Eindrücke von einer Reise

[175] Ich komme aus der Provinz, habe ihre Zeitungen gelesen und mich mit Leuten unterhalten, die ich sonst nicht zu sehen bekomme. Was zunächst auffällt, ist die gänzliche Unberührtheit des gesamten Mittelstandes von irgendwelchen neuen Gedanken. Diese kleine Umwälzung ist ganz und gar ohne das Bürgertum gemacht worden, ja, unter verdrossen-ärgerlicher Ablehnung der mittlern Schichten unsres Volkes.

Es gibt jetzt viele Verteidiger des deutschen Bürgertums, ja, es ist gradezu Mode geworden, den modisch-verlästerten Bourgeois damit zu verteidigen, daß man ihn gegen die wilden Empörer als Inkarnation aller Tugenden aufstellt. Ich habe von diesen Tugenden nicht viel gesehen. Es hat niemand geleugnet, daß menschliche Anständigkeit auch in diesen Kreisen so Zuhause ist wie anderswo – aber der Stand hat ein Beharrungsvermögen, das man mit dem eines Gallensteins vergleichen darf. Betrachten wirs im einzelnen.

Der Krieg. Diese Leute wissen gar nichts, außer dem, was das Kriegspresseamt unter Ludendorff ihnen mitzuteilen für gut befand. Ich sprach eine gutsituierte Dame aus dem Norden. »Warum graben nur die Leute alle die Kriegsgreuel noch einmal aus?« Ich erwiderte: »Um die moralische Atmosphäre zu reinigen. Was sagen Sie zu der sittenpolizeilichen Untersuchung anständiger Frauen in Lille durch deutsche Soldaten?« – »Ist das wahr?« fragte sie. Sie hatte nie davon gehört. Daß es überhaupt gewichtige Zweifel an der deutschen Harmlosigkeit im Kriege, an der deutschen Reinheit, an der Politik der Kaiserberater gibt, wissen sie kaum. Die Regierung hat in zehn Monaten keine Zeit gefunden, sie darüber aufzuklären.

Es ist ein durchaus nachbismärckisches Geschlecht, das da lebt und[175] webt –: Untertanen jenes Herrschers, der, wie kaum ein zweiter, die deutsche Kultur veräußerlicht, untergraben und zerstört hat. Jetzt haben wir die Folgen.

In diesen Köpfen besteht die merkwürdige Gabe, zwiefach zu denken: privat und offiziell. Es ist falsch, wenn behauptet wird, der Deutsche belüge andre Leute über amtliche Vorgänge: er belügt sich selbst. Die Entstehung von offiziellen Aktenstücken und Berichten kennt jeder – in dem Augenblick ihrer Fertigstellung sind sie über allen Zweifel erhaben und werden starr geglaubt. Vor der Gemeinderatssitzung wird gewühlt und geschoben, geflüstert und gedreht – nach dem Beschluß gehen die Herren mit unbewegten Mienen kalt auseinander. Die Motive sind vergessen, obgleich sie die Hauptsache waren.

Das Militär. Sie schwärmen für das Militär. Sie tun das zunächst aus sehr gewichtigen Gründen, denn es macht sich gut bezahlt. Es ist kaum glaublich, wie viele Leute noch heute, bei diesem Finanzenstand, bei diesem Elend, bei diesem Jammer, vom Staat Lohn für irgendeinen imaginären ›Dienst‹ beziehen. Ich kenne die Kunst, sich Stellen einzurichten. Aber ich muß doch sagen, daß die Soldaten im Kriege Stümper gegen die Friedensheroen sind. Lösen die Behörden einen Stab auf, dann tut er sich als ›Abwicklungsstelle‹ wieder auf; erweist sich die Tätigkeit einer Kriegsorganisation als überflüssig, dann wirkt sie als Übergangsorganisation, als Friedensgesellschaft weiter. Und wozu hätten wir denn die ›Bolschewisten‹? An dem verkleinerten, schwankenden Boot des Militärstaates hängen Hunderte, Tausende, Zehntausende zweifelhafter Existenzen, die, zu faul und zu feige und auch wohl zu unfähig, im bürgerlichen Leben den Kampf mit dem Dasein aufzunehmen, den Staat in räuberischer Weise belasten. Das wimmelt noch von Adjutanten und Kommandeuren und Führern und Gruppenkommandanten. In vielen kleinen Städten laufen so viele Soldaten herum wie in den Mobilmachungstagen. In Bürgergesprächen tauchen Vettern auf, die da und dort ›stehen‹, als Fähnriche, als Feldwebel, als Offiziere; es muß ein auskömmlicher, ein bequemer, ein gefahrloser Beruf sein, der Beruf eines Soldaten von heutzutage. Und die Bürger finden das durchaus in der Ordnung. Schützt doch diese Garde, vermeinen sie, ihre Geschäfte. In welchem Geist sies tut, das ist ihnen so gleichgültig, wie ihnen dieser Geist unter Wilhelm dem Zweiten gleichgültig war.

Es scheint, daß Knechte einen Herrn brauchen. »Meinen Sie«, steht einmal bei Panizza, »daß ein Volk, welches jahrhundertelang gefrondet wurde und in der Fron sich wohlbefand, jemals aus eignem Antrieb den Blick zum Himmel erheben werde, jemals den Kopf aufrecht tragen lernen werde? Daß aus Ägyptern jemals Römer werden?« Wohl kaum.

Die Einwohnerwehren, ursprünglich als Schutz gegen die allgemeine Unsicherheit gedacht, fangen langsam an, wie die Pflanzschulen des alten Militärgeistes den Unflat aufzubewahren, dessen Ausrottung wir so[176] herbeisehnten. Wer von uns hat denn bestritten, daß Ordnung sein müsse, und wer will denn unsern Landsleuten das Recht nehmen, ihr Privateigentum gegen Einbrecher zu schützen? Untrennbar aber ist beim Deutschen von diesem Zweig menschlicher Tätigkeit der Drang, andre zu unterdrücken, untrennbar eine Versklavung, die aber immer noch die Möglichkeit eines weitern Druckes nach unten offen läßt – wir sind gar nicht mehr fähig, Pflichterfüllung und Persönlichkeitskultus, der sich in eigner Überhebung ein nicht mehr vorhandenes Mittelalter vortäuscht, auseinanderzuhalten. Dazu kommt, daß die Einwohnerwehren heute schon halb politisch sind: noch ein paar Jahre – und sie sind es ganz; noch ein paar Jahre – und wir haben sie obligatorisch; noch ein paar Jahre – und Ludendorff kann zufrieden sein.

Die Revolution. Man spricht ungern von ihr. Und wenn, mit unverhohlener Verachtung. Sie ist selbst daran schuld – denn sie ist keinem ernstlich zu Leibe gegangen. Kämen ihre Gegner heute ans Ruder: wir erlebten in Deutschland eine Menschenschlächterei, von der Liebknechts und Landauers Ermordung ein unzureichender Vorgeschmack war. Der Haß der besitzenden Schichten gegen den Arbeiter ist ins Grenzenlose, ins Erschreckende gewachsen. Mit Feuer und Schwert würde dieser Stand unter seinen Gegnern wüten, käme er heute wieder hoch. Er würde reinen Tisch machen. Die ›Revolutionäre‹ krümmen keinem ein Haar, erlauben verbrecherischen Offizieren frei herumzulaufen, und lächeln freundlich, wenn sie davon hören, daß insgeheim die Korps Proskriptionslisten ausfertigen. Ist das komisch? Mir fehlt der Sinn für diese Komik.

Die geistige Struktur dieses Bürgertums ist traurig. Sie bewegen sich in den Ausdrucksformen, Ideen, Gedankenkomplexen und auf den Lebensgrundlagen ungefähr einer Opportunitätsphilosophie der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Kulissen sind neu, die Schauspieler alt. Unten rumort und gärt es – sie mögen das nicht hören, sie hoffen, es werde auch im neuen Reich mit Wasser gekocht (es wird leider nur mit Wasser gekocht), sie erspähen kleine Ritzen, um durch Vorschriften zu schlüpfen, und wissen sichs so einzurichten, daß die Praxis, das tägliche Leben in gar nichts vom guten schlechten Alten abweicht. Und man läßt sie gewähren.

Die Presse. Ihr Glaube an ihre Presse ist bewundernswert. An dieselbe Presse, die sie vier Jahre lang mitbelogen hat; man müßte glauben, ihr Vertrauen wäre wankend geworden durch die Ereignisse, die so gar nicht mit den Leitartikeln übereinstimmten. Nichts dergleichen. Sie schwören auf ihr Blatt.

Rührend ihre fingerfertige Geschicklichkeit, mit vorher feststehendem Resultat Denkarbeit zu leisten. Man beweist sich ja nur das, was man glauben will – und die abenteuerlichsten Windungen dünken sie gut, wenn sie zum gelobten Land der Verdienstmöglichkeiten führen.

[177] Am traurigsten die Jugend. Was da heranwächst, läßt die schlimmsten Befürchtungen wach werden. Immer wieder ist mir begegnet, daß um den runden Tisch herum die Ältern noch allenfalls, hier und da, ein klein wenig, herber Kritik zustimmten. Aber die Jungen? Begeisterte Leutnants, begeisterte Regierungsreferendare, begeisterte Anhänger eines Systems, das der Jugend Ideale aus Gips gab (während die Neuen allerdings nicht einmal dergleichen zu vergeben haben). Wehe der Jugend, die nicht einmal in ihren Jahren umstürzlerisch gesinnt ist – hat einmal in diesen Blättern gestanden. Wo ist unsre Jugend? Ist sie das, das? Dann habe ich keine gesehen.


Wissen unsre oppositionellen Staatsmänner und Publizisten nicht, was in der Provinz vorgeht? Auf dem flachen Lande und in den kleinen Bergdörfern? In den Organisationen und Gruppen, die nicht vom Arbeiter gezwungen werden, wenigstens ein wenig nach links zu rücken? Wissen sies nicht?

Dies scheint mir der schwerste Fehler unsrer Opponenten zu sein: sie sind theoretisch den Ereignissen weit voraus. Unsre jungen Leute in den großen Städten haben (stellenweise) den Himmel gestürmt, aber auf der Erde haben sie nicht viel zu sagen. Man ist in literarischen Vereinigungen, in politischen Zirkeln, in Zeitungen und Zeitschriften ultraradikal, schwankt zwischen Kommunismus und Räte-Republik, und wir halten noch nicht einmal bei einer einigermaßen durchgeführten Demokratie. In Berlin liest man Toller, in Göttingen Dietrich Schäfer. Mit Pathos allein ist da nichts zu machen. Was fehlt, ist die Kleinarbeit und der Mut zum Trivialen.

Es kommt hinzu, daß die Beharrenden und die fortstrebenden Schichten in Deutschland in fast gar keinem Zusammenhang stehen. Es sind zwei Welten. Noch hat selbst die Futterkrippe des Staates die Überzeugungen nicht zu beeinflussen vermocht, denn alle die da halten den gegenwärtigen Zustand für etwas Vorübergehendes und hoffen auf ihre Zeit.

Der Herausgeber dieses Blattes erhielt jüngst einen Brief, darin stand: »Neulich gehe ich mit einer ältern Offiziersfrau auf der Straße, ein Wägelchen kommt vorbei, in dem einfache Leute spazieren fahren. Da faßt die Dame entsetzt meinen Arm: ›Sehen Sie nur! die Sorte fährt jetzt spazieren – wir, die wir eigentlich in dem Wagen sitzen müßten, haben kein Geld dazu und müssen laufen!‹ Der älteste Sohn dieser Dame ist Major und beim sogenannten ›Ortsschutz‹. Das heißt: er lebt kreuzfidel im Schloß von F., hat alle vierzehn Tage mindestens acht Tage Urlaub und sitzt mehr in der Bahn als im Dienst. Aber Uradel und . . . ›Wo mein Sohn doch im Korps immer Page war . . . ‹ Das ist ihr drittes Wort.«

Aber nicht ihr letztes.[178]

Wir Deutschen sind ein merkwürdiges Volk. Es ist schon viel, wenn so mit einer großen Handbewegung revolutioniert wird. Ins einzelne geht niemand. In den Amtsstuben, in den Behörden des Landes, in den Arbeitshäusern und militärischen Dienststellen, überall da, wohin die Großstadt nicht reicht, herrscht guter alter Friedens- und Kriegsbetrieb, und während sich die Intellektuellen der Städte in Phantasien erschöpfen, arbeitet dort das alte Preußen, der alte Ungeist, die alte Gesellschaft.

Über allen aber, über den Beharrenden und den falschen Radikalen, den ungefährlichen Radikalen, schwimmt strahlend und im Speck glänzend der Kaufmann der neuen Zeit, zu unrecht Schieber genannt (denn er läßts fahren), kümmert sich den Teufel um Prinzipien und alte und neue Formen und macht die Geschäfte, die ihn eine stark beschäftigte Regierung machen läßt.

Der Bürger haßt in noch ohnmächtiger Wut den Arbeiter und sieht dem Mann im Speck zu und beneidet ihn und eifert ihm nach – der Arbeiter eifert ihm nach und beneidet ihn und bekämpft den Bürger und läßt die Schlimmsten laufen. Wir aber suchen vergeblich nach einer Gedankenrevolution, haben eine Reise getan, wußten was zu erzählen und gehen in einen berliner Winter, der wohl der schauerlichste unsres Mißvergnügens werden wird.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 16.10.1919, Nr. 43, S. 473.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 175-179.
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