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[115] Wenn wir Raabe und Storm und Keller und Fontane lasen, so bemerkten wir, uns umsehend, wie wenig doch das neue Deutschland noch mit diesem vergangenen guten da zu tun hatte: die alten Herren erzählten von Zügen feinster Menschlichkeit, und über den staubigen Asphalt der Gegenwart kullerten wild gewordene Petroleumschieber und solche, die es werden wollen. Stetigkeit? wir haben keine Zeit; Charakter? wenn darunter die Zähigkeit verstanden werden mag, Geld und unter allen Umständen Geld zu verdienen, dann ja – und Boden unter den Beinen? eine Mietswohnung, und alle paar Jahre eine andre. Und das Elend war fertig.
Es ist nun ganz merkwürdig, zu beobachten, wie die Deutschen, die die Geschichte und der Zug der Welt vom Vaterlande abgesplittert hatten, sich im Ausland alles oder nichts bewahrten, sich zu immer bessern Deutschen fortentwickelten oder ganz und gar in den fremden Volksteilen aufgingen. Verloren wir sie, so war das kein Wunder bei einer Politik, die in den Landsleuten nur Untertanen und Objekte zum Regieren sah – behielt sie auch das Land nicht, so zogen sich doch hie und da spinnewebdünne Fäden vom Mutterboden zur fremden Kolonie, die auch die Jahrhunderte nicht zu zerstören vermocht hatten.
Kurland. Was wußten wir von Kurland? Bis zum Kriege nicht eben viel. Daß da, ein paar hundert Meilen von uns fort, Deutsche der edelsten Art lebten und litten, mit hartnäckiger Zähigkeit an einem Deutschland und zu einem Deutschland hielten, das es längst nicht mehr gab – wer wußte das? Sie hätten sich nicht schlecht erschrocken, die deutschen Balten, wenn sie das deutsche Kaiserreich wilhelminischer Prägung in seinen Bund aufgenommen hätte: die Rohen die Feinen, die[115] Hastigen die Stillen, die Oberflächlichen die Sorgfältigen. Und als der Krieg das Land in den Bereich der Zeitungsleser rückte –
Man braucht sich nur vorzustellen, wie der verstorbene Dichter Eduard Graf Keyserling in einem neupreußischen Offizierskasino gewirkt hätte, so kann man sich diesen Zusammenklang von Preußen und Kurland denken. Ich möchte nun hier einfügen, daß ich mich in diesem Aufsatz ausschließlich mit der kulturellen Seite der baltischen Frage beschäftige: meine Kollegen von der hohen Politik mögen ergründen, was dort politisch vor sich geht. Es ist das nicht ganz einfach. In die zwei großen Strömungen, die im Lande auf- und niederwogen, hat der deutsche Okkupationsoffizier mit harter Hand eingegriffen: er unterstützte natürlich die baltischen Barone, die durchaus nicht immer zweifelsfrei zum Deutschtum gehalten haben, sondern auch ein wenig Opportunisten gewesen sind. Sie sind weder so engelsrein, wie sie das Auswärtige Amt im Kriege hinmalte, noch solche erzreaktionären Ketzer, wie die Unabhängigen von heute in ihnen sehen. Aber freilich: es sind Konservative, oder wir würden sie wenigstens so nennen.
Ja, aber wie ging es nun mit den einrückenden Deutschen in Baltenland?
Wir wurden mit offenen Armen aufgenommen. Aber ich muß doch sagen, daß ich schon anfangs das Gefühl hatte: Flitterwochen. Hier verstanden sich zwei nicht ganz. Wir hatten sie von den Russen ›befreit‹ – nun, mit diesen Befreiungen ist das so eine Sache; man begrüßt oft den neuen Mann schon aus lauter Freude über die Abwechslung . . . Allerdings, die Russen hatten es, besonders seit dem Jahre 1905, sehr toll im Lande getrieben, sie hatten eine groß angelegte Russifikation mit allen Kräften ihrer verwaltungstechnischen Rücksichtslosigkeit durchgeführt, und die Balten sehnten sich nach ihrer alten Ruhe. Auch nach uns? Das wird sich zeigen.
Als Riga im Jahre 1917 von den Deutschen besetzt wurde, stand die Stadt vor lauter Glückseligkeit auf dem Kopf. Ein Jahr später war sie wieder in ihre normale Lage zurückgekehrt: wir hatten kolonisiert – und mit dem gewohnten Erfolg.
Der Deutsche kanns nicht. Ob ers überhaupt nicht kann, oder ob es nur an der Mustersammlung seiner übelsten Typen lag, die wir da in unserm Offizierkorps den Fremden vorführten: genug, wir waren nach einem Jahr Reglementierens, Paragraphierens, Regierens reichlich unbeliebt, so unbeliebt, daß man die deutsche Okkupationsmacht zwar politischen Zwecken nutzbar zu machen versuchte, sie aber – und das ist natürlich – nur noch grade dem Bolschewismus vorzog.
Diese Dinge muß man wissen, wenn man das kleine Büchlein ›Baltische Bilder‹ von Hans Vorst (erschienen im Verlag Der Neue Geist zu Leipzig) recht verstehen will.
Über Kurland ist viel und vielerlei in diesem Kriege geschrieben[116] worden: es gibt hübsche Bildersammlungen und Feuilletons und dicke Wälzer – aber keines ist so unmittelbar aus dem Herzen geschrieben wie dieses Buch eines Balten. Der ganze Reiz einer unrettbar verlorenen Kultur dieses Grenzvolkes ist in dem Büchelchen eingefangen – es war, als ob sich an einem toten Ast noch einmal eine herrliche Blüte entfaltete. Wie die Siebenbürger Sachsen die besten Seiten des guten alten Deutschtums, das hierzulande längst untergegangen ist, fortentwickelt haben, so gab es in Kurland noch das deutsche Landleben aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Nur ist der Landbewohner niemals ein ›Onkel aus der Provinz‹, weil er mit den großen Städten, wie Riga und Dorpat, in reger Verbindung stand, und weil er sehr viel las und sehr viel wußte. Das Buch über den großen Chirurgen Ernst von Bergmann, auf das sich auch Vorst bezieht, erzählt mehr von diesem eigenartigen Leben auf dem baltischen Lande. (Es ist von A. Buchholtz verfaßt und bei F. C. W. Vogel in Leipzig erschienen.) Man war ein bißchen spießig, aber sehr solide und in allen Dingen des äußern Lebens von einer erstaunlichen Kultur, wie sie auf dem Lande fast nur noch in England zu finden ist; man war beharrend (ich möchte absichtlich das Wort ›konservativ‹ vermeiden), aber doch auch rege und voll Interesse für alles, was Kunst und die Wissenschaften hergaben – man war fromm, dabei frisch und stark und gleich weit entfernt von diesem entsetzlich altjüngferlichen Protestantismus mit den zusammengekniffenen Lippen wie von dem frechen Monismus der großen Städte, in denen der Koofmich ›uffjeklärt‹ war und alles besser, viel besser wußte . . . Mit einem Wort: es waren Menschen. Richtige lebendige Menschen.
Das ist dahin. Die Deutschen, die in den Okkupationsjahren das Land bereisten, sahen es als zukunftsreich an, und es mag ihrem Urteil überlassen bleiben, ob es ein politischer Segen für das Land geworden wäre, wenn die dünne Oberschicht der sechshunderttausend Balten ihren früher aussichtslosen Kampf gegen die bäurischen Letten und gegen die Russen in einen Sieg verwandelt hätte. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß der feine Reiz des Landes endgültig dahin ist, wenn die fade Reichssauce sich über Felder und Auen ergießen wird. O, gewiß! da ist ›noch so viel zu machen‹: Kattunreisende und Lokalredakteure, brave Theaterdirektoren und Städtebauer, Organisatoren (solche, die immer und überall ein ›Amt‹ gründen müssen) und Truppenlagerkommandanten – sie alle hätten ein bequemes Auskommen in diesem Lande gefunden, das seine Bewohner nicht zur Hälfte ausgenutzt hatten. Was lag da alles brach!
Was aber nun wird, das weiß kein Mensch. Wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, ist vielleicht in großen Zügen entschieden, wer einmal da oben sitzen wird. Wir? Die Slawen? Wer weiß es.
Und haben sie auch die Kultur fast entzwei geschlagen: eins können[117] sie nicht morden, und das ist die landschaftliche Schönheit des Landes. Es ist, wie wenn der liebe Gott einmal hätte zeigen wollen, wie man es machen muß: alles ist so klar und sauber und eindeutig und so unsagbar deutsch. Es ist fast, als sei Deutschland eine Skizze, und Kurland, das sei erst das fertiggestellte Werk. So blau der Himmel und grün die großen Wälder und klar die Luft – weit wellt sich das Land, Städte siehst du auf Meilen und Meilen nicht, nur hier und da Gehöfte, kaum Dörfer, und dann und wann eines dieser herrlich einfachen, vornehmen, versonnenen kleinen Schlösser . . . Das ist Kurland.
Wieviel sie aber auf der Welt dadurch zerstören, daß sie die Ruhe zerstören, das sieht man aus dem Kapitel ›Kinderglück‹. Das Leben, das da bei Hans Vorst vom kleinen Peter geschildert wird, wünschte ich uns allen, aber es ist wohl schon zu spät . . . Wie ausgeglichen ist da alles, wie fundiert, wie ein für allemal bestimmt und wie hübsch! Da ist Ostern noch ein richtiges Fest mit bunten Eiern, da ist Mittagessen noch eine bedeutsame Angelegenheit – und schließlich ist es, wie Tantchen zu Mama sagt: »Mathildchen, bei Ihnen ist alles so soigniert!«
Und du? Wo magst du jetzt sein? Damals, als ich dich kennen lernte, wolltest du mit aller Gewalt aus Riga fort und aus diesem Lande, das dir so klein erschien und so eng. Und ich lächelte und sagte, du wüßtest gar nicht, was du da an Kurland hättest. Steck einmal die runde Nase in unser Deutschland, und du wirst erschrocken zurückprallen. Weißt du, was du an deinem Heimatlande gehabt hast, kleine Dame? Komm und laß es dir von dem alten Bauerndichter Christian Wagner sagen, der Kurland nicht gekannt hat, aber wohl den Segen eines stillen Jugendlandes:
Was kündet dir von ihrem Baum Frau Holle?
Das reinste Glück hängt an der Heimatscholle.
Aus diesem Baume sprechen deine Ahnen,
Sie wollen dich zum Bleiben hier gemahnen.
Das Vaterhaus, von Holder übersponnen,
Wird bergen dir den reichsten Liebesbronnen.
Dies niedre Dach, verhängt von Blütendolden,
Gerät dir wohl zu einer Halle golden.
Denn nicht die Arbeit birgt sich drin von heute,
Auch des Vergangenen ferne Siegesbeute.[118]
Es haust ein Ahnherr drin, ein grauer Alter,
Es wohnen Geister drin als Hausverwalter.
Was das Geschlecht zusammen sich gewoben,
Dir, ihrem Enkel, ist es aufgehoben.
Das war einmal, Blonde, und über all das hinweg geht eine neue Zeit.
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