Der Ausweis

[367] »Die Losung, Bursche!«

»Hie gut Brandenburg allewege!«

»Passiert!«


Wenn der Deutsche mal irgendwo hingehen muß, braucht er einen Ausweis. Es gibt in diesem Lande wahrscheinlich überhaupt kein Haus und keinen Raum, für die man nicht einen Ausweis brauchte. Der Vorgang ist immer derselbe: den ahnungslosen Wanderer überfällt[367] ein barscher Mann, knurrt ärgerlich: »Ausweis?« wirft die Leute ohne den Fetzen Papier wieder zurück und läßt die Leute mit dem Fetzen Papier ins gelobte Land. Wo bekommst du einen Ausweis her?

Um einen Ausweis zu bekommen – manchmal heißt der Ausweis Paß oder Anmeldeschein oder Passierkarte oder Personalpapier – um einen Ausweis zu bekommen, mußt du in Deutschland in ein Büro gehen. In dem Büro sitzt ein Mann, der frühstückt. Du klopfst vorsichtig an, gehst leise herein (daß du dir nicht die Stiefel vor der Tür ausziehst, liegt nur daran, daß du noch nicht genügend Chinese bist), siehst dich unendlich ehrfurchtsvoll im Heiligtum um und wagst endlich, den Mund aufzumachen: »Guten Tag!« Nichts. Der Beamte klappt seine Stulle auf. Käse. Mutter hätte auch . . . Der Beamte ist ärgerlich. Du sagst nichts. Eine dicke Fliege stößt sich den Kopf an der Fensterscheibe. Nach einer langen Weile bekommst du eine revolutionäre Wallung und machst: »Rhm!« – Gar nichts. Nach einer längeren Weile wendet der Käsemann den Kopf, sieht dich, der du ärgerlich hinter der Schranke aufgebaut stehst, vorwurfsvoll an und hebt den Kopf mit einem Geräusch, das ungefähr ›He‹ heißen kann. Du sagst deinen Vers auf. Du wolltest, sagen wir, nach Schlesien fahren und einen ausgestopften Bernhardiner mitnehmen und deine alte Tante, und du brauchst dazu eine Ausfuhrbewilligung und eine Einreiseerlaubnis und einen, Herrgottnichtnochmal, einen Ausweis.

Die Tragödie beginnt. Der Käsemann macht dir soviel Schwierigkeiten, bis dir die Lust vergeht, in deinem ganzen Leben je noch einmal nach Oberschlesien zu fahren, und bis deine alte Tante und der ausgestopfte Bernhardiner gänzlich von den Motten zerfressen sind. Du hattest dir das so einfach gedacht – aber der Mann belehrt dich eines bessern. Ungeheuerer Kummer türmt sich vor dir auf: denn welchen Zweck hätte sonst das Dasein des Mannes hinter der Schranke, wenn er dir keinen Kummer machen könnte? Nach unendlichem Gewürge bekommst du einen Ausweis.

Spaß beiseite. Besonders seit dem Kriege ist über Deutschland eine Ausweisseuche hereingebrochen. Im Felde war es eine der leichteren Leutnantskrankheiten (die schwereren wurden mit Salvarsan behandelt), für all und jede Tätigkeit des Muschkoten die Notwendigkeit eines Ausweises vorzuschreiben. Der Mann wollte aus der Kammer ein paar Hosen empfangen? – Ausweis. Ein Unteroffizier wollte Krähen schießen? – Ausweis. Ob man ohne Ausweis sterben durfte, stand dahin, aber sicherlich hat eine Tafel gefehlt: ›Das Betreten des Kriegsschauplatzes ohne Ausweis ist verboten.‹ In den meisten Fällen wickelte sich im Felde die Sache so ab, daß man den verlangten Ausweis auf den Büros nach langem Hin und Her ziemlich anstandslos bekam, so daß es also eigentlich auf dasselbe herauskam, ob jeder Mann einen gewissen Waldsaum passierte oder ob alle Leute erst dem[368] Schreiber das Leben sauer machten. Auf diese Weise wurde unendlich viel Papier verschmiert und Zeit vertan.

Denn abgesehen von der Wichtigkeit, die jede deutsche Dienststelle aus sich zu machen gewohnt ist, abgesehen davon, daß ein großer Teil dieser Brillennation seinen Dienst nur im Zimmer zu leisten imstande ist – und wenn kein Dienst da ist, dann macht sie einen –: abgesehen davon sind die preußischen Gehirne in der Tat so konstruiert, daß sie ohne umständliche Listen, Registraturapparate und den – Ausweis nicht auskommen können. Wie bekannt, sehen englische Hauptbücher viel einfacher aus als deutsche, und das Geschäft geht drüben auch. Was den Leuten hier fehlt, ist der gesunde Menschenverstand. Dafür haben sie den Ausweis.

Ein Teil des kriegs- und zwangswirtschaftlichen Systems ist so eine Ausweisangelegenheit, und das Lustigste und Traurigste daran ist, daß die ›Behörden‹ genau wissen, daß sie den Tintenkampf mit dem Leben immer verlieren, den praktischen Anforderungen des Tages doch nicht gerecht werden, und daß ihnen letzten Endes alle Schieber durch die Lappen gehen. Wen triffts denn? Den Dummen. Die Geschickten haben immer einen Ausweis. Woher? Sie haben ihn.

Die Ausweiskrankheit sitzt diesem Volk tief in den Knochen. Hervorgerufen ist sie durch den unseligen Drang der Bürger, immer und überall Behörde zu spielen. Wenn sich sechs sonst gescheite und vernünftige Leute in Deutschland zusammentun und ein Amt aufmachen, dann Gnade Gott! Hermann Wagner hat das einmal schlagend dahin formuliert: »Der Zweck unserer Innung war, mit gleichgestellten Behörden Kompetenzstreitigkeiten auszufechten, uns mit übergeordneten Behörden gut zu stellen und untergeordneten Behörden klar zu machen, daß sie untergeordnete Behörden waren.« Viel mehr tut die Gesellschaft auch wirklich nicht, es sei denn, daß sie sich maßlos wichtig macht.

Ein Mittel dazu ist der Ausweis. Die vielzitierte preußische Disziplin versagt nämlich immer dann, wenn kein Schutzmann da ist, der das Leben reglementiert. In meinem Leben habe ich nicht so zuchtlose Gesellen gesehen, als die alten Zwölfender des Militärs, jene Unteroffiziere, die acht, zehn, zwölf Jahre lang die Segnungen der preußischen Geistigkeit am eigenen Leibe erfahren hatten. Die hätten doch nun innerlich diszipliniert sein sollen! Mahlzeit. Sie waren täppisch wie die jungen Hunde, wenn sie ohne Verbotstafeln und ohne den Ausweis einherstolperten. Ohne Ausweis machte ihnen der ganze Weltkrieg keinen Spaß.

Wir finden den Ausweis in tausenderlei Gestalt wieder. In hundert überflüssigen Ab- und Anmeldescheinen, in einem restlos albernen polizeilichen Meldesystem, das nur in diesem gottsegneten Lande blüht (und das noch keinem Verbrecher geschadet, aber tausend anständigen[369] Menschen eine Last gewesen ist) – wir finden ihn in sinnlosen Meldungen und Rapporten, die niemand liest, und die nur dann wichtig werden, wenn sie nicht gemacht worden sind – wir finden ihn in Listen und Protokollen, die jeder zu führen glaubt – wir finden ihn in den läppischsten Formularen und Erlaubnisscheinen, die ausgestellt, ausgefüllt, unterschrieben, gestempelt und abgegeben werden müssen. Und dabei ersäuft das Land in Unordnung.

Das ist keine parteipolitische Frage, die mit dem Ausweis. Wenn das einmal aus den deutschen Köpfen herausginge: daß jedes kleine Murxamt sich einbildet, der Mittelpunkt der Welt zu sein und sich des weitem einbildet, die Leute hätten alle nichts zu tun, als diese albernen Formalitäten zu erfüllen – wenn das einmal aus den Köpfen herausginge!

Jeder, der dies hier liest, nickt vielleicht mit dem Kopf und lächelt und sagt: Ja. Recht hat er. Aber obs deshalb einen Ausweis weniger geben wird? Jeder hält alle Ausweise für überflüssig – nur den seinen nicht. Und munter schmiert ein ganzes Volk, statt zu arbeiten, weiter Formulare.

Und es soll mich gar nicht wundern, daß eines Tages, wenn Erich Ludendorff in den Himmel kommt (und wo käme er bei der anerkannt guten himmlischen Justiz wohl sonst hin?) – daß dem verdienten General ein dicker Wachtmeister mit ein paar kleinen Flügelchen auf dem Rücken entgegenschaukelt, sich gerade aufrichtet, die Knochen zusammenreißt und alleruntertänigst und gehorsamst meldet: »Ich bitte um einen Ausweis!«


  • · Peter Panter
    Freiheit, 23.06.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 367-370.
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