen, selbstverständlich gebrochen hat, ist auf dem berliner Sechstagerennen ausgepfiffen worden. Der ewige junge Mann liebt den Sport, wovon ja jene als Soldaten verkleideten Arbeiter etwas wissen, denen er vor Verdun – weit vor Verdun – mit einem Tennisracket zuwinkte, als sie an ihm vorbeizogen, um sich schlachten zu lassen.

Im März 1914 war ein sozialdemokratischer Redakteur wegen Beleidigung des Sportsmannes zu Gefängnis verurteilt worden. Rosa Luxemburg lebte und wirkte, es war dicke Luft – und Wilhelm III. lächelte in der Loge des Sportpalastes, wo ihn zu sehen sich niemand verwunderte.

Davon geht der folgende Aufsatz aus, der hier am 2. April 1914 erschienen ist.


Der Beleidigte sitzt leicht vorgebeugt in der Loge und spendiert braven Schlossergesellen, die hier sechs Tage Rad treten müssen, goldene Zigarettenetuis. Es klingelt: los! Die Amerikaner ergatterns, die Germans liegen durchaus nicht in der Front, die Galerie heult. Dummes Volk hockt in dem Riesenraum, Jahrtausende Zuchthaus schauen herab, hier belustigt sich der Untertan, scharf eingezwängt von warnenden Plakaten und schnauzigen Aufpassern. Der Beleidigte nützt dem Sechstagerennen und sich selbst: wenn der Kronprinz sein Erscheinen zugesagt hat, wirds noch einmal so voll, und zugleich fließt ein Teil der Popularität vom Sport hinüber auf ihn. Er sitzt in der Loge und lächelt, die Bevölkerung hängt über der Rangbrüstung und johlt: sie sind sich einig.

Am Vormittag desselben Tages haben sie Herrn Meyer, Redakteur des ›Vorwärts‹ auf drei Monate ins Gefängnis geschickt. Nun war der ›Abschied vom Regiment‹, den er geschrieben und jedenfalls zum Druck befördert hat, schlecht. Der Erfolg lehrt, daß er schlecht war. Denn wer die deutsche Sprache beherrscht, wird einen Schimmel beschreiben und dabei doch das Wort ›weiß‹ vermeiden können. Eine Satire sei keine strafbare Handlung: man konnte über den schwarzweißrot geschminkten Regimentsbefehl des Obersten von[193] Langfuhr lächeln, ohne absichtlich, böswillig und mit Überlegung zu verletzen.

Aber was waren das für giftige Früchte – so der Urteilsbegründungsfilm – die der Meyersche Baum der Erkenntnis, weite Kreise gefährdend, trug?

Was hatte Hans Leuß getan, daß sie ihm sechs Monate zudiktierten?

Was Rosa Luxemburg, die auf ein Jahr dran glauben muß?

Sie sind alle drei Vorposten eines imaginären Heeres. Sie schossen zu laut und zu hastig altmodische Schießgewehre ab, fehlten, und als sie sich nach Hilfe umwandten, war es öde und leer. Sie standen allein.


Wo sind wir? Was ist das alles? Wo gleiten wir hin?

Thomas Buddenbrook tituliert einmal in einer Zornesaufwallung seinen Herrn Bruder einen Esel. Jeder andre wäre aufgefahren, hätte erwidert, vielleicht geschlagen, »Na . . . Esel . . . « sagte Christian und machte ein verlegenes und unruhiges Gesicht. Schließlich ist alles auf der Welt relativ, und Hinz ist zu gründlich, als daß er sich einfach wehrt, wenn ihn einer angreift. »Es ekelt ihn, zu handeln« – aber er steht nicht, wie Hamlet, jenseits der erkennenden Reflexion, sondern er steckt noch mitten drin.

Auf der andern Seite ist man nicht so bedenklich. In massiver Geschlossenheit repräsentiert sich eine herrschende Kaste, wie sie der Deutsche verdient: nicht allzu gewandt, von ziemlich schwachem Intellekt, aber einigem Mut. Wenn man es mutig nennen darf, auf einen Kautschukamboß zu hämmern.

Die germanischen Untertanen sind eine merkwürdige Mischung aus Subjekt und Sujet. Was den Juden angeht, so ist sein Respekt zwar nicht so ungeheuer, aber er muß erst die Zusammenhänge begreifen, aufspüren, nachgraben und kann sich doch niemals zur simpeln Eindeutigkeit des Handelns aufschwingen.

Die Luxemburg, Leuß, Meyer, sie sind alle wegen (schlecht stilisierter) Gotteslästerungen verurteilt worden. Man spricht: Halts Maul!

»Na . . . Maul . . . « sagt der Bürger. »Wir waren gestern erschreckt, daß die so moderne Marineverwaltung das Anbinden der Hände beim strengen Arrest für eine ganz natürliche Strafe erklärte. Es müßte . . . « Sie waren erstreckt. Wenn man guter Laune ist, wird man ihnen eine kalte Kompresse auf den Magen legen, aber es kann auch sein, naß man sie einfach ignoriert. Eheu! Dieses Parlament liegt an des Königs Platz und wird da wohl ewig liegen bleiben.

Einsichtigen ist längst klar, daß unsre Politik anderswo gemacht wird, und keineswegs von diesen ausgewählten Bürgern, auch nicht von den Leitartiklern, überhaupt nicht in der Öffentlichkeit. Die entscheidenden Einflüsse sind nur zu spüren, aber nicht zu fassen; man[194] hat so seine kleinen Besprechungen in den Büros, unverbindliche Zusammenkünfte, Korrespondenzen, und dann mögen wir das fertige Resultat bejubeln oder bespeien. Geändert wird nichts mehr.

Man tröstet: wenigstens das Kapital tendiere nach links. Und wenn dem so wäre. Wir blicken doch nicht zum Vereinsvorsitzenden Haeckel auf und wissen sehr gut, daß es auch noch andre treibende Kräfte als die materiellen gibt. Aber was den Geist betrifft, so ist es damit jämmerlich bestellt.

Man muß die ›Rote Woche‹, diesen Ausverkauf in Rebellion miterlebt haben, um zu sehen, wie so etwas in Deutschland gehandhabt wird. Denn dadurch unterscheiden sich die Phrasen von rechts so sehr von den Phrasen von links: Ostelbien ist immerhin ein Fundus, auf dem man seinen breitbeinigen Standpunkt haben kann. Die Arme solcher Kerle haben Bewegungsfreiheit. Der Bürger und der Arbeiter aber sehen gespannt zu, wie sich die, so seine Vertreter heißen, mit den Feinden herumschlagen. Der Justizmotor knattert: der Zuschauer bleibt passiv. Suares wird hier nicht agiert.

Die politische Opposition, die Demokratie und vor allem die Sozialdemokratie haben sich gründlich diskreditiert. Unangenehm, dergleichen auszusprechen; denn flugs ist man in konservativen und nationalliberalen Redaktionsstuben bereit, dies als eine Abkehr von links und ein Kompliment nach rechts auszulegen. Aber unsre Radikalen mögen wir ja nur deshalb nicht, weil sie keine sind. Man kann es den Besten nicht verdenken, wenn sie sich nicht als Volksgenossen, sondern als Privatleute fühlen und im Wald und auf der Heide ihren Privatfreuden obliegen. Es gehört Selbstüberwindung dazu, im Wässerchen dieser Banalitäten mitzuplätschern.

Die Folgen sind bös. Langsam, aber gründlich ist man in den Ministerien dahinter gekommen, daß vorhandene Energien nicht zu dämpfen, sondern nur richtig auszunutzen sind. Der turnenden und wandernden Jugend ist ein konservativ-chauvinistisches Programm längst keine Politik mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ein Blick auf die jungen Leute, die – Standes- und ordnungsgemäß getrennt – im Stadion an der Kaiserloge vorbeidefilieren, zeigt, was hier für Männer aufwachsen. Jede Bauchwelle ein Treugelöbnis. Jeder Hechtsprung ein Fahneneid. Und der Rottenführer darf bewegten Herzens melden: ein Oberst a. D. und zwölf Mann am Reck zur Stärkung des monarchistischen Gefühls.


Es geht uns nicht gut. Wir haben hundert Dogmen der Reflexion, aber kaum eins des Handelns. Wir gleichen dem Tausendfüßler, der vor lauter Überlegung nicht mehr weiß, welches Bein er zuerst heben soll, und demgemäß stehen bleibt. Macht und Geist sind zwei Faktoren, die einander heute ferner sind denn je.[195]

Vom Vormärz haben wir die Idylle verloren, aber die Reaktion behalten. Politik ist zum Gezänk geworden. Opposition zum einflußlosen Krakeelertum. Und Gott gebe uns ein paar rechte Kerle, damit wir über diesen faulen Vormärz hinüberkommen, in einen richtigen Frühling hinein.


Anmerkung in ›Weltbühne‹ 23. 11. 1926:

In einen richtigen Frühling?

Sie haben einen Krieg und wir haben eine Revolution verloren, wir haben sie nicht einmal angefangen. Die Rechtsbrüche der Verwaltung und, was auf dasselbe hinauskommt, der Justiz haben einen Umfang angenommen, wie er unter dem Seligen niemals möglich gewesen wäre. Der Mann aus der Sechstageloge fährt im Auto durch Berlin, republikanische – Schutzleute wehren mit der weiß behandschuhten Rechten das Volk ab, das ihm den Wagen für Desertion und sportliche Betätigung im Kriege bezahlt hat. Papa hat schwer zu tun, alle Quittungen für die Millionen zu unterschreiben, die man ihm über die Grenze nachschickt, und bald wird er sie ja wohl zu Hause verzehren dürfen.

Aus der Opposition von damals ist ›realpolitisches Wirken‹ geworden – und durch die Schuld eben dieser Realpolitiker sind wir dahin gekommen, wo wir heute sind.

In einen richtigen Frühling hinein? Vom Regen unter Umgehung der Traufe in diese Republik.


  • · Kurt Tucholsky
    Die Weltbühne, 23.11.1926, Nr. 47, S. 803.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 193-196.
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