Ein Deutschland!

[7] Feierlich treten wir nunmehr in das Jahr 1919,

und es freut uns, daß wir allhier versammelt Feind und Freund sehn;

unserm tierischen Gehaben entsprechend wollen wir sie beschnuppern und betrachten,

und, je nachdem, beißen oder auf den Popo klapsen oder schweigend achten.


Wie ist das zunächst mit Oberschlesien?

Sind da die Herren Schwarzröcke im Spiel gewesien?

Oder markieren alldort die lieben Polen

den Teufel, der die Deutschen will holen?


Es knistert aber nicht nur an dieser Stelle im Reiche;

im Rheinland beobachten wir ganz das gleiche:

auch hier möchte man sich selbständig machen, und nicht minder

partikularistisch erglänzt der Vereinszylinder.


Und es ertönt die alte deutsche Musike:

Wir wollen unsere eigene kleine Republike!

Zweitausend Jahre alt ist diese Melodie –

und es scheint fast so, als lernten die Deutschen es nie.


Haben sie denn nicht begriffen, was vor sich gegangen?

Fühlen sie nicht im Osten und Westen die klemmenden Zangen?

Müssen sich denn die Deutschen immer untereinander zanken

und von Kürassierstiefel zum Schlafrock hin und wider wanken?


Ein Deutschland! Soll das niemals anders werden?

Ein Deutschland ohne diese lächerlichen Bürgergebärden –

Ein Deutschland! Freunde, seid klug und gebt euch die Hand!

Wir pfeifen auf schrilles Hurrageschrei. Wir brauchen

ein Vaterland!


  • · Theobald Tiger
    Ulk, 05.01.1919, Nr. 1.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 7.
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