|
[280] In das Graß / so lang ich bin
Einsamb sträkke ich mich hin.
Dafnis
»Mein Sohn lernt einsiedeln«, sagte Herr von Kügelgen zu mir, »weil er menschenscheu ist und die Welt verachtet. Er lebt jetzt auf ›Solitaire‹. Sie sollten sich das ansehen.«
Wirklich: ich sollte mir das ansehen. Und ich setzte mich in Herrn von Kügelgens Landauer, die Dorfhunde kläfften, und wir fuhren über Berg und Tal – zum ›Solitaire‹.
Es öffneten sich die großen Parktore; von selbst öffneten sie sich, als der Kutscher nur ungeduldig davor mit der Zunge schnalzte, und über den steinigen Sand knirschte die Karosse. Wir fuhren ein. Ernst und still standen die Bäume da, aber kein Mensch war zu sehen. Noch ein Weilchen – und da war das Gebäude. Ich stieg aus.
Ein riesiger, würdevoller Portier begrüßte mich mit strafendem Blick; er hatte einen langen Stock mit rötlich goldenem Knopf und ebensolche Nase: ein Trinkgelderpatriarch von hieratisch königlichem Gestus. Er geleitete mich in die innern Räume, mit fürstlicher Herablassung half er mir aus meinem Überzieher, noch immer sprach er nicht – dann meldete er mich beim Direktor Poestbein an.
»Herein!« sagte der Direktor Poestbein. »Guten Tag«, sagte ich.
»Wir haben hier«, sagte der Direktor, »ein Institut, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Die Weltenflucht ist immer mehr in Mode gekommen, aber niemand flüchtet richtig. Das dilettantenhafte Herumwirtschaften in der Einsiedlerei ist ein Greuel, und haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, demselben zu steuern. Nach den Vorschriften der Kirchenväter und ff. Rezepten des Original-Gautama-Buddha lehren wir die allein richtige Methode, einzusiedeln. Das Amateurtum hört auf. Es verschwinden die Sonntags-Eremiten, denen man in jedem Hain, beziehungsweise Flur begegnet, die nicht einmal die einfachsten Grundregeln des Einsiedelns beherrschen – und es treten an ihre Stelle ehrliche, wackre Professionisten unsrer schwierigen Kunst. Das Honorar für den Gesamtkursus stellt sich auf 300 Mark, inklusive voller Verpflegung und Trinkgeldern. Bitte, folgen Sie mir!«
Durch lange, graue Korridore führte mich der Direktor Poestbein; das helle Licht des Sommertages fiel gedämpft durch trübe Butzenfenster. Vor einer Tür machte er halt. »Treten Sie ein«, sagte er. Ich trat ein. Die Schulklasse erhob sich – es waren Jünglinge aller Alter. Dem Lehrer auf dem Katheder, einem zerschrumpelten Greise, machten wir eine Verbeugung. Der Direktor stellte vor: »Herr Doktor – wie war doch der werte Name? ein Besucher der Anstalt – dort der Lehrer,[280] ein Menschenfeind Doktor Schütte.« Dann nahm der Unterricht seinen Fortgang. Der Menschenfeind netzte bedächtig den Zeigefinger, fuhr in einem dicken Folianten die Seiten auf und ab und las mit monotoner Stimme den schwierigen Traktat des jüngeren Polybius Pharo über den Genuß der Einsamkeit und darüber, inwiefern der Mensch, allein seiend, erst wahrhaft glücklich genannt werden könne. Die Schüler schrieben eifrig mit. »Im Zusammenleben mit andern«, übersetzte der Lehrer, »verliert er viel (oder vieles) von seiner eigenen Aura und wird allgemein oder gradezu: gemein.« Sie schrieben – und auf Zehenspitzen verließen wir das Zimmer.
»Der Kursus ist überfüllt«, sprach draußen der Direktor. »Der Ekel an der Menschheit ist in Wahrheit übergroß. Wir werden das Honorar erhöhen müssen. Und hier«, fuhr er fort, indem er eine andre Tür öffnete, »sehen Sie das Laboratorium. Denn was wäre ein Einsiedeln, wenn der Eremit sich nicht ein Schnäpschen zu brauen in der Lage wäre?« In dem düstern Saal hockten an vielen kleinen Tischen die Schüler, darunter schon ernste Männer; sie destillierten, kochten, mischten und brodelten. Oben von der Wand sah ein Porträt des alten Mampe geruhig auf die Arbeitsstätte. Der Lehrer – ein auffallend junger Mann von ganz blasser Gesichtsfarbe und flackernden Augen – legte bei unserm Kommen ein helles Stäbchen aus der Hand und griff mit weißen, langen Fingern in einen wallenden Kessel. »Der Butterlikör, mein Herr«, sagte er zu mir mit einer sopranhellen Stimme, »da sehen Sie selbst!« An seinen Händen hing eine ölige, zitternde Masse – flaschengrün und fast durchsichtig. Ein wunderbar aromatischer Geruch zog durch den Saal. Sämtliche Schüler hörten im Augenblick mit ihrer Arbeit auf und sahen glänzenden Auges auf ihren verehrten Lehrer, dem so Herrliches gelungen war: den edlen Benediktiner derart zu verdichten, daß der Extrakt, durch Zusätze verdünnt, jahrhundertelang reichte. Bewegt begaben wir uns hinaus.
»Das war der Professor Piepgras«, sagte der Direktor. »Ein fabelhafter Mann – die heiligen Brüder in Frankreich haben ihn schon oft in feste Kondition haben wollen zur Bereitung ihrer Liköre. Aber er ist ein Patriot und geht nicht. Außerdem bekommt er bei mir mehr.«
»Und was ist dieses hier?« fragte ich, als wir zu einer hohen Eisentür kamen. »Dies ist«, sagte der Direktor, »eine wichtige Abteilung der Schule: hier werden die künftigen Eremiten versucht!«
Sie werden versucht? dachte ich. Was mag das heißen? Versucht . . . Natürlich werden sie versucht! Die Versuchung, die Versuchung des heiligen Antonius! Das war es.
»Die erste Station kann ich Ihnen zur Zeit nicht vorführen«, sagte der Herr Direktor. »Die Novizen versucht meine Frau, und da bleiben sie alle standhaft. Aber hier – was sagen Sie dazu?« und er schob einen Vorhang in der Mauer beiseite.
[281] I, sieh mal an, in der Tat! – »Was?« Er schmunzelte, seiner Anerkennung gewiß.
Die Einsiedler saßen auf Bänken im Halbkreis – halblaute, unsichtbare Musik ertönte: kleine Mandolinen klimperten, und eine Baßgitarre brummte, leicht angeschlagen, den Takt. Vor den Schülern aber stand auf einem Bein, nur mit einem Armband bekleidet, die – wie das Lehrprogramm mir später verkündete – erste Balletttänzerin vom Stadttheater zu Fürstenfeldbruck, eine zierliche Vierzigerin. Sie tat ihr Möglichstes. Sie warf die heißesten Blicke nach rechts und nach links, sie pirouettierte und vollführte dann sogar etwas sehr, aber sehr Gewagtes – es half ihr alles nichts: die Einsiedler blieben ruhig wie die Eisblöcke, ihre Augen blickten glanzlos ins Leere – apage Satanas, o nein, mein Fräulein! – Es war eine respektable Leistung.
»Wo ist der Hörsaal B?« fragte der Direktor die Tänzerin. Die schöne Sünde, die leicht nach Schwefel roch, brach ab. »Die Herren von B sind nebenan, im Versuchsraum«, sagte sie schnippisch. Wir gingen durch den Saal auf die hintere Tür zu – wieder perlten die Mandolinen, die verborgene Gitarre nahm den Takt auf, lockend sang eine kleine weiche Melodie hinter uns her . . .
»Die Herren Einsiedler vom Coetus B!« rief der Herr Direktor. Sie kamen aus dem Nebenraum, der im ›Solitaire‹ das darstellte, was in der großen Bibliothek der Stadt Paris ›l'enfer‹ genannt wird, ›die Hölle‹, wo Satan selbst seine Laszivitäten ausgespien hat; aus diesem Raum, den nur die Adoranten betreten durften, also nicht einmal ich, kamen sie heraus. Der Instruktor geleitete sie, ein fetter Mann mit blanken Jettäugelchen, der wie ausgestopft aussah: der berühmte Pornograph Peter Panter. »Darf ich die Herren Einsiedler zum Essen bitten«, sagte der Direktor.
Es war ein heiteres Mahl. Der Coetus bestand aus den Vorgeschrittneren – Menschenfeindlichkeit und gediegene Fachkenntnis hielten sich die Waage. Viele trugen bereits das kleine Einsiedlerabzeichen auf der rechten Brust. Wir aßen sehr gut, wir tranken stille Weine, die genossen werden wollten, ich lernte den jungen Herrn von Kügelgen kennen, einen tief veranlagten jungen Mann mit Idealen und einer schönen Weltanschauung. »Die Menschen«, sagte er mit schmerzlicher Betonung, »die Menschen . . . « Die Herren sprachen von dem ›Einsiedlerskat‹, der Erfindung eines ehemaligen Schülers der Anstalt – denn sein Solo muß der Eremit haben. Und wir waren fröhlich und guter Dinge, wir sangen schöne Lieder wie:
»Die Welt, die ist ein Jammertal«
und[282]
»Einsiedelmann ist nicht zu Haus,
Dieweil es Zeit zu mähen.
Ich sah ihn bei der Halde drauß,
Bei einer Schnittrin –«
»Sagen Sie mal«, fragte ich meinen Nachbarn, »studieren denn hier bei Ihnen keine Frauen?« – »Nein!« antwortete er. »Haben Sie schon einmal eine Einsiedlerin gesehen?« Ich schwieg betroffen.
Nun war es schon spät am Nachmittag geworden – der Direktor war unermüdlich. Er zeigte mir noch so vieles: praktische Übungen im Bau von Eremitagen und Felshöhlen, die Handhabung der Einsiedlerwerkzeuge, als da sind: der Ring mit dem Amethyst, das Glöcklein und der Umhängebart, weise Sprüche für den Alltagsgebrauch, die Kurse über Einklagbarkeit der milden Gaben und andres mehr.
Er zeigte mir die Übungsklause im zweiten Stock; sie wurde grade benutzt: ein frommer Mann stand gebeugten Knies mit der Geige am Kinn darinnen, und seine Lippen murmelten. Durchs Fensterlein lugte auf den Zehenspitzen der jüngere Poestbein als Engel verkleidet, ein süßes Tönen durchzog den Raum, und wir waren alle sehr zufrieden.
Und er zeigte mir vom Söller aus den weiten Blick über das gewellte Land – da und dort lagen die Einsiedlerklausen der Schule, wie kleine Tempelchen verstreut. Rauch stieg aus manchen von ihnen auf, friedlich senkte sich die Dämmerung hernieder, dort arbeiteten die Adepten an ihrer letzten Ausbildung für die große Einsiedlerprüfung. Wir stiegen hinunter.
Der Wagen fuhr vor. Ich drückte dem Pförtner die Hand, er räusperte sich befriedigt in tiefstem Baß. Der Direktor verabschiedete sich warm und herzlich. Ich dankte ihm für alles. »Nichts zu danken, mein Herr«, sagte er. »Kommen Sie einmal selbst, wenn Sie dessen da draußen überdrüssig geworden sind. Die Welt ist schal, verlassen Sie sich drauf! Und empfehlen Sie mich in Ihrem respektiven Bekanntenkreise!«
Die Pferde ruckten an, die Riemen knarrten. Durch die warme Sommernacht zogen noch einmal leise die Töne aus dem erleuchteten Haus:
»14-, 15-, 16-, 17-, 18- Siedelmann,
19- Siedelmann, 20 Seidel!«
Dann verhallten sie, und wir fuhren wieder durch den grünen Wald, nach Haus, in die böse, böse Welt.
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro