Die baltischen Helden

[181] Sollt ich einem Bauern dienen

und mein Brot mit Schweiß verdienen?

Bruder, nein, das mag ich nicht!

Ich will lieber in dem Felde

mir verschaffen Brot und Gelde,

wo man von den Waffen spricht.

Keinem Bauern dien ich nicht.

Altes Landsknechtlied


Das Etappenleben der ehemaligen deutschen Achten Armee hat schon während des Krieges das Bild einer eigenartigen, teils nomadisierenden, teils seßhaften Soldatenexistenz geboten. Alles, was auf kleinen Kommandos saß – Gendarmerie, Holzfäller, Köhler, Forstarbeiter aller Art – hatte sich in dem Lande behaglich eingenistet, und Offizier und Mann sogen mit vereinten Kräften an dem Mark des Landes, und durchaus nicht immer im Interesse des Reiches, sondern sehr oft im eignen. Nach kurzer Zeit war der Deutsche bei Balten und Letten gleich unbeliebt: die Korruption der russischen Verwaltung, der die unsre nicht nachstand, war bequemer und loyaler gewesen, und zu der großen Enttäuschung, die man über die ehemals geachteten Deutschen empfand, kam der Haß gegen eine robust einherpolternde oder klebrig galant auftretende Führerkaste. Während die Not in der Heimat stieg und stieg, lebten die deutschen Besatzungstruppen, und ganz besonders das Offizierkorps, in Kurland weit besser und reicher, als sie jemals in der ausgehungerten Heimat vermocht hätten. Nichts zog sie hierher – alles hielt sie dort.

Als der Zusammenbruch im November 1918 erfolgte, fuhr ein jäher Schreck durch die aufwachenden Formationen. Ein großer Teil der Leute, die Zuhause eine feste bürgerliche Existenz hatten, ging nach Deutschland zurück, froh, ihre gewohnte, wenn nun auch mühevolle Arbeit wieder aufnehmen zu können. Nicht so die aktiven Offiziere und diejenigen Soldaten, denen in Deutschland kein Heim winkte.

Bei der Betrachtung des kurländischen Problems ist, wie überall und immer, davon auszugehen, welchen Willens die Beteiligten sind. Politische oder gar ethische Räsonnements haben noch nie zu einem Denkergebnis geführt, das dem im Unterbewußtsein wurzelnden Willen widerspräche. Das gibt es nicht. Es kommt also bei einer Kritik der baltischen Verhältnisse nicht darauf an, was an Programmen, politischen Flugschriften und Reden der Generalstabsoffiziere verfaßt und verbreitet worden ist, sondern einzig darauf, was diese Leute eigentlich wollen.

Sie wollen ihr altes Leben weiterführen. Sie wollen fortsetzen, was sie 1914 begonnen, und durch vier Jahre getrieben haben: geschäftig zu sein, ohne stark zu arbeiten, zu disponieren, ohne eine Verantwortung[181] zu tragen (denn wie am Fall Ludendorff ersichtlich, ist diese Verantwortung ein leeres Wort) – sie wollen das Mißverhältnis zwischen Leistung und Löhnung nicht aufgehoben haben und auch fürder in einer Gemeinschaft, ja, in einem kleinen Staat leben, wie er sonst nirgends zu finden sein kann, weil er unrettbar zusammenbrechen müßte.

Die Letten, ein von den Balten kurz und proletarisch gehaltenes Volk, das die numerisch weitaus überlegene Unterschicht in Kurland ausmacht, witterten 1918 Morgenluft und versuchten, sich der Gewalt im Lande zu bemächtigen. Es ist nicht ganz aufgeklärt, welche Rolle der Bolschewismus in dieser Politik gespielt hat: sicher ist, daß die Letten nicht so menschlich wertvoll sind wie die Balten, daß sinnlose und verurteilenswerte Ausschreitungen vorgekommen sind, und daß der lettische Ministerpräsident Ulmanis keine sehr saubere Rolle in diesem Treiben gespielt hat. Aber was ging das die deutschen Soldaten an?

Ulmanis hat ihnen Land versprochen. Er bestreitet das heute. Die deutsche Regierung förderte die Werbetätigkeit der baltischen Freikorps, und Tausende liefen noch nach dem neunten November 1918 hinüber und verstärkten die dort zurückgebliebenen Scharen. Niemand kämpfte etwa aus Idealismus. Sie kämpften überhaupt wenig: sie standen in Kurland einfach, weil sie dort frei waren, gut zu essen und zu trinken hatten, hoch bezahlt wurden und fast alle wild und ohne Verpflichtung für später verheiratet sein konnten.

Von dem Geist dieser baltischen Korps ist fast nur Ungünstiges zu berichten. Die Offiziere tanzten und tranken, konnten längst nicht mehr auf Manneszucht halten und waren hauptsächlich bestrebt, die Nachkommenschaft des Landes sicherzustellen. Mit welchen Mitteln die als idealistisch ausgeschriene Befreiungstat der Besetzung Rigas ins Werk gesetzt wurde, geht aus der Forderung der sogenannten Eisernen Division in Mitau hervor: Am achten Oktober lief ein Ultimatum an die Letten ab, des Inhalts, daß sie die angeblich versprochenen zweitausend Mark für jeden bei der Einnahme Rigas Beteiligten sowie das Ansiedlungsrecht verlangten, widrigenfalls sie Riga besetzen wollten.

Diese Erpressertaktik hat mit Politik wenig zu tun. Natürlich sind die treibenden Elemente, deutsche aktive Offiziere und Balten, der deutschen Republik nicht hold und würden aus persönlichem Interesse je eher je lieber das alte Regime wieder aufgerichtet sehen. Das hält sie aber heute nicht mehr ab, sich jedem zu verkaufen, der sie gut bezahlt. Die Bolschewisten, die in Kurland fürchterlich gewütet haben, stehen höchstens eine halbe Stufe unter diesen ordnungsliebenden Elementen, und im Grunde gehören sie alle zusammen. Der Haß der deutschen Soldaten gegen die Bolschewisten umfaßt in gleicher Weise Bolschewisten, Juden, Sozialisten und eigentlich alles, was ein Landsknechtstum stören könnte, das wie ein Anachronismus wirkt, aber leider keiner ist.

Mir liegen einige Extrablätter der ›Trommel‹ vor, einer mitauer Soldatenzeitschrift,[182] und ich muß sagen: Was da jetzt – Oktober 1919 – noch im Druck erschienen ist und erscheinen konnte, läßt mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, wo wir stehen. Ich gebe Proben:

»Die Aufrufe, die die Reichsregierung auf Befehl der Entente an uns richtet, damit wir endlich zur ›Vernunft‹ kommen und unser ›Abenteuer‹ hier draußen aufgeben, hängen uns bald zum Halse heraus. Deshalb kümmern wir uns um die Regierungsaufrufe nicht – in diesen Tagen umso weniger, da es Arbeit im Felde gibt, und gilt, das lettische Hindernis aus dem Wege zu räumen, das uns verbieten will, dem roten Gesindel an den Hals zu springen.

Auf zwei Stellen der Regierungsaufrufe möchten wir dennoch kurz zurückkommen, denn sie sind im höchsten Grade beleidigend für uns. Die Regierung ruft uns nämlich zu: ›Euer Volk verhungert, der Rest seines Volksvermögens verkommt, wenn im Laufe dieses Monats die deutschen Truppen nicht aus dem Baltikum abziehen.‹ Diese Art der Einschüchterung, dieser Appell an unser Gewissen ist nichts weiter als Mache.

Und noch mit einer Frage wendet sich die Reichsregierung an unser Gewissen. Sie stellt die drohende Behauptung auf, die Entente verlangsame den Abtransport von deutschen Kriegsgefangenen nach Deutschland, weil wir gegen den Willen der Alliierten im Baltikum bleiben. Auch das ist Leim und Mache.«

General von der Goltz hat bekanntlich an den englischen Oberkommandierenden eine Antwort auf dessen Forderungen gerichtet, die politisch ungewandt und falsch war, weil sie mit nicht vorhandener Macht drohte. Der ›Kladderadatsch‹ besang diesen faux pas in hallenden Versen, und die ›Trommel‹ freut sich über den ›Kladderadatsch‹:

»Die mannhaften Worte des Grafen haben in Deutschland gezündet, haben Begeisterung ausgelöst. So sehr hungert man in Deutschland nach Gesinnung und Stolz, daß man selbst dem Brief unsres ehemaligen Führers die Bedeutung einer Tat beimißt. Gemach, ihr Volksgenossen in der Heimat, euch wird geholfen werden! Die Worte haben die Tat eingeleitet, und die Tat wird Graf von der Goltz sicherlich tun, wenn der Augenblick dazu gekommen sein wird.«

Welche Tat, ist nicht gesagt; jeder mag sie sich ausmalen. Die Moral dieser Truppe aber mag das folgende Gedicht aus der ›Trommel‹ illustrieren:


Die Sonne blinkt golden, der Himmel ist blau,

und doch stehen wir drin im Oktober.

Leb wohl, süßes Mädel! Leb wohl, kleine Frau!

Und grüßt mir unsern Heuschober!


Der Hauptmann verlas heut den Tagesbefehl:

»Marsch–marsch gegen den Bolschewiken!«[183]

Wir bleuen ihm die Jacke, wir schießen nie fehl

und klopfen ihm dann auf den Rücken.


Den Sommer durch lagen wir gern im Quartier

und griffen manch Mädel ums Mieder;

doch wir sind Soldaten, nicht Puppen zur Zier.

Vom Rasten rosten die Glieder.


Ich nehm die Patronen und lad mein Gewehr.

Platz da, du Sau-Bolschewike!

Es pfeift meine Kugel, der Kerl fällt verquer,

ich treff in den Kopf jede Mücke.


Potzbombengranaten! Potzschockschwernot!

Nun schert euch zum Teufel, ihr Luder!

Ihr stehlt unserm Herrgott jedes Pfund Brot,

solang eure Juden am Ruder.


Nie wart ihr Soldaten, ihr Helden vom Maul,

nur Meuchelmörder und Räuber,

eure Knobloch-Regenten, stinkend und faul,

sind Schuster und allerhand Schreiber!


Wir weisen euch, Schuster, den würdigen Platz

und stellen euch an die Wände . . .

In Petersburg sind wir mit mächtigem Satz

und schütteln dort Brüdern die Hände.


Neben den zurückgebliebenen Fliegerabteilungen, die ihre alten Nummern weiter führen, haben sich in Kurland – wie aus einem Aufruf des Kapitäns Siewert an »die Kulturvölker der Erde« im vierten Exrablatt der ›Trommel‹ hervorgeht – Truppen und Freikorps mit meist adligem Namen gebildet, und aus diesen kleinen Kontingentsbildungen ist am besten zu ersehen, wohinaus das Ganze will.

Dieser Militarismus baut seine Waben unermüdlich, eine an die andre, und zeugt sich selber fort; maßgebend ist allein das menschlich verständliche Bedürfnis, Führer- und Adjutantenposten zu bekleiden, möglichst unabhängig zu sein, sich nicht zum willenlosen Kettenglied degradieren zu lassen. Es ist den Postenmachern auch gleichgültig, welche Folgen ihre verderbliche Abenteuerlust für das Land haben kann. Von jeher ist es Grundsatz des altpreußischen Militarismus gewesen, zunächst einmal sich als einen rocher de bronze zu stabilisieren: die Mitwelt mochte sich dann mit dem Fremdkörper irgendwie abfinden. So hier. Gewiß sind diese kurländischen Truppen, die auch heute, am[184] dreiundzwanzigsten Oktober, noch nicht zurückgekehrt sind, korrumpiert. Aber es ist nicht richtig, sie als gänzliche Außenseiter des militärischen Systems zu betrachten. Sie sind seine natürliche Frucht.

Und dies scheint mir die schreckliche Lehre dieses kurländischen Abenteuers zu sein, eine Lehre, die unsre Regierung nicht ziehen kann und nicht ziehen will. Wir haben genug versteckte Kurländer im Lande: die Reichswehr, die Sicherheitspolizei, Teile der Einwohnerwehr. Die monarchistische Putschgefahr wird von den deutschen Radikalen stark überschätzt, die geistige Gefahr ebenso stark unterschätzt. Was hier droht, ist nicht ein so dicker und plakathafter Fall, wie die Landsknechte im Baltenland ihn bieten; was hier droht, ist ganz etwas andres.

In der Regierung sitzt zur Zeit kaum ein Mann, der weiß, was der Militarismus auf geistigem Gebiet bedeutet, und wie man einen geistigen Kampf gegen ihn inszenieren kann. Ich halte es nicht für meine Aufgabe, in einem Blatt wie diesem ernsthaft über Herrn Noske zu debattieren. Wenn wir die Ritterkaste bekämpften, so meinten wir damit nicht, daß ein Wachtmeister die Führung übernehmen solle. Die Bürger laufen heute, von der Rentenpsychose getrieben, zu jedem, der ihnen Schutz vor Verdienstminderung verspricht; sie halten sich, wie früher, bissige Hofhunde und wundern sich dann später, wenn die nach ihren Herren schnappen.

Die Regierung hat drei Vierteljahre lang die Öffentlichkeit über das kurländische Abenteuer hinweggetäuscht und zweimal bewußt die Unwahrheit gesagt: einmal hat sie eine Grenzsperre angekündigt, die nicht vorhanden war, und das zweite Mal eine Abberufung des Generals von der Goltz proklamiert, die nicht ausgeführt wurde.

Kurland ist ein Stoffmuster des großen Tuchballens der Republik: die Regierung zage, die Offiziere wacker zugreifend und das Ganze eine Katastrophe in der äußern Politik. Muß man in Deutschland als kommunistischer Unabhängiger verschrieen sein, weil man leidenschaftslos und kühl-objektiv die Wahrheit sagt?


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 23.10.1919, Nr. 44, S. 500.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 181-185.
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